Wenn wir uns die Welt der Einfachheit halber als Scheibe vorstellen oder als diffuses Rechteck, kann man auch ruhig einmal behaupten, die Praxis des Filmmachens bestünde darin, aus dieser Scheibe mit Hilfe einer Maschine ein paar mehr oder weniger unregelmäßige Stücke herauszubrechen, sie zusammenzutackern, dann irgendwie vorzuführen und zu behaupten, diese Folge hätte einen Zusammenhang. Das ist natürlich etwas überspitzt formuliert, wir wissen ja, daß die einzelnen Stücke Filmmaterial, auf denen Bilder gespeichert sind, aus sauberen gleichgroßen Rechtecken bestehen, und wir haben noch von keinem Abbildungsprozeß durch eine Kamera gehört, durch den die Welt zerstört worden wäre, und schließlich ist die Welt ja keine Scheibe sondern eine Kugel. Richtig ist allerdings schon, daß sich das Grundproblem des Filmzusammenhangs folgendermaßen stellt: Wie kriege ich es hin, daß an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten aufgenommene Ausschnitte aus dieser Welt in einem zeitlichen Kontinuum stehen und daß ihre Zusammenstellung in irgendeiner Form Sinn macht? Diese Frage klingt einfacher als sie ist, ich möchte mich in dieser Kompliziertheit jetzt aber nicht weiter aufhalten, sondern ganz pragmatisch ein paar der Lösungsmöglichkeiten beschreiben:
Da haben wir als Naheliegendstes die Nachrichtensendung mit einem Anchorman, der uns den Sinn zwischen den Einstellungen vermittelt, und sei es nur, indem er ihre physische Gleichzeitigkeit (als an diesem Tage aufgenommen, und weil wir ihm glauben, glauben wir es) behauptet.
Und dann natürlich die Beschränkung auf einen höchst kompakten Raum, im einfachsten Fall eine Bühne, wo das Geschehen durch eine Art Handlung zusammengehalten wird, deren Parameter zwischen den einzelnen Unterräumen Sinn stiften.
Dazwischen bewegt sich die sogenannte Griffithsche Lösung, die das Repertoire der Schmierenkomödie (Blicke, Schreie, etc) mit der Weisheit des Allesüberblickers verbindet und so die Äußerlichkeit einem Bildzusammenhang überliefert - der eigentliche Beginn des Spielfilms: wir gratulieren zum bald hundertjährigem Bestehen! Worin im Spielfilm nun besteht das, was ich die Weisheit des Allesüberblickers nenne? Man kann sagen, in der enormen Ökonomie im Umgang mit den Bildern, er äußert sich in einem Prinzip, das ich das Postulat von der universellen Präsenz des Zuschauers bezeichnen würde. Dieses beinhaltet im wesentlichen Folgendes: Alles, was an Bildern in einem Film zu sehen ist, trägt wesentlich zur Handlung bei; und umgekehrt: Alles was nicht zu sehen (oder irgendwann zu hören) ist, hat auch keinen Bezug zum Geschehen.
Das Beispiel dazu soll der Anfang von A BEAST AT BAY liefern:
Vorführung von A BEAST AT BAY von D.W. Griffith 1911
Sie sehen, wie die Schmierenkomödie und das Prinzip von der universellen Präsenz des Zuschauers zusammenwirken. Alles, was zu sehen ist, trägt zum Kontinuum bei, und was nicht zu sehen ist, spielt auch keine Rolle. Die Einstellungen hier ganz am Anfang scheinen keinerlei Zusammenhang zu haben, aber man vertraut darauf, daß es bald einen geben wird - eigentlich weiß man schon, daß der Sträfling irgendwann mit der Schauspielerin in einer Einstellung zu sehen sein wird, und dann gnade ihr Gott (oder helfe ihr ihr Liebhaber). In der Wirklichkeit ist es natürlich keineswegs so, daß man die Sachen wahrnehmen kann, die das eigene Schicksal bestimmen - im Gegenteil, wenn man keine Nachrichten sehen würde, hätte man keine Ahnung, was mit einem passiert.
Ich glaube, wir können uns den Rest schenken, wir haben so viele Filme gesehen, daß wir uns die drei vier möglichen Ausgänge der Handlung auch so gut vorstellen können.
