K.Wyborny

 

VORWORT/NACHWORT ZU EINER ELEMENTAREN SCHNITT-THEORIE (1974)

 

A. ERSTER TEIL: VORWORT

Pierre Menard gewidmet, dem Mann, der den DON QUICHOTE wiederschrieb

Diese Broschüre entstand aus einer Vorlesungsreihe, die ich im Sommer 1974 an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg gehalten habe. Mein Plan war es zunächst, elementare Schnittformen wie den einfachen kontinuierlichen Schnitt, den quasikontinuierlichen Schnitt, den Rückschnitt und den atmosphärischen Schnitt in einem rigiden mathematischen System darzustellen, das ihre einfache und sachliche Anwendung in dokumentarfilmähnlichen Filmformen erleichtern helfen sollte.

Sehr bald allerdings gerieten mir meine Versuche zu Essays über Raum-Zeit-Konstruktionen, die mit Montagetheorien, wie sie üblicherweise an die Darstellung der Möglichkeiten von Filmschnitt gekoppelt sind, nur noch sehr wenig zu tun haben. Begriff ich doch diese Raum-Zeit-Konstruktionen als verantwortlich für gewisse Schnittregeln, welche die, ich nenne sie provisorisch: „Grammatik" des konventionellen narrativen Films konstituieren; und umgekehrt, diese „Grammatik" des konventionellen narrativen Films, die einzige „Filmgrammatik" von einigermaßen stringenter Verbindlichkeit, die wir kennen, konstituiert aus sich heraus nichts anderes als eine Anzahl von Regeln für einigermaßen verbindliche Raum-Zeit-Konstruktionen.

Das legte ein Beschreibungsverfahren nahe, in welchem sich Einstellungen zu Vektoren transformierten, während Schnitte als Operatoren begriffen wurden, die zwei solcher Vektoren zu einem Raum-Zeit-Gefüge verbanden.

Auf diese Weise wurde die Bedeutungsvielfalt der einzelnen isolierten Einstellung eliminiert, deren Folgen semiotische Montagetheoretiker an den Rand der Verzweiflung treiben mußten, versuchten sie doch nicht weniger als eine Filmgrammatik von Verbindlichkeit ausgerechnet dort zu konstruieren, wo es sie überhaupt noch nicht gibt, bei den atmosphärischen Schnitten nämlich, in denen sich die Bilder auch in den existierenden narrativen Filmen noch in ihrer ganzen Vielschichtigkeit entfalten dürfen ohne konventionalisierten Regeln unterworfen zu sein. Es ist sicher kein Zufall, daß sich ein beachtlicher Teil der filmischen Avantgarde mit dem Problem der Kopplung atmosphärischer Schnitte beschäftigt hat, ein sicheres Zeichen für die Abwesenheit einer verbindlich grammatikalischen Theorie auf diesem Gebiet.
Die narrative Grammatik (ich lassen die Anführungszeichen von jetzt an aus Bequemlichkeit weg) hingegen scheint mittlerweile eine derart grobe Stabilität auszustrahlen, daß sich kein kreativer Filmmacher über einen längeren Zeitraum mehr mit ihr einlassen wollte, und umgekehrt, alle Filmschaffenden, deren Filme vornehmlich konventionelle Raum-Zeit-Konstruktionen gemäß der narrativen Grammatik waren, schienen von der Kreativität so weitgehend ausgeschlossen, daß man ihre Resultate im besten Falle als Produkte eines resignierenden Humanismus begreifen mochte, dem die Zeit davongelaufen ist, und selbst dazu war man nur in der Lage, wenn man all seine Gutmütigkeit mobilisierte und obendrein noch beim Sehen manchmal die Augen schloß, um nicht zu bemerken, wie mühelos sich all diese Filme in den Reproduktionsprozeß finanzieller Macht fügten, und wie so selbst die entschlossensten Artikulationsversuche zu Ausstellungsoperetten das Kapitals degenerierten.

Dies muß nicht notwendig an der Struktur der ihnen zugrunde liegenden Grammatik liegen, auch wenn die Produktion dieser Struktur in der Regel einen derart großen Kapitalaufwand erfordert, daß unmöglich erscheint, sich als Autor dem Einfluß dieses Kapitals zu entziehen.

Und gewiß liegt es auch nicht notwendig an der offensichtlichen Etabliertheit dieser Struktur, auch wenn die Etabliertheit eines formalen Systems in der Regel ein manifestes Indiz für die verhängnisvolle Neigung eines solchen ist, sich mit gedanklich ebenso etablierten Vorstellungen zu verbinden, so daß das formale System vollends konservativ wird. Und man beobachtet ja tatsächlich, wie wesentliche neue Erkenntnisse über die Wirklichkeit Hand in Hand gehen mit veränderten Sprachsystemen zur Beschreibung dieser Wirklichkeit.

Nun läßt sich hoffen, daß die Etabliertheit der Film-Grammatik und ihr Hang zum inhaltlich Konservativen und Bekannten im wesentlichen auf den Einfluß das Kapitals zu reduzieren sei. Diese Hoffnung war in der Tat sogar der Anlaß dieser Vorlesungsreihe, bestand doch die Möglichkeit, daß eine präzise Raum-Zeit-Analyse der Schnittformen eine intime Kenntnis der Grammatik vermitteln könnte, mit deren Hilfe die Kosten zu ihrer Erstellung in einem Film derart reduzierbar seien, daß dieser sich nicht notwendig würde in einen Kapitalverwertungsprozeß integrieren lassen müssen. Ästhetische Voraussetzung wäre dabei allerdings eine gewisse Verstümmelung der existierenden Grammatik, die durch die Beschränkung auf disjunkte Schnitte, und einige wenige standardisierte überlappende Schnittformen wie das Schuß-Gegenschuß-Verfahren mit rahmenden Totalen eintreten würde.

Die Raum-Zeit-Analyse der Schnittformen zeigte nun, daß die narrative Filmgrammatik eine ziemlich untaugliche Grundlage zur Beschreibung von Wirklichkeit ist, und zwar liegt das nicht nur an der bekannten Subjektivität der filmischen Äußerung, die prinzipiell Wirklichkeit nicht anders beschreiben kann als durch die Brille eines (möglicherweise kollektiven) Autors, sondern es liegt auch ganz manifest an der Unfähigkeit des menschlichen Gehirns, sich mit gleichzeitig sich ereignenden Phänomenen analytisch auseinanderzusetzen, wenn diese nicht kausal miteinander verbunden sind. Diese Schwäche ist verantwortlich für Raum-Zeit-Konstruktionen, die in sich derartig deformiert sind, daß sie mit Wirklichkeit nur noch den Eindruck gemeinsam haben, und gerade dieser Eindruck von verständlicher Wirklichkeit entsteht in der narrativen Grammatik nur über eine resolute Deformation der abgebildeten Wirklichkeit in Raum und Zeit.

