K. Wyborny
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(AUS EINEM KÜNSTLERLEBEN)
Sechster Teil
Wissenschaftlicher Exkurs (1974/94/98)
Band 1
INHALT, VORWORT UND ERSTER TEIL: EINFÜHRUNG
(Vorwort nur auf CD-Version)
ERSTER TEIL - EINFÜHRUNG
ZUM SCHNITT IM KONVENTIONELLEN SPIELFILM (1974/93)
(ehemals "Nicht geordnete Notizen zum konventionellen narrativen Film")
Wenn man in einem Zeitrafferprozeß alle Spielfilme der Welt in ein paar Tagen an sich vorüberziehen ließe, um das ihnen allen Gemeinsame zu entdecken, wird einem dreierlei sofort auffallen. Zunächst einmal überrascht, wie erstaunlich gleich die Filme einer jeweiligen filmgeschichtlichen Periode strukturiert sind; dann, in welch umfassenden Maß Bilder dominieren, die Menschen enthalten; und drittens schließlich staunt man bei wiederum diesen darüber, in welchem Umfang Bilder eine Rolle spielen, die vom Blick beherrscht werden.
Unabhängig von solcher Statistik haben wir natürlich alle Vorstellungen von dem, was einen Film eigentlich ausmacht. Teil davon ist das Bild eines Schauspielers, der ein wenig an der Kamera vorbeiblickt. Der Blick an einem vorbei ist nicht auf Film beschränkt, es gibt ihn spätestens seit der Renaissance auch in der Malerei, obwohl dort - vor allem bei Christusbildern - auch der frontale Blick nicht selten ist. Seltsam am Blick des Filmschauspielers ist aber nicht sein an der Kamera Vorbeisehen, es ist die Art wie er gehalten wird. Am Überzogensten erscheint das vielleicht im von Eisenstein inszenierten Blick Iwans des Schrecklichen, der sich einem so stark einprägt: ein in die Leere der Unendlichkeit gerichtetes Starren, das für die Konfrontation einer Führerpersönlichkeit mit dem unendlichen Raum der Geschichte steht. So starr ist der Blick freilich nur in Filmen, deren Menschenverständnis totalitär bestimmt ist. In Iwans Blick läßt sich natürlich der des sich selbst inszenierenden Stalin und ähnlicher Führergestalten erkennen, er wirkt, als würde aus dem Auge etwas geradezu Materielles treten, ein Speer oder eine lange Stange vielleicht - die zu einer Art Reck werden kann, an dem die Untertanen sich orientieren und zu ihren Vergnügen Klimmzüge und Aufschwünge üben, um für ihr Land möglichst viele Goldmedaillen zu erringen.
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Diese Art göttlichen Blicks entstammt dem Theater und begleitet dort häufig den tragischen Monolog. Er erinnert an die Masken, die Schauspieler auf antiken Bühnen trugen, wenn sie ihre vom Chor unterbrochenen Texte zelebrierten. Der Blick eines Filmschauspielers ist dem des Bühnenschauspielers fraglos verwandt - während im Theater die Richtung eines Blickes jedoch in der Tat nur durch längeres Halten erkennbar wird, sollte er beim Film wegen der Möglichkeit der Großaufnahme von Natur aus weniger starr sein dürfen. Daher sind einem Kinofreund Theaterverfilmungen meist nur schwer anzudienen und statisch sich inszenierende Theaterschauspieler entsetzlich als Filmschauspieler.
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Auf der Bühne sind blickender Schauspieler und das von ihm Angeblickte gleichzeitig sichtbar, das ist beim Film oft anders, dort werden sie häufig getrennt: man zeigt den Blickenden und das Gesehene nacheinander, verbunden durch einen Schnitt. Vielleicht erfolgt diese Trennung, um uns, wenn es sich etwa um eine schöne Frau handelt, den Mund wässrig zu machen, indem uns die Illusion gegeben wird, sie selbst ungestört anblicken zu können. Sind blickende Person und Angeblicktes nicht gleichzeitig sichtbar, müssen die räumlichen Verhältnisse zwischen ihnen allerdings anders geklärt werden. Solche Verdeutlichung erzielt der deutlich gehaltene Blick, durch den uns als Zuschauern die Blickrichtung klar gemacht wird. Er ist verantwortlich für eine zweite Art Starrheit. Der Blick des Filmschauspielers ist im Vergleich zum Theaterschauspieler also zugleich starrer und weniger starr.
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Während einen nicht weiter erstaunt, daß Charaktere der Art Stalins den Theaterschmierenblick für sich vereinnahmen, wundert einen doch, da in den uns begegnenden Filmen nur wenige seines Schlages auftauchen, daß wir einen ähnlichen Blick entdecken, wenn im Kino gar nicht ins Leere geblickt wird. Das hat seinen Grund in dieser zweiten Starre, aufgrund derer Menschen in Filmen ganz triviale Gegenstände wie Bäume, Autos, Kühlschränke und vor allem: andere Menschen oft mit ähnlicher Inbrünstigkeit anblicken wie Stalin die Ewigkeit.
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Das Menschenbild im Kino sieht dann leicht so aus, daß Personen mit sich kaum bewegenden Augen Objekte, Landschaften und vor allem andere Personen betrachten, daß sie ihnen lange in die Augen blicken und jedem Blick standhalten - tun sie es nicht, haben sie etwas zu verbergen. Denker starren während ihrer Tätigkeit ins Leere (auf einen vom Regisseur angegebenen fiktiven Punkt im Raum), ohne die Augen zu bewegen - dies soll ihre Denkfähigkeit demonstrieren. Es scheint uns als Zuschauer nicht weiter zu stören, daß ein solches Menschenbild in einer Wirklichkeit eigentlich absurd erscheinen müßte, in welcher Augäpfel in nicht enden wollenden Saccaden hin und herzucken, wenn etwas aufmerksam betrachtet wird; in welcher Personen sich nur gelegentlich in die Augen blicken und nur im Traum daran denken, dem Blick von irgendjemanden standzuhalten, den sie nicht mögen; und in der die Denktätigkeit derartig innig mit unkontrollierten Augenbewegungen verbunden ist, daß vermutet wird, gerade diese Augenbewegungen wischten die zum Denken notwendigen Speicher und Nervenzellen immer wieder von den Informationsresten vergangener Denkanstrengungen frei, um so neues Denken zu ermöglichen.