Bei der Griffithschen Methode, die Bilder in einen Zusammenhang zu bringen, kann man drei Modaliäten unterscheiden:
erstens - die nichtüberlappende Montage: durch Blicke und Parallelhandlungen werden an sich nicht verkoppelte Räume verbunden.
zweitens - die überlappende Montage: durch Perspektivwechsel und ein Näherherangehen wird das Wesentliche eines Prozesses in einer Art herausgearbeitet, die von der Spannung profitiert, welche die Parallelmontage dem menschlichen Gehirn als Reiz bietet.
drittens - die Bilder werden aus ihrem kontinuierlichen Fluß herausgenommen und mit ihnen wird eine künstliche Bildwelt im Gehirn erzeugt, ein eigenes Kontinuum, das von der Bildhaftigkeit der Bilder ausgeht. Das kann man in diesem Film nicht beobachten, aber in manch anderem seiner Filme ist Griffith dazu durchaus in der Lage.
Die Geburt der Nation beginnt mit der ersten Erzählweise und in etwa zur Zeit der Herstellung von "A Beast at Bay" im Jahre 1911, dann versucht er sich eine Weile an der zweiten, ohne richtig erfolgreich zu sein: das erzeugt eine Krise sowohl in der Gesellschaft, die im Film beschrieben wird, als auch im Erzählen selbst, das dadurch in das dritte Stadium eintreten muß und in das mündet, was ich damals als modernes Erzählen empfunden habe, eine Erzählweise, die Stationen von Befindlichkeit beschreibt, ohne sich die Mühe zu machen, Übergänge zwischen ihnen zu beschreiben. Solche Erzählweise führt freilich zu einem Verstummen der Handlung, das ist ein Teil der Botschaft des Films. Der Grund für solch einfache Darlegen von Zuständen liegt darin, daß ich denke, daß wir die Art, wie Übergänge stattfinden, ohnehin nicht richtig begreifen, da bin ich ganz Elementarteilchenphysiker geblieben: wenn auf diesem Gebiet von einem Ereignis die Rede ist, so wird es in der Regel als Streuvorgang beschrieben. Es wird von einem Anfangszustand ausgegangen, dann gibt es eine Interaktion, die kein Mensch verstehen kann, und dann einen Endzustand. Man vergleicht dann den Anfangszustand mit dem Endzustand und versucht herauszufinden, ob es zwischen ihnen irgendwelche Beziehungen gibt, die einem Muster oder bestimmten Prinzipien folgen, die Vorhersagen ermöglichen. In diesem Sinne ist ein Film ein Streuprozeß zwischen seiner ersten und seiner letzten Einstellung. Dieser hier also zwischen einem Burschen, der hinter einem Busch hervorlugt und einem Mädchen, das sich an einer Quelle die Füße wäscht. Was dazwischen liegt ist ein mehr oder weniger unbegreifbarer, unklarer Streuprozeß zwischen diesen beiden Zuständen menschlicher Befindlichkeit, die miteinander durch das Begehren verbunden sind - das ist im wesentlichen die Story des ersten Filmteils. Es ist eine Geschichte der Formen genauso wie es eine Geschichte von Personen ist.
Doppelbelichtung: 0 + 0 = 0, 1 + 0 = 1, 0 + 1 = 1, 1 + 1 =
1
Bipack: 0 x 0 = 0, 0 x 1 = 0, 1 x 0 = 0, 1 x 1 = 1
Eine derart strukturierte Menge nennt sich boolsche Algebra. Da man auf diese Weise Bilder miteinander addieren und multiplizieren kann, lassen sich damit optische Computer bauen. Etwas Interessantes passiert, wenn man ein Bild A mit sich selbst addiert oder multipliziert.
A + A = 2A ist ein Bild, das eine Blende heller ist.
A x A = A ² ist ein Bild, das mit sich selbst gebipackt wird.
Es ist dunkler als das Original, aber auf nicht lineare Weise
dunkler: die hellen Werte bleiben hell und die dunklen werden
noch dunkler, das heißt, der Kontrast wird stärker.
Wenn man diesen Prozeß häufiger wiederholt, verschwinden
alle Grauwerte.
Denkt man sich Grauwerte pixelweise aus Schwarz und Weiß zusammengesetzt, wären auch komplette Bilder der Boolschen Algebra unterlegen, dann gälte: A x A = A und A + A = A, man kan sich das leicht für jeden einzelnen Bildpunkt überlegen. Die Abweichung davon ist ein Maß für die Nichtlinearität des filmischen Prozesses, ein sogenannter Schmuddeleffekt.
Ich sagte, das Negativ wäre natürlich, das erstaunt vielleicht manche, aber in einem kleine Experiment kann man das schnell zeigen:
Lichtblitz vor Dose gibt ein dreidimensionales Negativ.