Diese Deformation scheint auf den ersten Blick schwerwiegend aber nicht fatal, könnte man doch vermuten, daß sie im Kopf des Zuschauers wiederaufhebbar sei, Dies ist auch häufig möglich, beim einfachen kontinuierlichen Schnitt etwa, bei dem sich die Bewegungsrichtung eines Darstellers ein wenig ändert. Hier ist die Deformation wahrnehmbar, und kann deshalb leicht korrigiert werden, denn das beobachtete Ereignis gleicht einem kausalen Prozeß, den man von zwei Positionen mit leicht veränderten Perspektiven beobachtet, und die Operation der Gleichzeitigkeitsbildung an der Schnittstelle, daß dort nämlich das zeitliche Ende der ersten Einstellung gleich dem zeitlichen Beginn der neuen ist, ist dem menschlichen Gehirn zwar nicht von Geburt an vertraut, aber 10-jährige Kinder vermögen die Gleichzeitigkeitsoperation bei kausalen Prozessen zu begreifen, und bei horizontal kausal strukturierten zeitlichen Doppelreihen die Gleichzeitigkeit sogar zu rekonstruieren, wie es uns Piagets Versuche gezeigt haben.

Eine ähnliche Korrektur erfolgt auch bei den anderen linearen Schnitten, nur daß hier die Gleichzeitigkeit nicht direkt über das Kausalprinzip konstruiert werden kann, sondern über eine beschleunigte Form der Kausalität, die dazu führt, daß man dem angebotenen Zeitgefüge ein gewisses Zeitintervall aufaddiert bevor man die Gleichzeitigkeitsoperation durchführt.
Dieses Intervall kann der Zuschauer zwar nur mit relativ großer Ungenauigkeit schätzen, aber häufig wird bei den linearen Schnitten eine Standardentfernung überbrückt, die man aus anderen Filmen kennt, oder die Größe des Zeitsprungs wird im Nachherein kontextual klar. Allein hier schon setzt eine Annahme ein, deren Fatalität sich im Postulat von der universellen Präsenz des Zuschauers manifestiert. Über dieses Postulat verlangt der Zuschauer eines herkömmlichen narrativen Films, an allen Ereignissen, die zu einem Handlungsgefüge wesentlich beitragen, beteiligt zu sein, und umgekehrt, von allen Ereignissen, an denen er nicht teilhat, oder schwächer gesagt, von denen er nicht explizit erfährt, vermutet er, daß sie für das Handlungsgefüge nicht wesentlich sind, oder, wiederum schwächer, daß sie sich im Rahmen des Üblichen abspielen, und das Übliche ist das, was er aus anderen Filmen kennt. Dieses Präsenzpostulat ist ein aktives Eliminationsprinzip, mit Hilfe dessen Ereignisfolgen von erheblicher Dauer auf die übliche Kinolänge reduziert werden können. Es ist das gedankliche Rückgrat der narrativen Grammatik, die das Problem der Zeitverkürzung permanent zu lösen hat, und es erklärt das von Bitomsky bemerkte Paradoxon, daß man als Zuschauer das Gefühl hat, im Kino immer den gleichen Film zu sehen, obwohl jede einzelne sichtbare Einstellung von dem Bemühen gezeichnet ist, das Unübliche darzustellen. Daß dieses Verfahren eine Perversion der Kategorie des Üblichen zur Folge hat, versteht sich fast von selbst, denaturiert doch ein großer Teil das in einem Film gesehenen Unüblichen beim Betrachten eines weiteren Films zum ergänzten Üblichen. Läßt man dieses Verfahren über einige Jahrzehnte operieren, dann erscheint es plausibel, daß ein Zustand erreicht wird, an dem sich das Reservoir des Unüblichen derart erschöpft, daß es unmöglich wird, die narrative Grammatik aus ihm mit Substanz zu versorgen, während gleichzeitig das Arsenal des Üblichen sich so sehr vermehrt hat, daß es aus seiner Überfülle den Titel eines Films schon derart zu speisen vermag, daß es sich erübrigt, den Film noch zu sehen. Dieser Zustand beschreibt präzise den Zustand das gegenwärtigen kommerziellen Kinos, und man braucht kein Prophet sein, um vorauszusagen, daß sich dieses kommerzielle Kino mit der narrativen Grammatik nicht mehr wird retten können.
Bei den linearen Schnitten operiert das Präsenzpostulat in den übersprungenen Zeitintervallen. Die Raum-Zeit-Deformation dieser Schnitte sind erheblich, aber über das Prinzip der beschleunigten Kausalität läßt sich ein plausibles Raum-Zeit-Gefüge notdürftig wieder rekonstruieren.

Prinzipiell anders verhält es sich beim nichtlinearen Rückschnitt. Ein solcher Rückschnitt konstruiert eine Gleichzeitigkeit, die keiner Kontrolle durch das Kausalprinzip unterliegt, wird hier doch nicht geschnitten, weil sich ein Ereignis kausal in eine andere Einstellung fortsetzt, sondern weil sich vielmehr in einem anderen Raumabschnitt ein Ereignis, das Aufmerksamkeit verdient, ereignet, und es wird wegen seiner Eigenschaft, gleichzeitig mit einem anderen zu sein, direkt danach abgebildet.

Ganz allgemein gilt, daß die Zeitordnung nicht kausaler Ereignisse zufällig ist. Zwei Ereignisse, die nicht kausal miteinander verbunden sind, können gleichzeitig sein oder zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden, das heißt, im Film bestimmt einzig die Idee der Plazierung der Ereignisse die Zeitordnung, und diese Zeitordnung kann im Kopf nicht korrigiert werden, es sei denn sie wird im folgenden explizit widerrufen.