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Richtig ist, daß Leute, die interviewt werden, bei ihren Antworten die Augen flink bewegen. Wenn jemand, mit dem ich spreche, seine Augen nicht bewegt, kann ich mit Grund vermuten, daß er mir nicht zuhört. Sage ich ein Gedicht auf, kann ich meine Augen solange auf einen Punkt fixiert halten, wie ich den Text sicher erinnere. Muß ich bei der Fortsetzung überlegen, muß ich die Augen bewegen, manchmal ganz unkontrolliert sogar Körperteile. Weil ich persönlich dabei nicht nur meine Augenbewegung nicht kontrollieren kann, bin ich ein entsetzlicher Schauspieler. Bei Schauspielern, die den von ihnen aufgesagten oder gespielten Text auswendig gelernt haben, ist die Augenbewegung keine Notwendigkeit und orientiert sich oft geradezu demonstrativ bewußt an Gegenständen, an Blumen, Aschenbechern, Schreibtischkanten. Peinlich wird dies, wenn Schauspieler bei gelernten Texten den Eindruck erwecken wollen, sie wären gerade dabei, ihn zu entwickeln, die Augenbewegung denkender Person orientiert sich nämlich nicht mehr an irgendwelchen Gegenständlichkeiten. Sie ist defokussiert. Wenn ich denke, kann ich nicht gleichzeitig scharf sehen. Blicke ich tatsächlich einmal starr auf einen Punkt im Raum, verschwindet sogar mein Blickfeld. Um überhaupt sehen und wahrnehmen zu können, braucht man offenbar irgendeine Bewegung. Wird sie nicht durch die Umwelt geliefert, muß ich sie durch Augenbewegung auf der Retina selbst erzeugen. Personen, die ihre Augen im Film flink und wie in der Wirklichkeit bewegen, sind seltsamerweise aber häufig die, die etwas zu verbergen haben, die Kriminellen, die Neurotiker und die Verrückten. Diese Art des narrativen Kinos verwandelt die Denktätigkeit häufig zu einer Eigenschaft halbkrimineller Anomalie.
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Die erste Form der Starrheit ist im Film leicht zu überwinden. Als rein technische, dem Theater entstammende Beschränkung ist sie auch durch Technik korrigierbar. Gute Schauspieler bewegen ihre Augen in Filmen mittlerweile daher oft auch mit wirklichkeitsähnlicher Flinkheit und lassen sie erst starr werden, wenn der Regisseur sie auffordert, einen Blick zu "setzen". Und jemand wie der vor allem neurotische Personen spielende Peter Lorre blickt im Gegensatz zu den erwähnten Verrückten mit dem Phlegma eines wirklichen Zombies. Manche Regisseure können freilich nicht recht zwischen den beiden Formen der Starrheit unterscheiden, und so entsteht bei ihnen oft eine seltsame Mischung von Richtig und Falsch, aus der man sich nur schwer einen glatten Reim machen kann. Daß der Zusammenhalt ihrer Filme dennoch funktioniert, mag daran liegen, daß wir auch in der Wirklichkeit die meisten Blicke schlicht ignorieren.
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Dennoch ist jedem klar, daß sich die Menschen im Film anders bewegen als in der Wirklichkeit, daß sie andere Haltungen zueinander einnehmen. Auf seltsame Weise verdichtet sich das in eine unterbewußt uns allen gemeinsame Vorstellung vom starren Blick, den man interessanterweise als Regieanfänger gedankenlos überdeutlich reproduziert, um noch mehr zu dieser seltsamen Mischung von Richtig und Falsch beizutragen.
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Manche Schauspieler und Regisseure vermögen allerdings sehr gut zwischen diesen beiden Arten von Starre zu unterscheiden, und so ist der Blick in vielen Filmen weniger starr, als es unsere Vorstellung vermuten läßt. Im amerikanischen Kino gibt es seit Mitte der vierziger Jahre auch einen durchaus vernünftigen Umgang mit einer Art Blick, dessen Aufgabe vor allem ist, durch ein leicht verlängertes Halten eine Richtung in den Raum zu stellen, an der sich ein Gegenüber orientieren kann. Obschon anders beschaffen als der Blick zwischen wirklichen Menschen, ist er doch deutlich menschenähnlicher als der bühnenübliche, und so hätte man annehmen können, dieser weichere Umgang würde sich im Lauf der Jahre durchsetzen.
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Das ist aber nur zum Teil nicht passiert. Vielleicht liegt es daran, daß die Starrheit auch noch Ausdruck von etwas Drittem ist, das sich in schwächeren Arbeiten wiederum nur als Karikatur äußert und in gelungeneren Filmen, obwohl vorhanden, leicht übersehen wird. Es hängt mit der Ökonomie der in einem Film verteilten Gesten zusammen, zu denen auch der wahrgenommene Blick gehört. Beim Inszenieren versucht man nämlich fast instinktiv, möglichst viel von dem zu eliminieren, was keinen Bezug zur Handlung hat. Von Schauspielern, die einen Weg gehen, verlangt man als Regisseur gewöhnlich eine gewisse Geradlinigkeit und Entschlossenheit, die in scharfem Gegensatz zu der seltsamen Ambiguität steht, mit der wirkliche Menschen häufig ihre Wege gehen. Solche im Realen stattfindende Ambiguität ist im übrigen ja nicht ganz unbegründet, weil sich Wirklichkeit ja jeden Moment in alle möglichen Richtungen entwickeln kann und man darauf vorbereitet sein muß oder es zumindest sein möchte. Im Film gibt es diese vielen Möglichkeiten dagegen nur als gesetzte Geste: das Drehbuch oder der Regisseur sagen einem schließlich, wo es langgeht. Wird vom Schauspieler ein Zögern verlangt, soll diese Verzögerung Ausdruck einer Idee sein. Es gibt also stets eine Art Funktionalität in dem uns Vorgeführten; diese Funktionalität läßt auch bei intelligenten Inszenierungen des Blicks leicht den Eindruck von Starrheit entstehen. Der Blick des Schauspielers gehorcht in solchen Fällen mehr dem Bedürfnis nach bedeutungsvoller Inszenierung als seiner eigenen Logik. Auch wenn uns das oft nicht direkt auffällt und das Geschehen im Gegenteil vital und lebendig erscheint, ist doch in allen Kinofilmen immer noch etwas von der verbohrten Starrheit der griechischen Tragödie enthalten, in welcher Masken das menschliche Antlitz ersetzten.
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Im Prinzip versucht das narrative Kino, die Interaktion von Personen möglichst als die sichtbare Interaktion starrer Körper zu behandeln, mit, wenn man so will, wohldefiniertem Impuls, wohldefinierter Bewegungsrichtung und wohldefinierter Gestalt. Änderungen von Impuls, Bewegungsrichtung und Gestalt sollten möglichst wohldefinierte Gründe in wohldefinierten Interaktion mit anderen wohldefinierten starren Körpern haben.
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Eine der Hauptaufgaben des narrativen Systems wäre dann die Verbindung von in Wirklichkeit - zumindest beim Drehen - nicht miteinander verbundenen Raumzeit-Segmenten. Wobei Maßstab für die Natürlichkeit einer solchen Verbindung wäre, daß im Kopf des Zuschauers ein Raumzeit-Gefüge entsteht, welches zumindest auf den ersten Blick widerspruchsfrei ist und auch im weiteren nicht zu Widerspruch reizt. Dabei verleiht der Zuschauer den Bausteinen des entstehenden Raumzeit-Gefüges beim Sehen verallgemeinerte geographische und zeitliche Koordinaten, welche sich nicht widersprechen dürfen. Als widersprüchlich wird zum Beispiel der Aufenthalt desselben starren Körpers an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit begriffen.
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Die Raumzeit-Konstruktionen des narrativen Systems verdanken ihre Stabilität im Wesentlichen einem einzigen Operationsprinzip, dem Austausch von Bewegungsträgern zwischen verschiedenen Raumzeit-Segmenten. Die Bewegungsträger sind meist vom Typ des starren Körpers, wobei auf Grund unseres Weltinteresses die starren Körper vom Typ Darsteller dominieren. Häufig werden Raumzeit-Verbindungen auch durch virtuelle Bewegungsträger erzeugt, die wir uns von der schon erwähnten Erfindung des narrativen Kinos ausgesendet vorstellen können, dem starren Blick. Im narrativen Systems bildet der starre Blick eine gut aufeinander abgestimmte Einheit mit dem zum starren Körper degenerierten Träger der Bewegung, dem Darsteller vom starren Typ.