Wenn wir ein Bild mit A bezeichnen, eine Matrix von Helligkeitswerten zwischen 0 (Schwarz) und 1 (Weiß) dann ist das Negativ:
N(A)= 1 - A
Generell gilt für pixelweise erzeugte Grauwerte:
N(N(A)+N(B))= A x B
Bew: A=0, B=0, OK beide Seiten 0
A=1, B=0, OK beide Seiten 0
A=0, B=1, OK beide Seiten 0
A=1, B=1, OK beide Seiten 1
und das gibt einem rein praktisch eine Möglichkeit, im Kopierwerk Bipackoperationen zu simulieren.
Das Bipackverfahren wird konventionell für Travelling Mattes benutzt, in der Videotechnik werden ähnliche Effekte unter dem Oberbegriff Blue Screen Technik zusammengefaßt.
Und es gilt selbstverständlich:
A + N(A) = (1 - A) + A = 1 das heißt ein weißes Bild. Wenn wir davon wiederum das Negativ bilden, also N (A + N(A)) = N (1) = 0, gibt es ein schwarzes Bild, bei dem das Helle des einen Bildes, durch das Negativ weggenommen wird.
Bei pixelweise erzeugten Grauwerten entspricht das
A x (1 - A) = A - A ² = 0
Auch wenn A²=A nicht gilt, wenn also ein graduelles Grau entsteht, gilt dies noch ungefähr. Man kann leicht ausrechnen:
1- 1²=0, 0.8-0.64= 0.16, 0.5- 0.25= 0.25, 0.3-0.09= 0.21
das heißt die hellsten Stellen des Resultats haben die Helligkeit 0.25, und wenn man das beim Kopieren etwas unterbelichtet, hat man dasselbe Resultat, wie in einer gepixelten Algebra.
Andererseits verhält sich auch das Negativ zum Positiv nicht linear, so daß auch hier im mittleren Bereich Schmuddeleffekte auftreten. Wir können deshalb in erster Näherung behaupten:
N(A + N(A)) = A x N(A) = 0
Das ist auch direkt aus N(N(A) + N(B)) = A x B abzuleiten:
wenn B=N(A)
dann A x N(A) = N ( N(A) + N (N(A)))= N ( N(A) + A)
Wenn man in der Phototechnik ein Bild mit seinem gleich großen Negativ bipackt, entsteht also Schwarz. Es gibt aber eine Technik, mit der man die Konturen von Objekten herausarbeiten kann, und zwar gelingt das, indem man das Positiv leicht gegen das Negativ verschiebt. Weil sich an einer Kante Positiv und Negativ nicht mehr gegenseitig auslöschen, kann man dort die Kontur sehen.
Im zweiten Teil des Films habe ich mich bemüht diesen und einen ähnlichen Effekt herauszuarbeiten. Entsprechend der obenstehenden Formel habe ich das Positiv und das Negative einer Einstellung nacheinander auf denselben Film kopiert, und da dabei der Bildstand der Kopiermaschinen ein wenig vibriert, sieht man diese Vibration in Form heller Linien, welche die Konturen der Objekte nachzeichnen. Dies führt zu einer Art 3D-Effekt, den man in dem Film beobachten kann.
Im Film wird erst das Positiv vorgeführt, anschließend das Negativ und dann werden Positiv und Negativ aufeinanderkopiert - weil das aber ziemlich dunkel und fast schwarz werden würde und mir an einem allmählichen Dunkelwerden des Films gelegen war, habe ich das Positiv und Negativ verschieden gefiltert. Man nennt das Farbseparierung. Heute läßt sich das an jedem kleinen Computer nachmachen: das Positiv wurde mit einem Grünfilter kopiert, das Negativ mit einem Rotfilter, so daß das Helle Rot wurde (z.B. der Himmel) und das Dunkle Grün (zum Beispiel Bäume). Gleichzeitig ergibt sich diese Dreidimensionalität durch die Vibrationen des Bildstands der Kopiermaschine.
Dann habe ich allmählich die Farben herausgenommen, so daß allmählich der Effekt entsteht, von dem wir gesprochen haben, daß nämlich nur noch die Konturen der Objekte sichtbar sind, dabei wird das Bild natürlich dunkler. Gleichzeitig habe ich einen neuen Effekt erzeugt: ich habe das Positiv und das Negativ zeitlich gegeneinander verschoben, so daß nicht nur die Konturen betont werden, sondern all das, was sich zeitlich zwischen aufeinanderfolgenden Einzelbildern verändert, jede Form von Bewegung nämlich. Je mehr die Filterseparierung von Positiv und Negativ aufgehoben wird, desto mehr werden in dem Film auch Positiv und Negativ zeitlich getrennt, erst ein, dann zwei, dann vier und dann sechs Einzelbilder, so daß die Bewegung und die Schnittstellen (an einer Schnittstelle ist natürlich der größte Bewegungssprung) herausgearbeitet werden. Am Ende des Films fällt die Farbseparation ganz weg und man sieht - abgesehen von Schmuddeleffekten - tatsächlich nur noch Spuren der Bewegung und die Blitze an den Schnittstellen.