Diese Setzung einer Zeitordnung wird kritisch, wenn wir eine zeitliche Doppelreihe vorliegen haben, in der die einzelnen Reihen in vertikaler Richtung kausal oder beschleunigt kausal verknüpft sind, ohne daß zwischen den einzelnen Reihen eine horizontale Kausalität existiert.
Zwei solchen Reihen kann, wenn sie einzeln dargestellt werden, ein relativ eindeutiges, in sich konsistentes Raum-Zeit-Gefüge zugeordnet werden. Über die zeitliche Beziehung zwischen den einzelnen Reihen dagegen ist keine präzise Aussage zu machen, es sei denn, in beiden Reihen ist eine fortlaufende Uhr einkopiert. In die narrative Grammatik ist nun ein Verfahren eingebettet, das eine Zeitbeziehung zwischen untereinander nicht kausal verknüpften Reihen erzeugt, ohne daß eine Uhr einkopiert ist, und dies ist die Parallelmontage, die in ihrer einfachsten Form identisch ist mit der fortgesetzten Rückschnittsmontage, bei der zwischen zwei Schauplätzen fortwährend hin und hergeschnitten wird, ohne daß dabei Bewegungsträger ausgetauscht werden,

Die Parallelmontage suggeriert in der Doppelreihe eine Gleichzeitigkeit, die durch nichts abgestützt ist als durch eine gewisse Plausibilität, oder, schärfer gesagt, durch die Abwesenheit von extremen Inplausibilitäten. Die Zeitordnung der Doppelreihe wird dabei aus der Zeitstruktur der einzelnen Reihen übernommen, und zwar jeweils aus der Reihe, in der die Zeitstruktur im jeweiligen Moment die klarere ist. Dadurch wird das Zeitgefüge beider Reihen entscheidend deformiert.
Diese Zeitdeformation ist im Kopf nicht korrigierbar, denn allein ihre Existenz ist ein schwerwiegendes Indiz für die Unfähigkeit des menschlichen Gehirns, solche nicht kausal verknüpften Doppelreihen zu rekonstruieren. Da auch beim Herstellungsprozeß einer solche Doppelreihe in der Regel keine objektive Gleichzeitigkeitsbildung möglich ist, 1äßt sich diese Deformation auch nicht dadurch auffangen, daß man besonders sauber arbeitet, denn auch der Schneidende hat als Orientierungsprinzip nur das Vermeiden von extremen Inplausibilitäten. Dies aber ist ein passives Prinzip, das einen seriellen Produktionsprozeß, und um einen solchen handelt es sich ja bei narrativen Filmen, nicht zu steuern vermag, Daher versucht man um alles in der Welt eine horizontale Kausalität in diesen Doppelreihen zu konstruieren, und da man sich realer Bewegungsträger dazu nicht bedienen kann, versucht man es mit virtuellen Bewegungsträgern, mit Blicken. Ich weiß nicht, wieviele Blicke in Filmen ausgetauscht werden, aber zuweilen habe ich den Eindruck, daß ich in meinem ganzen Leben noch nicht so viele Leute habe einander anblicken gesehen wie in einem einzigen Film. Der Blick ist für den narrativen Film ein derart kultisches Ereignis, daß es auf dieser Welt nichts zu geben scheint, das wert wäre abgebildet zu werden, wenn nicht ausdrücklich vorher ein Darsteller darauf blickt, es sei denn, es handelt sich um eine Katastrophe von schon mehr als mittlerem Ausmaß - bei einem solche Anlaß kann es passieren, daß wir den blickenden Darsteller erst einige Sekunden später zu Gesicht bekommen.

Der Doppelreihenbildung mit konstruierter horizontaler Kausalität durch Blicke ist eine grammatikalische Grundfigur vorbehalten, die sogenannte Schuß-Gegenschuß-Montage, die den narrativen Film soweit beherrscht, daß, man sich nicht gegen das Gefühl wehren kann, daß das grammatische Problem bei der Filmherstellung darin besteht, von einem Schuß-Gegenschuß-System zum nächsten zu gelangen, so daß man diese Filme leicht mit kultischen Beschwörungsritualen der völkerverbindenden Idee des Blicks verwechseln kann. Und trotz der beständigen Bestätigung der horizontalen Kausalität beim Schuß- Gegenschuß-Verfahren scheint der so erzeugten Raum-Zeit-Struktur noch eine derartig große Löchrigkeit innezuwohnen, daß man sich verpflichtet fühlt, immer wieder verbindende Totalen einzufügen, durch die einem immer wieder die Gleichzeitigkeit der Ereignisse und die Zusammengehörigkeit der Orte versichert wird.
Diese Versicherung ist nötig, denn über all diesem regiert als aktives Prinzip das Präsenzpostulat, das dazu führt, daß bei nicht ausdrücklich dynamischen Prozessen die Bewegungsvariablen bis zum Rückschnitt eingefroren erscheinen, das heißt, daß wir Darsteller beim Rückschnitt meist in der gleichen Position wiederfinden, in der wir sie eine Zeitspanne vorher verlassen haben. Ihnen wird das Recht vorenthalten, sich in der Zeit, in der wir sie nicht beobachten, frei zu bewegen. Tun sie das trotzdem, treffen wir sie also beim Rückschnitt in einer veränderten Pose an, so hat der Zuschauer den Verdacht, daß der Schnitt diskontinuierlich sein könnte, daß also inzwischen mehr Zeit vergangen ist, als man vielleicht vermutet hat. Dieses Einfrieren der Bewegungsvariablen führt zu einem Bewegungs-Ereignis Paradoxon, was seinesgleichen in keiner Wirklichkeit hat. Obwohl sich nämlich der Darsteller in der Zeit der Abwesenheit das Zuschauers nicht oder nur sehr wenig bewegt hat, entwickelt sich nach dem Rücksprung plötzlich eine ungeheure Fülle von Ereignissen: Türen werden geöffnet, Gardinen fangen an zu flattern und schöne Frauen beginnen zu weinen, und das alles, weil der Rücksprung über das Präsenzpostulat motiviert sein muß. So kommt es, daß die Wirklichkeit bei fortgesetzten Rücksprüngen pulsartig an den Zuschauer herangetragen wird, und nur dieser eigenartige Wechsel von Ruhe und Bewegung vermittelt ein kompaktes Raum-Zeit-Gefüge.

All diese Beobachtungen scheinen sich zu dem Eindruck zu verdichten, daß das Präsenzpostulat die narrative Grammatik untauglich zur Beschreibung von Raum-Zeit-Wirklichkeit macht, oder vorsichtiger gesagt, die Teile der Grammatik, in denen das Präsenzpostulat nachdrücklich operiert sind zur Beschreibung von Wirklichkeit untauglich.
Nun könnte man freilich vermuten, daß man diese Teile zu eliminieren in der Lage sein müßte. Dabei übersieht man jedoch, daß der Rückschnitt, das manifesteste Operationsfeld des Präsenzprinzips, das Rückgrat der narrativen Grammatik bildet. Er ist es, der diese Grammatik institutionalisierte, und alle anderen Schnittformen wurden nur in sie integriert, um den Rückschnitt möglichst unproblematisch zu machen.