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Basis dieser Konstruktion ist eine unverrückbare Identität zwischen dem Bild und dem, was es abbildet. Das Bild eines Raumes wird vom Zuschauer als identisch mit dem Raum begriffen, der abgebildet wird. Das Bild, das einen Raum repräsentiert, ist dieser Raum. Dabei werden Maßstabsverzerrungen bei der Abbildung ähnlich übersehen wie erhebliche Verzerrungen im Bereich der Farbverteilungen bis hin zur überraschenden Pointe der Identifikation von Schwarzweißfilm mit besonders ausgeprägtem Realismus.
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Andere Abbildungsirritationen wie die ständige Nutzung eines Rotfilters werden weniger leicht akzeptiert. Bräunlich eingefärbtes Schwarzweißmaterial läßt sich wiederum als Dokument aus vergangener Zeit interpretieren, vielleicht weil bräunliche Einfärbungen einmal Teil des chemischen Produktionsprozesses waren - doch wer weiß das schon? Wie entstehen solche Interpretationen? Abbildungsfehler in der Art von extremer Überbelichtung oder Weitwinkelverzerrung scheinen die Einheit von Abbildung und Abgebildeten wiederum derart zu gefährden, daß das narrative System sie bevorzugt im Bereich psychotischer und halbkrimineller Anomalie ansiedelt - indes stark unterbelichtete Bilder ohne Bedenken mit der Zeitkoordinate "Nacht" versehen werden, selbst wenn beim näheren Hinsehen eine Reihe von Indizien dies als reichlich verwegene Interpretation erscheinen läßt. Aber irgendwie sehen wir nicht immer so genau hin.
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Das Zufällige daran legt nah, daß es sich dabei um Konventionen handelt, daß es sich beim narrativen System also im wesentlichen um eine Versammlung alchimistischer Verabredungen und Tricks dreht, auf die wir als Betrachter nach längerer Dressur mit pawlowscher Sicherheit reagieren. Daran mag einiges richtig sein. Derartige Betrachtungsweisen übersehen jedoch, daß Abbildungsfehler im narrativen Systems nur einen Randbereich bilden. Sie haben mit dem Rückgrat des Systems, als welches wir das Verständnis der Raumzeit-Konstruktionen begreifen lernen werden, relativ wenig zu tun. Daher können Annäherungsversuche an Film, welche die Ebene der Abbildungsdeformationen nicht verlassen, auch nicht zu einem Verständnis des narrativen Prinzips vordringen.
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Basis des narrativen Systems ist die Erzeugung einer Identität von Abbildung und Abgebildetem.
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Das systematische Nichtbeachten der Fragwürdigkeit einer solchen Identität führt zu einem eigenartigen Realitätsverständnis im Umfeld narrativer Filme. Als besonders realistisch werden Filme Empfunden, die eindeutige Raumzeit-Konstruktionen ermöglichen, ohne daß man ihnen das Synthetische ihres Herstellungsprozesses auf den ersten Blick anmerkt. Gerade Filme aber, die diese Eindeutigkeit zu erzeugen verstehen, sind in hohem Grade synthetisch, und das müssen sie auch sein. Sie verlangen zum Beispiel zumindest den zeitweise starren Blick.
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Eine Gesellschaft, deren Abbildungsverständnis Abbildungen mit Wirklichkeit verwechseln möchte, obwohl zahlreiche Indizien gegen die Möglichkeit solcher Verwechslung sprechen, ließe sich leicht als in sich schizophren bezeichnen. Wie nämlich soll der Einzelne in ihr Wirklichkeit begreifen, wenn er ihrer systematischen Deformation ebensolche Wirklichkeit zubilligt? Was geschieht, wenn man Wirklichkeit dann nach dem Maßstab der deformierten Wirklichkeit zu bewerten beginnt? Wie soll jemand mit anderen interagieren, wenn sein Wirklichkeitsverständnis von der Wirklichkeit des starren Blicks geprägt ist? Als was und wie deutlich nimmt man in einer solchen Gesellschaft seine Mitmenschen wahr? Als was und wie deutlich nimmt man überhaupt seine Mitmenschen wahr?
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Solche Argumentation, die als Ziel vielleicht die Verbesserung eines gesellschaftlichen Zusammenhangs haben könnte, übersieht indes leicht, daß bislang noch fast jede Gesellschaft einen gemeingefährlichen Kampfverband darstellte - für die Personen jedenfalls, die ihr nicht angehörten. Und es ist sehr die Frage, ob dies durch das narrative System notwendig verschärft wird, vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall: die amerikanische Gesellschaft, in ihr ist das Kino schließlich am stärksten wurzelt, ist immerhin eine der wenigen, die es mit demokratischer Toleranz auch gegenüber erheblichen Minderheiten halbwegs ernst meint. Sollte das narrative System Deformationen im Bewußtsein seiner Rezipienten auslösen, scheinen freie Gesellschaften doch Gegenkräfte zu beherbergen, die solche Schäden ausgleichen können und wollen. Eine Beschreibung des narrativen Systems darf sich daher nicht vorschnell vom Moralisieren, so naheliegend dies ist, leiten lassen, sondern sich weitgehend, das ist freilich leichter gesagt als getan, mit einer möglichst nüchternen Aufnahme von dem begnügen, was es ist.
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Der Wunsch nach Herstellung einer Identität von Abbildung und Abgebildeten schränkt das technisch und künstlerisch Mögliche bei Filmaufnahmen ein. Als wir die üblichen Beschränkungen auf Normalobjektive, richtige Belichtung und plausibles Farbgleichgewicht ansprachen, entdeckten wir allerdings ebenfalls, daß auch Abweichungen davon Platz im narrativen System finden. Bei anderen Abbildungsfehlern indes scheint das wiederum nicht zu funktionieren. Zwar entstehen dann immer noch Bilder, aber sie passen nicht mehr recht in das System. Wohl wollen auch sie etwas erzählen, aber ihnen fehlt eine bestimmte Qualität - sie wirken nicht mehr im eigentlichen Sinne narrativ, sie sind nicht präzise genug für Erzählung. In Ermangelung eines genaueren Begriffs nennen wir diese eingeschränkte Wirkung im Folgenden provisorisch "bloß atmosphärisch". Mehrfachbelichtungen und zusammengesetzte Bilder zum Beispiel wirken zum Beispiel nur narrativ, wenn der Charakter der Zusammensetzung wie in Travelling Mattes und anderen Spezialeffekten verschleiert wird, sind sie dagegen als Mehrfachbelichtungen und zusammengesetzte Bilder erkennbar, wirken sie bloß noch "atmosphärisch". Kurze Überblendungen zwischen aufeinanderfolgenden Einstellungen wiederum deuten einen sanfteren Zeitübergang an, als er durch den üblichen harten Schnitt erreichbar ist und werden Teil der Erzählung. Beinahe trivial erscheint die Forderung nach möglichst großer Bildschärfe, andererseits staunt man bei Dreharbeiten immer wieder, wie häufig sich Kameramann und Regisseur darüber streiten, welche Bereiche eines Bildes nun scharf sein müssen und welche nicht. Instabile Lichtverhältnisse scheinen jedenfalls eine Gefährdung der Identifizierung des Bildraums mit einem wirklichen Raum zu bedeuten, auch darum wird bei einem Spielfilm viel Arbeit auf die Ausleuchtung verwendet. Andererseits aber ist auf diesem Gebiet auch wieder fast alles möglich, wenn es durch das explizite Zeigen variabler oder sich bewegender Lichtquellen begründet wird. Die Forderung nach Gleichheit von Bildzeit und abgebildeter Zeit führte zur Einführung einander gleicher Aufnahme- und Wiedergabe-Geschwindigkeiten. Dabei hat sich der Kinostandard von 24 Bilder pro Sekunde durch die Einführung des Fernsehens auf 25 Bilder pro Sekunde verschoben. Abweichungen dieser Größenordnung werden freilich nur bei Musikdarbietungen und von Zuschauern mit feinem Gehör bemerkt.