Jemandem, der mathematisch vorgebildet ist, fällt sofort auf, um was es sich hier eigentlich handelt: wenn das, was von Bild zu Bild gleichbleibt, wegfällt und nicht mehr sichtbar ist, sondern nur noch das, was sich von Bild zu Bild verändert, dann handelt es sich um eine visuelle Darstellung dessen, was man bei stetigen Funktionen als Differentialquotienten bezeichnet, und an Schnittstellen, die mathematisch ja nicht stetig sind, als Differenzenquotienten. Im mathematischen Sinn wird in diesem Film also allmählich ein visueller Differentialquotient entwickelt.
Nun, was soll das, kann man fragen, aber da möchte ich noch einmal zurückkommen auf das was ich die Natürlichkeit des Negativs genannt habe. Uns allen ist es vertraut, wenn wir in die Sonne blicken und uns positive und negative Nachbilder der Sonne danach minutenlang zu schaffen machen, weil sie sich allem überlagern, was wir anschließend sehen. Auch die Bildung eines Differential- oder Diffenrenzenquotienten ist etwas natürliches, tatsächlich nämlich nehmen wir, wenn wir sehen, vor allem Differenzen wahr. Das Auge - genauer gesagt unsere Wahrnehmung - arbeitet ganz und gar nicht wie eine Kamera, es reagiert mit unglaublicher Geschwindigkeit auf jede Form von Bewegung, reflexartig geradezu nimmt es Veränderungen wahr und lenkt die Aufmerksamkeit des Gehirms sofort auf den Ort dieser Veränderung, man kann gar nicht anders. Tatsächlich findet sogar das Betrachten eines ruhigen Gegenstandes in einer Weise statt, daß man dabei die Augen bewegt und dadurch eine Art künstlicher Bewegung im Gehirn schafft, die offenbar das Objekt erst wahrzunehmen hilft. Man kann ja beobachten, daß das Bild eines Objektes verschwimmt, wenn man beim Betrachten seine Augen nicht bewegt. Und ich möchte nicht wissen, was das wilde Rollen der Augen in der REM-Phase im Schlafen, dann also, wenn wir träumen, zu bedeuten hat - sicherlich aber ist die Vertrautheit, die man gegenüber dem Material beim Betrachten der Bilder dieses zweiten Teils spürt, nicht nur darauf zurückzuführen, daß man sie schon aus dem ersten Teil kennt, möglicherweise wird mit diesem Typ Bild ein Bildreservoir angetastet, das dauernd in uns vorhanden ist, das aber in Wahrnehmung und Erinnerung so unbewußt auftritt, daß wir es gar nicht zu kennen meinen. Und ich denke, wenn man diesen Film sieht, taucht man in die Traumwelt unserer gemeinsamen Erinnerungen ein, und man spürt, auch das denke ich, in diesen Erinnerungsbildern etwas von der Traurigkeit des Vergehens aller Bilder, und mit ihm etwas vom Vergehen all unserer Anstrengungen und aller menschlichen Anstrengungen.
Es ist eigenartig: wenn das Geschehen gegen Ende des Films kürzer wird und sich auf wenige Einstellungen reduziert, gewinnt man tatsächlich den Eindruck, daß die Handlung zu einem Streuprozeß zwischen diesen Zuständen geworden ist, den niemand begreifen kann. Seltsamerweise beschreibt die am häufigsten auftauchende Einstellung, welche zugleich diejenige ist, mit der dieser Film endet, den im metaphorischen Sinne eigentlichen Weg des Helden: es ist der Weg vom Busch zum Wasser. Zufällig ist es die Einstellung, die ich am häufigsten gedreht habe, weil sie mir am kompliziertesten zu sein schien (heute weiß ich, daß ich eine unglückliche Kadrage gewählt habe). Aber ist nicht interessant, daß diese Einstellung bereits genau den Übergang beschreibt, den ich - wie im ersten Teil dieses kurzen Vortrags erwähnt - eigentlich gar nicht direkt darstellen wollte, die innere Botschaft dieses Films, den Streuprozeß zwischen der ersten und letzten Einstellung des ersten Teils, den Streuprozeß zwischen dem Mann hinter dem Busch und dem Mädchen am Wasser? Da sieht man mal wieder: wo ein Bedürfnis ist, ist ein Weg!