Man hat viel von der Magie des Films geredet oder von der Dämonie der Leinwand, und ich habe den Eindruck, daß dieser mystische Aspekt sich in einem Phänomen konzentriert, das mit jener eigenartigen Neigung des Zuschauers zusammenhängt, seine eigene Person beim Betrachten narrativer Filme weitgehend aufzugeben, um sie auf eine wenig durchsichtige Weise in das angebotene Handlungsgefüge zu integrieren. Man hat versucht, diesen Effekt auf eine Eigenschaft der 'lebenden" Bilder selbst zu reduzieren und behauptet, bei der kontinuierlichen Photographie gäbe es eine zwingenden Tendenz, die Abbildung der Wirklichkeit mit dieser Wirklichkeit selbst zu verwechseln. Und im Gegensatz zur statischen Photographie, die den "War-Zustand" eines Ereignisses beschreibe, billigt man kontinuierlichen Aufnahmen zu, sie würden den "Ist-Zustand" der Wirklichkeit entfalten, auch wenn sie vor langer Zeit schon hergestellt wurden.
Ich möchte das Geistvolle dieser Bemerkung nicht einschränken, aber sie scheint mir doch an einem Zeitpunkt gemacht worden zu sein, als man noch relativ wenig Übung im Umgang mit 'lebenden' Bildern hatte. Wenn ich etwa Wochenschauen aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg sehe, dann habe ich schon eine sehr klare Vorstellung vom "War-Zustand" der abgebildeten Wirklichkeit, und ich muß eigentlich auch sagen, daß es eine ganze Reihe von Filmen gibt, bei denen ich den oben beschriebenen Identitätsverlust keinesfalls verspüre. Dafür bemerke ich ihn häufig bei einer Art von Film, bei dem man doch am wenigsten erwarten sollte, daß sich in ihm Wirklichkeit im "Ist-Zustand' darstellt, bei Kostümfilmen nämlich, die einen offensichtlich in eine vergangene Zeit versetzen, Western, Gangsterfilme, Filme über die französische Revolution und ähnliche als ästhetische Produkte heute eher komödiantische Ereignisse. Was aber unterscheidet eine Folge von Wochenschauaufnahmen aus dem Jahre 1910 von einem Spielfilm über die französische Revolution aus dem Jahre 1950? Der unterschiedliche Effekt ist sicherlich nicht auf das existenziell Unmittelbare von bewegten Bildern an sich zurückzuführen, denn eine solche strahlen die Wochenschauaufnahmen weit eher aus, als die synthetisch hergestellten semantischen Partikel eines Kostümfilms.


B. DREI MONATE SPÄTER IN MÜNCHEN

 

Seit dem Schreiben dieser Sätze sind drei Monate vergangen, die zu den deprimierenderen meines Lebens gehören. Nicht, daß sich in der Zwischenzeit nichts ereignet hätte, was zu angenehmen Erfahrungen hätte beitragen können, aber fast alle Ereignisse, die meine Arbeit als Filmmacher betreffen, belasten mich mit einer immer enervierender wirkenden Indifferenz.

Ich sitze im „Stop-In" in München und kenne kein Schwein, denke daran, daß ich einmal einen Film gemacht habe, vor gerade mal zwei Jahren, „DIE GEBURT DER NATION", und seither eigentlich nichts mehr. Es ist mein erster Abend nach einer Woche Dreharbeiten für Werner Herzog in der Spanischen Sahara, diese ersten Abende wieder in Deutschland sind wirklich so eine Sache.

In meinem miserablen Zustand beginne ich die Leute zu zählen, von denen ich mit einigermaßenem Grund glaube, daß ihnen DIE GEBURT DER NATION mal irgendwas bedeutet hat, und komme so auf 40 oder 50, das Resultat von 2 Jahren Arbeit, nicht gerade effektiv, ich glaube fast, in diesen 2 Jahren habe ich mit mehr Mädchen geschlafen.

Ich gebe mal eine Liste dieser Leuten:

Christoph Hemmerling und Gabi, Hannes Hatje, Uta Reichardt, Manfred Hennig, Daniel Dubbe, Marlis Heppermann, Helmut und Susanne Herbst, Alfred Nemecek, Rita Pohland, Dietrich Kuhlbrodt, Gerd Roscher, Franz-Josef Schuh, Alf Bold, Harun Farocki, Winfried Günther, Elena Kristl, Werner Herzog, Cynthia Beatt, David Larcher, Peter Blagved, ein Mann im NFT, ein Mädchen, das Michael Craig Martin davon erzählte, Gil Eatherley, David Curtis, Tony Rayns, Michael, jemand von der Cinemathek Paris, Jonas Mekas, Ken und Flo Jacobs, Larry Gottheim, Rene Safranski, Heinz Emigholz, die Freundin von Howard Guttenplan, Paul Sharits, Tony Conrad, Bill Brand, jemand von der Walker Art Gallery, jemand von der Pacific Cinemathek, Tony Reif, Dimitri Eidipides, Albie Thoms.

Nun ja, das sind, wenn ich richtig zähle, 45 Personen, für die habe ich anscheinend den Film gemacht. In etwa gleich der Zahl der Vorführungen, die es in Filmmuseen, auf Festivals, in kleinen Kinos, Kunstmuseen etc gegeben hat, ein Wirkungsquerschnitt also von einer Person pro Aufführung. Insgesamt haben den Film allerdings so etwa 201.500 Zuschauer gesehen, davon 200.000 im Fernsehen bei einer geschätzten Sehbeteiligung von 1%.

OK - ich bin also im Stop-In und zähle so vor mich hin,, da setzt sich ein blondes Mädchen mit ihrer Freundin neben mich, nein, nicht ganz neben mich, da ist noch’n Platz dazwischen. Ich rutsche also rüber - im Flugzeug nach München habe ich mit Werner einen Bourbon nach dem anderen gekippt. Sie unterhält sich mit ihrer Freundin. Der übliche Quatsch, Männer und wie man die Männer behandelt. Ich schlucke was von dem Bier, tick sie ein bißchen an und sage He - sie hat ein paar Falten um die Augen und ist sehr lebendig, ganz weiß gekleidet, ich fühle mich von ihr angezogen wie ein altes, ein ausgedörrtes Wrack, herrlich, aber dieses Gequatsche, dieses Gequatsche turnt mich reichlich ab, ich nehm noch'n Schluck und torkele raus, in den kaputten VW, den mir Joschi gegeben hat und finde notdürftig die Wohnung, in der ich schlafen darf, kann nicht einschlafen, zittere an ganzen Körper und bin froh, daß ich wenigstens allein bin, als ich das letzte Mal so einen Anfall hatte war ich bei einer Freundin, grauenhaft, nach einer Stunde schlafe ich endlich ein, wie immer nach einer Rückkehr nach Deutschland.