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Die wohl entscheidendste Beschränkung aber besteht wohl in der Benutzung der Stativkamera. Die Identifikation von Abbildung und Abgebildetem läßt für außerhalb des Abbildungsraum stehende Personen, welche die Abbildung vornehmen, gewöhnlich keinen Platz. Die Abbildung wird von einer objektiv existierenden Maschinerie produziert, der Kameramann bleibt unsichtbar. Viele Schwenks oder Fahrten werden nur durchgeführt, wenn sie durch im abgebildeten Raum beobachtbare Bewegungen motiviert werden, andere wiederum geben einem den Eindruck, man wäre als Zuschauer der liebe Gott, der sich das Geschehen aus jeder Perspektive anschauen kann, in keinem Fall aber - außer er ist selbst ein Darsteller in dem System - denkt man dabei an einen dies verursachenden realen Kameramann. Versuche mit aktiven Handkameras betonen die Zweifelhaftigkeit der Identifikation von Bild und Abgebildetem und werden, sind sie nicht in ein solideres System eingebaut, nur von gutartigem Publikum als narrativ begriffen. Einstellungen von Handkameras erhalten von uns zwar das Attribut "besonders dokumentarisch", wirken aber bei längerem Einsatz bloß noch atmosphärisch. Nach einiger Zeit wird das Bild nicht mehr mit dem Abgebildeten identifiziert und der Film als Arbeitsprodukt eines Kameramanns mißverstanden. Dabei gibt es einen gewissen, möglicherweise sogar stark erweiterbaren Toleranzspielraum, in dem die Hand des Kameramanns ruhig genug ist, um vom Zuschauer in einem dramatischen Geschehen übersehen zu werden.
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Man kann sich der Identität von Bild und Abgebildetem auch durch den Begriff der repräsentativen Einstellung nähern. Als solche bezeichnen wir eine Einstellung, die so normalisiert wird, daß sie einen klar definierten objektiven Raum repräsentiert und für den Zuschauer auf eine gewisse Weise mit ihm identisch wird. Repräsentative Einstellungen sind also solche, bei denen eine einfache Identifizierung des Abbildes mit dem Abgebildeten unproblematisch erscheint, wobei es Ziel der Normalisierung ist, genau dies zu ermöglichen.
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In diesem Zusammenhang lohnt sich eine Bemerkung über Kamerafahrten, die nicht durch Darstellerbewegungen motiviert sind, in denen einem also der Raum, den man sonst im Film wegen des Schnitts nur häppchenweise zu sehen bekommt, auf einmal in ungeteilter Großartigkeit begegnet. Gelegentlich fühlt man sich gerade bei solch unmotivierten langsamen Kamera- und Kranbewegungen in einer mit Staunen wahrgenommenen Wirklichkeit, deren Erhabenheit ganz in die Nähe einer eigenen Traumvorstellung richtigen filmischen Erzählens kommt. Man bekommt dabei ein derart eindeutiges Gefühl für die Großartigkeit des Gezeigten, daß man sich wundert, warum es überhaupt etwas anderes im Kino gibt. Dieses Gefühl scheint aber nicht lange zu halten, denn Kinofilme greifen nach solchen Fahrten immer schnell auf das Stativ zurück, und das wohl nicht, weil Stative billiger sind als Kräne. Daß diese Fahrten etwas Tieferes bei uns Wahrnehmenden ansprechen, erkennt man an dem Bedürfnis vieler Regieanfänger, immer dann, wenn sie nicht weiter wissen, Schienen legen zu lassen, um auf ihnen in einer Fahrt den Anschluß an die tieferen Inspirationsmöglichkeiten der Filmkunst wiederzugewinnen. Da haben wir es dann mit der Trivialform dessen zu tun, was in der Kritik in einer Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse beim Spielfilm oft das besonders Filmische genannt wird.
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Ich weiß nicht, wieso das an die ewig vorwärtsdrängenden und nach Auflösung irgendwann fast schreienden verminderten Septakkorde des frühen Wagner erinnert, welche ja vielen Musikempfindern als Quintessenz des Musikalischen gelten. Vielleicht ist es das Gefühl für die sich dabei auf geheimnisvoll flüssige Art erschließende scheinbare Unendlichkeit, das da so beseligend und gerade, weil man nicht wirklich zu einem Ziel kommt, fast erlösend wirkt. Das hebt sie deutlich von allem anderen auf der Welt Gesehenen ab, das in der Regel einem qualvoll unruhigen Willen unterworfen ist. Geradezu unwiderstehlich jedenfalls gerät die Filmkunst, wenn sich raumöffnende Kamera- und Kranfahrten mit den sich vorwärtsquälenden Emotionen der Musik von professionellen Wagner-Adepten paaren.
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Das Stativbild hat nichts von dieser vorwärtsdrängenden Unwiderstehlichkeit. Es gibt einem vor allem das Gefühl, die abgebildete Welt ähnele der wirklichen Welt insofern, als sie auch ohne Beobachter existieren könnte, einfach, weil sie nämlich vorhanden ist. Das zumindest theoretisch Menschenunabhängige des Abbildungsprozesses auf so einem Stativ unterstützt dieses einfach Vorhanden sein. Kein Mensch wundert sich, wenn im Kino abgebildet wird, was eigentlich niemand sehen kann: der Raum selbst ist Zeuge. Eigentlich, und es lohnt, sich das einmal gründlich klar zu machen, ist eine Person, die allein ist, prinzipiell unbeobachtbar.
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Und es stimmt: man würde sich schon wundern, wenn die objektive Welt um einen herum plötzlich zu wackeln anfinge, weil der göttliche Kameramann, dem wir unser Wahrnehmen der Welt verdanken, angesichts dessen, was er da anrichtet hat, plötzlich ins Zittern gekommen ist. In Wirklichkeit wackelt die Welt natürlich auf eine Weise, daß sie, wären unsere Vorstellungen von Stabilität richtig, aus den Fugen krachen müßte. Seit der kopernikanischen Wende ignorieren wir das jedoch höflich, als ginge es uns nun nicht mehr an und wäre jetzt eine Angelegenheit der Sonne. Und das ist wohl auch richtig, eigentlich bemerken wir es ja nicht.