Ich schlafe lange, Joschi weckt mich um 12, er hat den Koffer mit meinen Filmen, der verloren gegangen war, auf einem Bahnhof wiedergefunden. Werner kommt mit Walter, sie besprechen, wie sie von der Filmförderungsanstalt Kohle für einen neuen Film bekommen können, ich lege mich in mein Zimmer und döse vor mich hin. Werner fährt mich später in die Stadt, das Mädchen aus der Leopoldstraße, das ich kenne, ist gerade in Hamburg, Theuring, mit dem ich was reden könnte, hat keine Zeit, ich geh in einen Bücherladen, will ein Buch kaufen, kriege das kalte Grauen, setze mich also erst mal und trinke einen Kaffee, Gottseidank hat der HSV gegen Eintracht Frankfurt gewonnen. Ich lese das erst mal nach in der Süddeutschen, und wechsele das Café, lese da die Süddeutsche gründlicher. Am Nebentisch sitzen ein paar von den Münchener Filmdeppen, höre was von Produzenten und Produktionssummen und fange an, die Liste aufzuschreiben, an die ich gestern im Stop-In dachte und da erscheint tatsächlich das Mädchen in Weiß von gestern und setzt sich an den Nebentisch, einer von den Fritzen da, im roten Hemd, scheint der Typ zu sein, über den sie mit ihrer Freundin redete. Herrje, ich bin in einer miserablen Verfassung, wie soll ich da eine sophistische Antwort auf die Frage nach der Dämonie der Leinwand finden. Denke an Strascheks Filmkritik-Nummer, die mir gut gefallen hat, und wie er schrieb, wie er mit Bitomsky Erfahrungen beim Bücherschreiben ausgetauscht hat, und wie sie lachen mußten, als sie sich von ihrer Technik erzählten, wie man schwache Argumentationspassagen durch allerhand Fremdworttrara überspielt. Hartmut Bitomsky, dem ich meine GEBURT DER NATION gewidmet habe. Ja, Strascheks Nummer hat mir gut gefallen.

Also: ich glaube, daß der Identitätsverlust des Zuschauers beim Betrachten eines Films erst eintritt, wenn in der Montage Doppelreihen gebildet werden.

Das ist nun so ein Satz, den man langsam und vorsichtig begründen müßte, das hab ich vor drei Monaten versucht, aber diese ganze Begründerei und das ihm zugrunde liegende Verfahren erschien mir schließlich so handgestrickt und zäh, daß ich die Lust an der ganzen Sache verlor.

Ich erwähnte, daß das Schuß-Gegenschuß-Verfahren so etwas wie das Zentrum der narrativen Grammatik darstellt, und man kann sich natürlich fragen, wieso der einfache Dialog zwischen zwei Personen nicht standardmäßig durch die Planeinstellung gelöst wird, sondern durch das ungleich aufwendigere Verfahren der Parallelmontage von zwei Gesichtern, mit anderen Worten also durch eine blickkausal verknüpfte Doppelreihe. Unterstellt man der Filmindustrie und ihren Machern ein Interesse daran, den Identitätsverlust des Zuschauers standardmäßig zu erezeugen ( weil Zuschauer nur Filme sehen wollen, in denen sie ihn erleben), so könnte das standardisierte Aufbrechen der Planeinstellung und ihre Transformation in eine Doppelreihe zumindest schon ein kräftiges Indiz für unseren so kühn aufgestellten Satz sein.

Sicher ist die Doppelreihenbildung nicht Garant des Identitätsverlustes, dazu gehören wohl noch andere Ingredienzien, aber sie ist möglicherweise eine der Voraussetzungen, erklärt man so doch mühelos (ein wenig zu mühelos allerdings) den geringen Kinoerfolg all jener Kinoprodukte, die resolut auf das Schuß-Gegenschuß-Verfahren verzichten, viele der Kunst-Filme der Fünfziger und Sechziger Jahre etwa, die erst dann beim Publikum griffen, als ihre Autoren (Bergman, Visconti, Polanski) auf die standardisierten Verfahren zurückfielen. Nun gut.

Das alles klingt so, als gäbe es keine Chance der narrativen Grammatik zu entrinnen, aber ich glaube, das ist ein falscher Eindruck. Während der ganzen Zeit, in der ich mich mit ihr beschäftigte, hatte ich eigentlich das Gefühl, es handele sich bei ihr um ein abgewirtschaftetes Randkuriosum, so interessant wie das kleine Einmaleins, doch mit einer Reihe von humoristischen Details, so als würden Kinder beim Einmaleins alberne Fehler machen, und ich dachte oft an den Satz von Tony Rayns in seiner Kritik zu „DIE GEBURT DER NATION", der Film würde in seinem zweiten Teil beweisen, daß die Bilder schon laufen konnten, bevor sie durch die von Griffith präformierte Grammaik das Gehen erlernten, oder, um in dem anderen Bild zu bleiben, es gibt jenseits des kleinen Einmaleins noch reichlich mathematische Gebiete, die erheblich interessanter sind, als der universell dämliche Kuhhandel zwischen vier Eseln und zweiundvierzig Schafen.

 

Es ist Abend geworden in diesem Schwabing, ich bin ruhiger jetzt, trotz der vielen Kaffees. Mein Körper zittert zwar ein wenig, aber der Kopf ist ruhig. Ich denke, das ist ein schönes Ende für ein VORWORT / NACHWORT, aber da sitzt noch immer diese Mädchen am Nebentisch - sie streichelt dem Typ mit dem roten Hemd den Rücken. Mir wäre lieber, sie würde den Tisch wechseln. Ja, mir wäre lieber, sie würde sich zu mir setzen und fragen: „Sag wolln wir nicht miteinander schlafen", ich glaube, ich würde wahrhaftig antworten: „Klar."

Klar.


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C. ANHANG ZUR ELEMENTAREN SCHHNITT-THEORIE (1974)

1. EINLEITUNG: DER ÄSTHETISCHE KANON

 

 

Neulich ging ich mit Herbert, der ein leserliches Manuskript meiner Aufzeichnungen angefertigt hat, die "ELEMENTARE SCHNITT-THEORIE" noch einmal durch, und versuchte ein paar Stellen zu klären, mit einem gewissen Widerwillen, die ihm unleserlich oder unverständlich waren. Dabei stießen wir schnell auf die Kategorie des Verbotenen. An ihr wurde mir sehr schnell die Ursache meines Widerwillens klar, handelt es sich bei ihr doch um ein Prinzip, das ich in meiner eigenen Arbeit nur als freiwillige Beschränkung für EINEN bestimmten Film akzeptiere und häufig die Entdeckung eines Verbots dadurch feiere, daß ich seine systematische Übertretung zum Gegenstand einer künstlerischen Aktivität werden lasse.

 

Dieser emanzipative Koexistenzversuch mit der Idee des Verbots will mir im narrativen Kontext, zu dem mich meinen Neigungen immer wieder hinziehen, weniger und weniger gelingen. Die Situation scheint mir der des Musikschaffens beim Auftreten der ersten nicht organisch in in ein harmonisches Gefüge eingebetteten Disharmonien nach Wagner nicht unähnlich. Das Nebeneinander von Harmonien und Disharmonien führte zu einer Interpretation der disharmonischen Elemente im harmonischen Kontext, innerhalb dessen ihnen ein grammatikalischer Wert zugewiesen wurde. Diese Bestätigung des harmonischen Systems läßt sich noch in jene Produkte hineinverfolgen, die konsequent jeden tonalen Ansatz eliminierten, und jedes Auftauchen einer "klassischen" Harmonie mit einem strikten Verbot belegten, und die nun, in Anlehnung an gewisse Phasen tonaler Gesamtkunstwerke, als kompakte "Symbole für die Zerrissenheit des modernen Menschen" etc. interpretiert werden, einer "Zerrissenheit", die sich unwohltuend von der Intaktheit der weiterhin existierenden harmonischen Gefüge von "ländlichen Idyllen" oder Ähnlichem abhoben.

Diese Homologie von abgehalfterter Verbalistik und künstlerischer Produktion wurde erst durch eine Neuformulierung der musikalischen Theorie zerstört, durch das was noch immer als Zwölftonmusik Konzertbesucher in bösartigen Schrecken versetzt. Ein ähnlicher Prozeß artikuliert sich gegenwärtig offensichtlich auf der Ebene des Films mit einer konsequent ähnlichen Haltung der Kinobesucher, so daß es nicht absurd erscheint, die wenigen, die mit den Resultaten der gegenwärtigen Überlegungen etwas anzufangen verstehen, als die wahren Helden der Kultur zu begreifen, und nicht länger mehr jene armen Produzierenden, die meiner intimen Kenntnis nach ohnehin zu hoffnungslosen Fällen geworden sind.

Ich möchte versuchen, die Existenz dieses Prozesses ein wenig abzusichern. Dazu entwickeln wir zunächst mal einen willkürlichen Auszug aus dem Kanon des sogenannten Harmonischen. In ihn gehören u.a.:

die erlesene Einstellung; das gehaltvolle Bild; die gutaussehende Schauspielerin; eine excellente Bildregie; glänzende Schauspielerei; eine schlechtaussehende Schauspielerin, die so gut spielt, daß sie zu einer gutaussehenden wird; unaufdringlicher Schnitt; die Situation klärende Schnitte; eine ausgewogene Erzählweise des Films; Momente prickelnder Unausgeglichenheit im Schnitt; vielfältiger Erfindungsreichtum des Regisseurs; passende Musik, die in die Stimmung des Films versetzt; oder eine Musik, die die Situation erklärt; oder eine Musik, die eine dialektische Beziehung zu den Bildern eingeht; prägnante Einstellungen des Elends; satirische Einstellungen, die die Hilflosigkeit des Reichtums symbolisieren; Einstellungen, in denen Gewalt faszinierend oder distanzierend dargestellt wird; eine dem Inhalt entsprechende Form; natürlich richtige Belichtung, Farbe, Schärfe etc; oder falls das nicht der Fall sein sollte, als Effekt deutlich einsehbar ins Handlungsgefüge integriert;die Darstellung wesentlicher Probleme unserer oder anderer Gesellschaften, etc.

Es fällt nicht schwer, diesen Kanon auf über 100 Punkte zu erweitern, und über jeden dieser Punkte gibt es mittlerweile ein Buch, in dem die Erfahrungen von 70 Jahren Filmgeschichte im Umgang mit diesem Kanon gespeichert sind. Diese Bücher haben in der Regel den Charakter von Rezeptbüchern: wenn du in diese oder jene Situation gerätst, dann wende dies oder das Verfahren an, und du bist in der Lage, es so abzubilden, daß jedermann einen Begriff von der Situation bekommt. Die Sinnhaftigkeit dieser Begriffe hingegen bleibt ununtersucht, und wenn man einmal genauer nachhakt, so entdeckt man hinter dieser Sinnhaftigkeit nichts anderes als das verbale Homologiesystem der Programmmusik: ergreifende Szenen zwischen der "ländlichen Idylle" und der "Zerrissenheit des modernen Menschen".

Die Feuilletons jeder anspruchsvollen Tageszeitung fügen sich derart in dieses rezeptartige Begreifen von Wirklichkeit ein, daß sich aus ihnen mühelos der Kanon der harmonischen Verbindlichkeit konstruieren läßt, durch ein so simples Verfahren etwa, daß man jeden zehnten Satz aus den Filmkritiken herausschreibt. Die Widersprüchlichkeit einzelner Elemente des Kanons gleicht dem Widerspruch von "moderner Zerrissenheit" und "ländlicher Idylle".

Nun trifft eine Polemik gegen das Feuilleton nicht auf taube Ohren. Den Filmkritikern, die diese Rezepte benutzen, ist dieses Dilemma oft bewußt, und sie versuchen sich ihm, so gut es geht, zu entziehen, was aber nur sehr schwer gelingen kann, denn die Tageszeitungen können am Publikumsinteresse und den kollektiven Auffassungsmodellen nicht so ohne weiteres vorbeigehen. Einige der Kritiker leiten daraus ein Verfahren ab, mit Hilfe dessen sie Filme, die sie für fortschrittlich halten, mit allen Prädikaten des harmonischen Kanons versehen, um ihnen eine größtmöglichste Publizität zu ermöglichen. Doch häufig belastet dieser gutgemeinte Dienst die Produkte, denn jeder Film, der dieser Unterstützung wert wäre, spreizt sich mit jedem Bild gegen jeden der Punkte des Kanons, und versucht aus sich heraus ein ästhetisches System zu entwickeln, das den Regeln des Kanons höchstens peripher noch gehorcht.

Die Wirkung einer so angelegten Publizistik ist insofern fatal, als sich ein Publikum in seiner Erwartung durch diese "harmonische Prädikatisierung" bestätigt sieht, und mit dem Film im Rahmen dieses Kanons natürlich nichts anzufangen versteht. Das schlägt dann auf die ganze Richtung zurück, und das doppelt, in dem Sinne nämlich, daß die gutmeinenden Kritiker sehr schnell ihren Job verlieren, wenn sie nicht gefälligst auch kanonikgefälligen Filmen ihre Prädikate zugestehen (Man beobachtet dies sehr deutlich an der hilflosen Beziehung der Kritik zum sogenannten "Guten Unterhaltungsfilm"). Es scheint also so zu sein, daß die Avantgarde eine prinzipiell ablehnende Haltung des offiziellen Feuilletons akzeptieren muß.
Was treibt nun die Filmmacher der Avantgarde dazu, gegen diesen Kanon beinahe prinzipiell zu verstoßen, und den Weg in die publizistische Isolation zu gehen?