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Da andererseits aber inzwischen begreifbar wird, daß die Sonne selbst nur hilflos in einer Galaxis herumzappelt, die ihrerseits so unbeschreibbaren Bewegungen unterworfen ist, daß der Begriff Koordinatensystem selbst nur noch als Witz benutzbar ist, kann man auch ruhig wieder zur Erde als dem Zentrum der Welt zurückkehren. Und in einer Verfolgung dieses Gedankens weiter noch bis weit vor Kopernikus und zurück zum Individuum, das diese Welt wahrnimmt und sie wie der Heilige Augustinus seinen Interpretationen unterwirft. Dort, im Individuum, befindet sich das einzige Koordinatensystem, das wir letztlich wirklich akzeptieren.
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Jedenfalls wackelt die Welt, wenn man mit einem Stativ auf einem Segelboot und Seegang dreht, so stark, daß man nur mit einer diese Bewegung ausbalancierenden Handkamera so etwas wie Stabilität erzeugen kann. Es geht also bei der repräsentativen Einstellung nicht um das Stativ, es geht um den Anschein einer Art objektiver Stabilität. Im Filmstudio wird übrigens oft eine andere Lösung vorgezogen: aus alter Gewohnheit bleibt die Kamera auf dem Stativ, und vor ihr wird das Boot von einer Hand zum Wackeln gebracht.
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Das konventionelle Kino bekommt Problem bei der Aufgabe der Stativkamera, die im übrigen seinen Aufstieg überhaupt erst ermöglichte, denn die ersten Filmkameras konnten ja nur als Stativkameras benutzt werden. Und das nicht nur wegen ihrer Schwere. Es gab am Beginn des Kinos keine Möglichkeit, das Bild zu beobachten, während die Kamera lief. Es mußte daher vor Aufnahmebeginn fest eingestellt werden.
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Hand in Hand mit dem Ruf nach der Stativkamera geht die Forderung nach Horizontalität des abgebildeten Horizonts. Eine Abweichung von dieser Forderung muß schon sehr stark inhaltlich motiviert sein, um nicht als Willkürakt eines höchst realen Kameramanns interpretiert zu werden, und dessen Anwesenheit arbeitet, wie wir inzwischen begriffen haben, tendenziell gegen das Identifikationsprinzip.
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Die Horizontalität des Horizonts erzeugt auch in Räumen, die keinen Horizont haben, eine vertikale Orientierung der Vertikalen. Die Vertikale ist die bestimmende Struktur des narrativen Bildes. Während erdoberflächenparallele Strukturen durch die Wahl des Bildwinkels perspektivisch verzeichnet und häufig zu fluchtenden Diagonalen werden, bleiben die kürzeren Vertikalen relativ stabil. Konfusion entsteht gelegentlich bei direkten Blicken nach oben oder unten, weil dann auch die Vertikalen diagonal im Bild liegen können und nicht mehr von Horizontalen zu unterscheiden sind. Die Dominanz der Vertikalen ist vermutlich auch verantwortlich für die Wahl des Filmformats. In einem eher breiten Format lassen sich die Vertikalen leichter zur Bildung von Unterausschnitten nutzen und ermöglichen so eine abwechslungsreichere Bildgestaltung als Hochformate es könnten.
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Gemessen an der Stringenz der Stativkameranutzung und ihren Konsequenzen wirken andere Bedingungen, die eine Identifizierung des Bildes mit dem Abgebildeten erleichtern, wie zufällig zusammengelesen, oft marginal. Man kann zum Beispiel erwähnen, daß Aufnahmen von extrem kleinen Objekten oder Mikroskopaufnahmen im narrativen Kontext gut vorbereitet werden müssen, oder daß es fast nie Platz für Einstellungen gibt, deren räumliche Verhältnisse so unklar sind, daß sie nur wie abstrakte Bilder gelesen müssen; oder daß nicht nur Schwenks sondern auch Schärfe-Fahrten durch einen Vorgang motiviert sein müssen. Unter speziellen Umständen und mit der nötigen Erläuterung findet sich für fast jedes Bild im narrativen System ein Ort. Dagegen scheint nur eine sehr kleine Untermenge der möglichen Bilder in einem Film ohne solche Erläuterungen ohne weiteres Platz zu finden, die meisten müssen erst einmal "normalisiert" werden, bevor man sie wirklich benutzen kann. Die Strategien, die hinter diesem Prozeß stehen, bezeichnen wir deshalb pauschal als Normalisierung.
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Man muß sich klar machen, daß diese Normalisierung nicht notwendig mit einer getreuen Wiedergabe des Abgebildeten verbunden ist. Spielt ein Geschehen etwa bei minimalster Beleuchtung in einer Höhle, so erwarten wir von einer normalisierten Totale dennoch, daß uns die Räumlichkeit, zumindest als Schemen, so klar vor Augen geführt wird, daß wir uns als Zuschauer in ihm orientieren können. Das gilt auch für das Mienenspiel von Darstellern, von dem wir erwarten, daß es uns auch in extremlichtigen Situationen in seinen Nuancen dargeboten wird, auch wenn die verfügbaren Lichtquellen das nicht hergeben. Dadurch wird die Aufhellung zu einer der wichtigsten Funktionen der Beleuchtung, und ihr Stil zu einem der wichtigsten Charakteristika von mitunter sogar Filmgenren wie der Schwarzen Serie, wo das low-key-Licht eine ganz andere atmosphärische Qualtität hat als die Aufhellungsverfahren der dreißiger Jahre.
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Weichen Bilder zu stark von diesen Normalisierungen ab, wirken sie bloß noch atmosphärisch. Viele dieser Abweichungen haben im narrativen Kontext eine auffällige Tendenz zum Bereich des Irrealen, Psychotischen und Halbkriminellen. Die Halbkriminellen und Psychopathen sind eben die Leute, für welche die Welt nicht mehr in Ordnung ist, und im narrativen Kinos heißt das nichts anderes, als daß das Postulat von der unverrückbaren Identität von Bild und Abgebildeten erschüttert ist.
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Wir begreifen die repräsentative Einstellung als Grundzelle des narrativen Systems. Das narrative System ist aber mehr als eine bloße Aneinanderreihung solcher repräsentativer Einstellungen, es ist stärker strukturiert. Wir wollen dieses über die bloße Aneinanderreihung hinausgehende als die eigentliche narrative Struktur bezeichnen und im Folgenden die Voraussetzungen für ihr Zustandekommen untersuchen.
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Auch nicht narrative Systeme wie der Dokumentarfilm benutzen repräsentative Einstellungen. Wenn ihre Aufeinanderfolge aber nicht narrativ strukturiert wird, wirken sie schnell zusammenhangslos und können nur noch von einem rigiden Kommentar zusammengehalten werden, den sie dann atmosphärisch begleiten. Das gilt zum Beispiel für Nachrichtensendungen mit eingespieltem Bildmaterial. Ist der Kommentar kräftig genug, stört nicht einmal mehr die Handkamera.
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Repräsentative Einstellungen verlangen eine gewisse Mindestlänge, damit man auch erkennen (und vermutlich benennen) kann, was auf dem Bild eigentlich repräsentiert werden soll. Diese Mindestlänge liegt zwischen einer und fünf Sekunden. Kürzere Einstellungen wirken wieder nur atmosphärisch.
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Das Gesichtsfeld eines fiktiven Beobachters eines Geschehens hat entgegen einer oft geäußerten Meinung nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Bildfeld einer repräsentativen Einstellung. Tatsächlich hat nur die Art, wie der Kinozuschauer ein Bild auf der Leinwand betrachtet, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Art, wie er das darin abgebildete Ereignis in der Wirklichkeit betrachten würde (wenn ihn keiner dabei beobachtete).
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Das Auge sieht anders als eine Kamera. Bilder, die von einem Kameraschwenk geliefert werden, sind grundverschieden vom sich in ruckartigen Saccaden ändernden Blickfeld einer Person, die den Kopf dreht, um etwas am Rand ihrer Wahrnehmung sich Befindendes besser sehen zu können. Ab und zu gibt es in narrativen Filmen eine scheinbare Identität von Kamera- und sich veränderndem Beobachterstandpunkt, die als subjektive Kamera bezeichnet wird. Diese Identität ist künstlich und existiert nur als Konvention.
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Im narrativen System benutzte Einstellungen bedürfen keiner Motivation durch einen möglichen Betrachter. Die für mögliche Beobachter unzulänglichsten Kamerastandpunkte schließen den repräsentativen Charakter einer Einstellung nicht aus, im Gegenteil, häufig ermöglichen sie ihn erst.
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Man kann sich dem Eindruck nicht entziehen, daß die fortwährende Anwendung dieser Normalisierungsprinzipien das Bildmaterial narrativer Filme so erschöpft hat, daß es nur schwer noch in der Lage ist, Inhalte originell und zeitgerecht zu tragen. Dies ist ein kritischer Punkt im modernen narrativen Film. Man beobachtet daher in letzter Zeit gehäuft Versuche, nicht repräsentative Bildsysteme in den narrativen Zusammenhang zu integrieren. Bis dahin wurden solche Bilder in nennenswerten Ausmaß nur im Avantgardefilm benutzt und in ihrer plattesten atmosphärischen Form und geradezu als Karikatur in Werbespots und Videoclips. Da solche Integrationsbemühungen des Nichtüblichen das narrative Korsett weiterhin akzeptieren wollen, begegnet man wegen der Kopplung des formal vom Normalen Abweichenden an psychologisch abnormale Personen in den interessanteren neueren Filmen in immer stärkeren Ausmaß einer seltsamen Kategorie von Kinopsychopathen, die mit wirklichen Psychopathen - und das sage ich bedauernd, denn die Abbildung sogenannten psychopathischen Verhaltens ist eine der interessanteren Möglichkeiten des Films - leider wirklich absolut nichts gemein haben.
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Werden Teile einer repräsentativen Einstellung abgedeckt, geht ihr repräsentativer Charakter nicht notwendig verloren. Der Zuschauer rekonstruiert aus dem Vorhandenen einen Großteil der abgedeckten Bestandteile. Jeder narrative Film trainiert dazu, denn jeder Darsteller verdeckt einen Teil des ihn enthaltenden Raums. Bewegt er sich, gibt er den verdeckten Teil wieder preis. In jedem Film machen wir die Erfahrung der Fortsetzung eines Bilden nach Innen.
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Es gibt auch die Fortsetzung einer repräsentativen Einstellung nach außen. Dabei handelt es sich zunächst um eine relativ abgesicherte, die sich aus der Fortsetzung von architektonischen und perspektivischen Linien, von Vegetationsstrukturen und ähnlichem, sowie aus der Beobachtung das Bild verlassender Bewegungsträger ergibt. Außerdem gibt es aber eine spekulative Fortsetzung nach außen, die den Bildausschnitt als Teil eines Ganzen begreift und sich aus dem angebotenen Ausschnitt eine geographische und soziale Umgebung konstruiert. Das Bild einer bäuerlichen Stube evoziert dabei sofort eine bäuerliche Umgebung von beträchtlicher Ausdehnung mit größeren Städten irgendwo am Rand, eine Reihe von sozialen Strukturen, usw.
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Die Existenz dieser reflexartig im Kopf des Betrachters entstehenden spekulativen Fortsetzung nach außen ist die Voraussetzung für die verschiedenen Schnittmodelle, mit denen disjunkte, das heißt vom Bildfeld her nicht überlappende Einstellungen im narrativen Raum verbunden werden. Diese Verbindungen wiederum schärfen ihrerseits das Bewußtsein von der spekulativen Fortsetzung nach außen.
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Ein isolierter Film ist in einer Umgebung, die keine narrativen Filme kennt, unbegreifbar. Unerläßlich für das adäquate Verstehen des narrativen Systems ist eine kontinuierliche Konfrontation mit seinen Produkten. Das narrative Kino ist prinzipiell seriell. Sein System konstituiert sich im Betrachter durch das kontinuierliche Sehen vieler Filmen, die alle den gleichen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Diese Gesetzmäßigkeiten haben meistens eine gewisse Plausibilität, gelegentlich aber handelt es sich bei ihnen auch bloß um zufällig gewählte Konventionen, die erlernt werden müssen. Als das Narrative begreifen wir dieses allen narrativen Filmen Gemeinsame. Narrativ wiederum sind die Filme, die wir in den Kinos sehen können, wobei wir mit Kinos nicht solche meinen, die sich einem wie auch immer gearteten Filmkunstbegriff verschrieben haben, sondern die gewöhnlichen Kinos, die Kinos der, wie Kracauer so schön sagte, kleinen Ladenmädchen. Daß auch in Filmkunstkinos durchweg narrative Filme laufen, macht vielleicht klar, von wie feiner Art die strukturellen Unterschiede zwischen dem Kino der kleinen Ladenmädchen und dem der ein wenig Anspruchsvolleren, zu denen Kracauer wohl doch auch sich selbst zählen mußte, eigentlich sind.
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Während sich die direkte Fortsetzung einer Einstellung nach außen vornehmlich am Bildrand orientiert, ist die spekulative Fortsetzung nach außen das Resultat einer Einschätzung der räumlichen Eigenschaften des Bildes als Ganzen. Daher wird das Verständnis narrativer Filme kaum eingeschränkt, wenn in der Projektion mehr oder minder große Teile des Bildrandes abgeschnitten werden. In der Tat beobachtet man ja, daß das Projektionsrechteck in den Kinos (und natürlich auch im Fernsehen) auf geradezu brutale Art erheblich reduziert wird, ohne das Verständnis der Filme auch nur im Geringsten zu beeinträchtigen. Der spekulative Fortsetzung nach außen orientiert sich im Bildzentrum.
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Bei sich bewegender Kamera wendet sich die Aufmerksamkeit eines Betrachters automatisch der Bildkante zu, an der bis dahin noch nicht Sichtbares ins Bild kommt. Diese Form der Aufmerksamkeit reduziert die zentrumsorientierte spekulative Fortsetzung. Auch deswegen wird eine sich bewegende Kamera bei den üblichen Schnittfiguren nur ungern genutzt, und wenn, fast nur, wenn die Bewegung eines Bewegungsträgers im Zentrum die Bewegung am Rand überspielt.
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Bei zwei disjunkten repräsentativen Einstellungen gibt es von jeder eine spekulative Fortsetzung nach außen. Je nach Überschneidung dieser beiden Fortsetzungen bildet sich der Betrachter ein Urteil über die mögliche Nachbarschaft der beiden Abbildungsräume. Sehen wir sie im Film nacheinander, schiebt sich die Fortsetzung der zweiten im Bewußtsein des Zuschauers über die Fortsetzung der ersten und erzeugt so ein beinahe physisch präsentes Urteil über ihren Zusammenhang. Die Bildung dieses Urteils ist der Beginn des Verständnisses narrativer Filme.