Es ist in diesem Zusammenhang viel die Rede von Provokation, Schock, Freude an der Zerstörung und ähnlichen Kriterien (die, wie man leicht sieht, im Kanon verankert sind), und man tut so, als wären diese Impulse ausreichend, eine über Jahre andauernde Aktivität in Gang zu halten. Es gibt in der Tat Filme, die durch diese Kriterien akzeptabel beschrieben werden können, aber die Filmmacher dieser Filme haben ihre Position gründlich überdenken müssen; sie haben sich daraufhin zum Teil in den quasikommerziellen Bereich integrieren lassen, zum Teil haben sie aufgehört, oder aber sie haben ihre Produktion auf andere, festere Füße gestellt. Der Schock ist natürlich immer noch in ihren Filmen enthalten, aber in anderer Art, einfach durch die Existenz der Filme als Teil eines möglichen Systems der Extrakanonik. In Wirklichkeit hat sich der Schock verdoppelt, er wird auch von den Filmmachern und ihren wenigen Zuschauern erlebt, diesmal aber beim Anschauen einer beliebigen kanonischen Produktion. Und dies so weitgehend, daß man die einzelnen Produkte, die man gerade sieht, schon nicht mehr ernst nehmen kann, höchstens das kanonische System.

Dies ist der Punkt, der das Ende der friedlichen Koexistenz von Kanonik und Extrakanonik markiert. Von diesem Punkt an ist es nicht länger mehr so, als ob sich ein Filmmacher bei einem geplanten Film zwischen diesen beiden Systemen entscheiden könne, so als hätte er ein unbeschränktes Reservoir von grammatikalischen Möglichkeiten vor sich, die er alle benutzen könnte, je nach Lust und Belieben und in angepaßter Adäquanz von Form und Inhalt. Dies ist der Punkt, von dem an die Avantgarde einer eigenen Dynamik unterliegt, der Punkt, an dem es absurd wird, von Publikumsgeschmack und Effektivität des Informationstransports zu reden, der Punkt, an dem es nur die Alternative gibt, entweder einigermaßen konsequent weiterzumachen oder aber konsequent zu schweigen.

Da klingt natürlich der Schönbergsche Heroismus von der Kunst durch, die nicht vom Können kommt, sondern vom Müssen, doch auch der hat in diesem Zusammenhang einen eher fremden Klang, wenn wir ihn etwa an meiner eigenen Arbeit messen.


2. DÄMONISCHE LEINWAND

Im Jahre 1968 zum Beispiel hatte ich eine Reihe von Filmen gemacht, durchweg vom narrativen Typus, alle zwischen zehn und zwanzig Minuten lang. Sie sahen sich ganz hübsch an, waren etwas unkonventionell durch gewisse Beschränkungen in der erzählerischen Struktur und hatten das, was man im Kanon eine sehr sensible musikalische Untermalung nennt, und ich war mächtig stolz darauf, daß ich mit 23 so hübsche Filme habe machen können.

Danach ging ich für ein Jahr nach New York, und habe da nichts weiter gedreht. Als ich zurückkam, schaute ich mir die Filme noch mal an und dachte, Prima, weiter so.

Das Unglück wollte es jedoch, daß ich die Reste meiner Filme nie wegschmiß, und an einem Abend, als ich mich für eine neue Produktion wollte inspirieren lassen, legte ich eine Rolle in den Projektor, auf der die Reste von ein paar Filmen ungeordnet versammelt waren. Das Unglück wollte es weiter, daß mein Tonband gerade eine Brucknersymphonie spielte, und daß ein paar Leute dabei waren und zuguckten, was einen immer in ein Stadium erhöhter Konzentration versetzt.

Da lief also dann die Resterolle mit der Musik in einer ordentlichen Kinovorführung, und sie schien mir plötzlich sehr viel interessanter als die kleinen Filme, die ihre Erzeuger waren. Es entstanden Beziehungen zwischen den einzelnen Personen und Bildern, von denen ich mir nichts habe träumen lassen, und ich hatte irgendwie das Gefühl, daß dieses kleine armselige Produkt eine Art epischer Abbildung von westdeutscher Wirklichkeit im Jahre 68 geworden war; eine Abbildung, die der meiner Inszenierungsmodelle weit überlegen war, und das gerade durch die Abwesenheit einer harmonisch vorgeprägten Ordnung. Diese Ordnung stellte ich erst als Zuschauer aus dem Chaos des Angebots her, und dieser Typ Ordnung erschien mir als von höherer Art.

Diese Entdeckung hat mich damals sehr erregt, und sie ist die Grundlage der "DÄMONISCHEN LEINWAND", die von dem dauernden Wechsel von chaotischen und geordneten Blöcken lebt. Eine Schwierigkeit ergab sich allerdings bei der Herstellung der chaotischen Blöcke, die ich nicht anders erzeugen konnte als über das Abfallprinzip, so daß ich in die perverse Arbeitssituation gezwungen wurde, ein harmonisches System zu erzeugen, an das ich nicht mehr glauben konnte, nur um über Abfallprodukte zu verfügen, in denen sich die Macht des Chaos frei entfalten konnte. So wurde es ein Film über die dialektische Beziehung von Chaos und chaoserzeugender Ordnung.

Ich hatte damals allerdings sehr eigenartige Ideen über die ordnende Kraft der Musik, und übersah dabei, daß die im Kopf entstehende Ordnung zum großen Teil die einer harmonisch orientierten Musik war, die ein ebenso willkürliches und verbrauchtes System darstellte wie meine damaligen Inszenierungsmodelle. Deswegen zeige ich den ganzen 350 Minutenfilm nur sehr ungern, sondern nur die ersten 100 Minuten, die in sich abgeschlossen sind, und auch dort habe ich die Brucknermusik herausgenommen, und Anthony Moore hat stattdessen eine Musik gemacht, die frei von einem derartigen Bezugssystem ist.
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3. PERCY MCPHEE

 

Gleichzeitig und nach diesem Film habe ich eine Reihe von Versuchen unternommen, das Autauchen des Chaos in meinen Filmen zu kultivieren, aber nach einiger Zeit wurde mir klar, daß das Chaos der Bilder vom Zuschauer originär nur geordnet werden konnte, wenn ihm ein geordnetes System überlagert wurde. Dieses System suchte ich weiter in der Musik. Als fatal erschien mir sehr bald die Möglichkeit, die Bilder einfach mit einem Musikteppich zu überziehen, und so versuchte ich 1970 in dem Film "PERCY MCPHEE-AGENT DES GRAUENS" ein intimes Verhältnis zwischen der Struktur der Musik und der Schnittstruktur zu entwickeln, die den Ansprüchen vitaler Popmusik genügen würde (wobei ich, wie gesagt, reichlich abenteuerliche Vorstellungen über Musik hatte).