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Wegen der Spekulativität der Fortsetzungen nach außen ist auch dieses Urteil nur spekulativ. Da es im Lauf einer Filmvorführung andererseits aber schnell gefällt werden muß, können wir es als grob hierarchisiert annehmen. Als Hierarchisierungsparameter der Beziehungen zwischen disjunkten Einstellungen bieten sich die Begriffe "umittelbare" und "nur entfernte" Nachbarschaft an. In dieser Terminologie nennen wir zwei Einstellungen möglicherweise unmittelbar benachbart, wenn sich ihre Bildräume unmittelbar aneinander anschließen könnten. Im Gegensatz dazu wahrscheinlich nicht unmittelbar benachbart wären dann zwei Einstellungen, zwischen denen eine solche unmittelbare Nachbarschaft ausgeschlossen erscheint. Das Urteil über möglicherweise unmittelbare Nachbarschaft muß dabei wegen der Unmittelbarkeit des Anschlusses selbstverständlich die direkte Fortsetzung der beiden Einstellungen berücksichtigen.
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Um auch bei wahrscheinlich nicht unmittelbar benachbarten Einstellungen eine Art Ordnung einzuführen, könnte man sie in solche mit möglicher "mittelbarer" und solche mit wahrscheinlich "nur entfernter" Nachbarschaft zerlegen, je nachdem ob man den beiden Bildräumen eine gewisse Nähe zueinander zubilligt oder ob man sie in doch schon erheblicher Entfernung voneinander vermutet. Die Trennungslinie zwischen diesen beiden Kategorien von Nachbarschaft sollte fließend angelegt sein, weil der Begriff der Nähe relativ ist und oft eine Zeitkomponente enthält. Filme, deren Hauptverkehrsmittel ein Auto ist, lassen ein in Kilometern ausgedrücktes Nähekonzept plausibel erscheinen, welches gegenüber einem solchen, bei denen Darsteller ihre Wege zu Fuß zurücklegen müssen, gestreckt erscheint.
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In diesem Sinne bezeichnen wir als möglicherweise mittelbar benachbart solche Einstellungen, die zunächst einmal für nicht unmittelbar benachbart gehalten werden, von denen man indes weiterhin vermutet, daß die Distanz zwischen ihren Bildräumen durch die zur Verfügung stehenden Transportmittel in relativ geringer Zeit überbrückbar sei. Alles dahinter liegende fiele in die Kategorie des Wahrscheinlich-nur-Entfernten.
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Wenn man sich eine Reihe narrativer Filmen ausschließlich auf ihren Schnitt hin ansieht, fällt einem schnell auf, daß die Zahl der an Blicke gekoppelten Schnitte alle anderen rein zahlenmäßig weit übertrifft. Daher bietet sich ein Nähekonzept an, welches als möglicherweise mittelbar benachbart genau das Areal bezeichnet, das von einem Beobachter überblickt werden könnte, wenn Wände und ähnliches seinen Blick nicht behinderten. Wer ein Fernrohr zu Hilfe nimmt, könnte dann den Bereich des Wahrscheinlich-nur-Entfernten berühren, für dessen Erreichen, sollen unsere beiden Definitionen einigermaßen übereinstimmen, eine Zeit von der Größenordnung zehn Minuten anzusetzen wäre.
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Die möglichen Nachbarschaftsbeziehungen zwischen zwei Einstellungen werden bei der Projektion durch eine Reihe von Hinweisen, die man den Bildern zusätzlich entnimmt, in tatsächliche Nachbarschaften überführt. Dabei können sich mögliche unmittelbare Nachbarschaften in tatsächlich unmittelbare, tatsächlich mittelbare oder tatsächlich nur entfernte Nachbarschaften verwandeln. Zwei Zimmer zum Beispiel, die einander unmittelbar benachbart sein könnten, können sich auch als in zwei verschiedenen Städten befindlich herausstellen, also tatsächlich nur entfernt miteinander benachbart sein.
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Mögliche mittelbare Nachbarschaft schließt tatsächlich unmittelbare Nachbarschaft aus, sie kann sich aber in tatsächlich nur entfernte Nachbarschaft verwandeln. Wahrscheinlich nur entfernte Nachbarschaft wiederum schließt tatsächlich unmittelbare oder tatsächlich mittelbare aus: ein Zimmer in Paris und ein Haus in den Schweizer Alpen, die man als solche erkannt hat, können danach nicht mehr tatsächlich unmittelbar oder auch nur mittelbar benachbart sein.
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Wie man repräsentativen Einstellungen einen wirklichen Raum zuschreibt, für den sie stehen, läßt sich ihnen auch eine Zeit zuschreiben, die mit der Filmzeit zwar das Vergehen während der Projektion gemein hat, ansonsten aber durchaus glaubwürdig ein Zeitsegment aus, sagen wir, dem Jahre 1850, repräsentieren kann, obwohl es 1950 hergestellt ist und 1970 betrachtet wird. Das ist etwas sehr eigenartiges, dessen Bedeutung meinem Gefühl nach noch nicht richtig gewürdigt worden ist. Beim Betrachten eines schnittfreien Films entsteht im Betrachter ein Kontinuum aus vergangener, mitunter aber auch als gegenwärtig empfundener Zeit, wobei man zuweilen auch das Vergangene als gegenwärtig begreift. Ein narrativer Film enthält Schnitte, dadurch wird er zu einer Folge von Zeitsprüngen zwischen solchen Segmenten aus vergangener, manchmal auch von gegenwärtig empfundener Zeit, wobei die Vergangene ebenfalls - und das klingt zusammen mit der Idee eines Sprungs ausgesprochen paradox - als gegenwärtig Zeit empfunden wird, und zwar in weitaus stärkerem Ausmaß, als diese bei einer einzelnen Einstellung möglich ist. Das Paradox besteht darin, daß man etwas als gegenwärtig wahrnimmt obwohl man zugleich Zeitsprünge erlebt. Das ist wirklich sehr erstaunlich.
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Diese Zeitsprünge lassen sich den räumlichen Beziehungen zweier Einstellungen entsprechend hierarchisieren. Zwei Einstellungen können also: entweder zeitlich kontinuierlich ineinander übergehen; oder es kann ein relativ geringer Zeitraum zwischen ihnen vergangen sein; oder es kann sich ein erheblicher Zeitsprung zwischen ihnen ereignet haben, wobei die Trennungslinie zwischen den letzteren zwar fließend ist, nach unseren vorherigen Überlegungen mit einer Größenordnung von zehn Minuten aber auch wieder recht präzise angebbar ist.
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Auch auf der zeitlichen Ebene fällt man zunächst ein spekulatives Urteil, von dem man hofft, es werde sich im Lauf der Projektion auf Grund einer Reihe von Hinweisen konkretisieren. Folgt einer Nacht- eine Tagaufnahme, wissen wir, daß eine Reihe von Stunden vergangen sein muß; der neu erscheinende Tag braucht freilich nicht unbedingt der nächste zu sein. Die so plausible erscheinende Logik hinter diesem Beispiel vereinfacht jedoch zu stark. Meistens hat man nämlich als Zuschauer in narrativen Filmen bei einem Schnitt zunächst das Gefühl, es wäre gar keine Zeit vergangen, weil den meisten Filmmachern offenbar ein Hauptanliegen zu sein scheint, genau dieses Gefühl bei möglichst vielen Schnitten zu erzeugen. Erst nach diesem allerersten Eindruck stellen wir dann fest, daß er häufig nicht stimmt. In den meisten Fällen geht es also darum, möglicherweise unmittelbare zeitliche Nachbarschaft in tatsächlich unmittelbare, tatsächlich nur mittelbare oder bloß entfernte zu verwandeln.