Ich arbeitete drei Monate an dem Musikschnitt für einen 7-Minutenfilm, und entdeckte dabei die Existenz von optischen Kadenzen, von optischer Rhythmik, die gegen die Musik arbeitet, von solcher, die mit der Musik harmonische Felder bildet, aber alles mit dem Resultat, daß eine zufällig angelegte Musik von Bakerloo den gleichen intensiven Effekt hatte, wie mein mühsam erarbeitetes Filigransystem. Und dies wurde wieder der kritische Punkt. Es widersprach einfach einer dubiosen Idee von Wahrhaftigkeit, dieses von mir entwickelte System als Nonplusultra auszuweisen, wenn gleichzeitig ein simples Verfahren die gleiche Effektivität hatte. So entstand dann der Film "PERCY MCPHEE-AGENT DES GRAUENS (6. und 7. Folge)", in dem beide Modelle hintereinander vorgeführt wurden.

(Im Übrigen fühlte sich bei diesem Film die Art der Chaosproduktion auch recht eigenartig an, ich hatte extra einen 100 Minuten-Spielfilm dafür gedreht und geschnitten, um 7 Minuten Abfälle zu bekommen, Material also, das in dem Spielfilm keinen Platz mehr gefunden hat. Diese 7 Minuten unverwertbarer Reste waren das Bildmaterial für "PERCY MCPHEE", den Spielfilm selbst, "THE PARTY OF PEOPLE WHOSE LOVERS HAVE DIED", habe ich nicht zu Ende gemacht, das war offensichtlich kein sehr effektives Filmherstellungsverfahren, da brauchte ich keinen Wirtschaftsberater, um das zu entdecken).

Der Zufall wollte es nun, daß ein Kritiker darüber schrieb, es handele sich um kleine delikate Gebilde von "unvergleichlicher Musikalität", die man gleich Gedichten immer wieder sehen könne, und diese Argumentation überzeugte mich so sehr, daß ich mich danach an mein bisher größtes künstlerisches Fiasko heranmachte, an "ROT WAR DAS ABENTEUER - BLAU WAR DIE REUE".

Es war ein Film, bei dem ich mich meiner Mittel sehr sicher fühlte. Zusammen mit Christoph Hemmerling hatte ich bei "THE PARTY OF PEOPLE..." eine neue Methode entwickelt, nach der wir Bilder für Filme, deren Zusammenhalt erst später entstehen sollte, machten. Es handelte sich um eine Art konzentriertes, aktives und vitales Sammeln von Situationen, in denen sich Darsteller definieren konnten. Ich traute mir zu, jedes so hergestellte Material durch Schnitt und Musik zu einem poetischem Kompressum von gelebter Wirklichkeit werden zu lassen. Wie gesagt, ich fühlte mich meiner musikalischen Mittel sehr sicher, und gerade dadurch entstand auf der Ebene des Musikschnitts eine eigenartige Mischung von der Filigranmethode und der Methode der großen Laxheit aus Percy McPhee. Solche Mischungen von Methoden sind vielleicht typisch für Filme, die in dem Bewußtsein des eigenen Könnens wie nach Rezepten gemacht werden, und dadurch steifte "ROT/BLAU" die Ebene des Kitsches an mehr als einem Punkt, und ohne die letzten 10 Minuten bliebe nach dem Sehen nur Peinlichkeit. Ich war damals allerdings auch in einer furchtbaren Verfassung, hatte ein paar Nervenzusammenbrüche hinter mir und mußte Beruhigungstabletten die Menge nehmen. Die Pillen helfen einem tatsächlich, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie einem gefällt.

Die Ursache des Fiaskos liegt tiefer. Vermutlich geraten auch originäre Erkenntnisse, die man erlangt, für einen selbst sehr schnell in den Bereich des Kanons des Vertrauten und Verbrauchten, dem man nicht so große Sorgfalt zu widmen müssen glaubt, so daß es fast ausgeschlossen scheint, ähnliche Methoden für mehrere Filme zu verwenden.

Ich habe gerade nochmal durchgelesen, was ich bisher geschrieben habe, und es scheint mir, daß ich mich so ein bißchen mit diesem fatalen Heroismus überzogen habe, und ich entdecke immer wieder diese Idee von der existenzunabhängigen Zwangsläufigkeit, die so viele Arbeiten über künstlerische Produktionen ungenießbar macht. Anscheinend ergibt sich hier ein ähnliches Prinzip wie beim narrativen Schnitt. Über das Prinzip der Verkürzung werden fast alle Aspekte der Zufälligkeit in der Zwangsläufigkeit vernachlässigt. Aber ich kann das nicht besser lösen, das Schreiben ist eine Kunstform für sich.

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4. SCHLUSS

Inzwischen ist wieder ein Monat vergangen, in dem ich nicht habe weiterschreiben können, aber ich fühle mich doch deutlich gebremst. An sich wollte ich jetzt einige interessante Bemerkungen über die Arbeit an "DIE GEBURT DER NATION" machen, der von allen meinen Filmen bisher der entschlossenste ist, um dann den Bogen wieder zu den am Anfang gemachten Bemerkungen zu spannen.

Aber das kommt mir inzwischen so vor, als würde ich versuchen, alle Aspekte unserer Kultur in einem einzigen epischen Aufsatz zu fassen, in den sich ausgerechnet meine Arbeiten harmonisch integrieren würde, und das ist irgendwie ein idiotisches Unterfangen. Und das nicht, weil ich von meiner Arbeit nicht genug halte, es hat eher eine Menge mit der Idee der harmonischen Rechtfertigung zu tun, und es gibt keinen Grund, sich rechtfertigen zu müssen. Die Idee einer größeren Wahrhaftigkeit scheint mir notwendig genug, um sich mit ihr zu beschäftigen.

Aber auch das ist so ein Satz, der nicht unbedingt unwidersprochen bleiben muß, denn es gibt eine ganze Menge von Wahrheiten, deren ungefähre Kenntnis allein schon davon abhält, weiter und tiefer in sie einzudringen. Und dann gibt es so verbitternd wenig Gründe, sich überhaupt zu äußern, daß man schon wieder kaum noch nach Gründen fragt.

In manchen Momenten, ich nenne sie "gute Momente", denke ich, daß es möglich sein müßte, die Wirklichkeit neu zu ordnen, ich meine unser Bewußtsein von ihr, und dann würde man eine neue Chance erhalten, sie als weniger widerwärtig zu begreifen.

Im Moment jedenfalls (ich nenne einen solchen Moment einen "schlechten Moment") denke ich das nicht. Ich spüre, während ich dies schreibe, allerdings ein eigentümliches Lächeln an meinen Mund, beinah verborgen ist es und zugleich fest, und dieses Lächeln hat absolut nichts Unangenehmes an sich.

(wird fortgesetzt)

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