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Beim Wahrnehmen der Schnitte eines Filmes, so ließe sich das bislang Gesagte vorläufig zusammenfassen, beginnt man mit den durch den Schnitt verbundenen Einstellungen, gelangt über ihre Fortsetzungen zu einem Urteil über mögliche räumliche und zeitliche Nachbarschaft und verwandelt diese wiederum durch eine Reihe weiterer Hinweise in tatsächliche Nachbarschaften. Einen narrativen Film verstehen heißt zunächst einmal die Raumzeit-Beziehungen zwischen den einzelnen Einstellungen verstehen. Bei manchen Filmen kann dies das einzige sein, worüber sich zwei verschiedene Zuschauer zuverlässig verständigen können.
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Eine Beschreibung des narrativen Systems ist daher weitgehend identisch mit einer Beschreibung seiner Raumzeit-Konstruktionen. Die jedenfalls sind es, die von jedem Zuschauer als verbindlich begriffen werden, das meiste andere ist mehr oder weniger - und das entspricht dem Medium nun wirklich - Ansichtssache. Untersuchungen dieses Anderen sind nur im konkreten Detail und auf empirischer Basis nichtspekulativ. Wäre Film eine Sprache, müßte man im Bereich der Raumzeit-Konstruktionen nach einer Grammatik suchen, denn dieses Andere, geheimnisvoll jenseits bloß geometrischer Vorstellungen Liegende hat auf keinen Fall die wesentliche Eigenschaft einer Grammatik, die nämlich, von sehr vielen Leuten gleich begriffen zu werden. Das betrifft auch die psychoanalytischen Resonanzen, die mir in dieser Richtung noch am meisten herzugeben scheinen. Aber dann ist, wie wir in der Vorbemerkung schon erfahren haben, Film ja gar keine Sprache. Das einzige, was im Film spricht, sind die Darsteller.
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Ziel dieser Arbeit ist es nicht, dieses System als etwas Unflexibles, nicht mehr Veränderbares zu begreifen. Und ich halte es auch nicht - selbst wenn manche Stellen in diesem Text vielleicht so klingen - für eine eher minderwertige Art, Bilder zu organisieren. Ich glaube vielmehr, daß es sich um das Resultat einer bewundernswerten, intuitiven Anstrengung der Menschen handelt, die es schaffte, aus etwas, was eigentlich unbegreifbar ist, etwas zu machen, was man irgendwie verstehen kann. Und das nicht auf Grund irgendeines logischen Plans, den sich einer in etwa längs der in diesem Text entwickelten Linien zurechtgelegt hat, sondern es handelte sich um eine merkwürdige Kollektivanstrengung, die Erstaunliches und zudem noch erstaunlich Logisches produzierte. Dieser Text soll vor allem Bewunderung für diese Leistung ausdrücken.
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Andererseits aber, das wiegt nicht weniger schwer, scheint es sich um ein System zu handeln, das derart kritische Bereiche enthält, daß es sich selbst geradezu zielstrebig zerstört. Darin ähnelt es manchen lebendigen Systemen. Je mehr Filme pro Zeiteinheit mit ihm hergestellt werden, desto mehr lebt es zwar, desto schneller scheint es aber auch zu sterben. Oder vorsichtiger gesagt - und das Banale daran unterscheidet es vom wirklich Lebendigen - desto mehr funktioniert es nicht mehr. Oder noch vorsichtiger: desto langweiliger werden die Filme. Und die Erzeugung von Langeweile, auch die vehementesten Anhänger konventionellsten Erzählens werden das kaum bestreiten wollen, ist nun einmal nicht das Ziel der narrativen Anstrengung - im Gegenteil. Will man die Filmform nicht solch langweiligem Verkümmern überlassen, sollte man sie meiner Ansicht nach anderen Ordnungssystemen öffnen, die das narrative System weiterhin, vielleicht als Unterbereich, zu integrieren verstehen.
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Das klingt freilich zu überzeugend, um wahr werden zu können. Wer schließlich ist schon "der Film"? Und wird "das Publikum" da mitmachen? Ich weiß es nicht, glaube es merkwürdigerweise auch nicht. Das vor allem raumgestützte Erzählen mit halbwegs intakten Psychologien scheint es aber immer weniger zu tun. Obwohl die Welt sich so schnell ändert, versteht sie anscheinend nicht, das mit jedem Film leerer werdende Reservoir des noch Erzählbaren schnell genug wieder zu füllen. Früher - und gestatten Sie mir trotz des theoretischen Anspruchs dieses Textes hier einen persönlichen Einschub - ging ich oft dreimal am Tag ins Kino, heute muß ich mich zwingen, es wenigstens ein paar mal im Monat zu schaffen. Oder sagt so etwas überhaupt nichts? Sind solch pauschale Einschätzungen der Zukunft nur Wunschvorstellungen, die sich ein dem eigenen Tod entsprechendes Schicksal für alles andere wünschen? Auch heute gehen bestimmt noch genug Jugendliche dreimal am Tag ins Kino. Fühlte ich mich damals schlechter? Ach --- Nein! Also - was solls! Irgendwie werden die Menschen in dieser sich ändernden Welt ja auch klüger. Die kleinen Ladenmädchen Kracauers, deren Existenz einem früher noch selbstverständlich war, gibt es womöglich gar nicht mehr - vielleicht hat es sie nie gegeben. Natürlich spreche ich so im eigenen Interesse, auch wenn es mir immer schwerer fällt, die eigenen Interessen überhaupt zu fassen, doch schon im Sprechen selbst scheint bereits ein Interesse zu liegen. "Die Zukunft ist Propaganda," hat jemand über die vielen in diesem Jahrhundert so vehement und rücksichtslos vorgetragenen Prophezeiungen über die Zukunft der Menschheit geurteilt, und die Vorhersagen über sie wären so häufig, banal und billig wie Gras.
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Bei den wenigen Filmen, in die ich noch gehe, weiß ich im vornherein - gestatten Sie mir ein letztes Mal die dogmatisch klingende Heftigkeit eines nur subjektiv gemeinten Verdikts - daß ich mich in ihnen mit katastrophalen Deformationen auseinandersetzen muß. Und zwar sowohl bei den Personen, die mir im Film vorgestellt werden, als auch bei denen, die ihn hergestellt haben, den in der Filmindustrie einigermaßen erfolgreichen Filmmachern, deren Menschenbild - es ist mir inzwischen im vornherein und leider ohne jeden Zweifel klar - meist so entscheidende Defekte hat, daß sie über Menschen eigentlich kaum etwas aussagen können, jedenfalls nichts, was mich noch interessiert. Und nicht, weil es niemanden gibt, der zu mehr in der Lage wäre, aber irgendwie bringen diejenigen, die dazu fähig wären, mittlerweile keine Filme mehr zustande oder versuchen es gar nicht erst.
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Aber was heißt das schon - vielleicht gibt es ja doch noch "das Publikum", das vielleicht ewige Publikum, das sich das ewig Gleiche in immer neuen Kleidern wünscht. Das traurige Schicksal der Kinos jedenfalls schien mir indes trotzdem immer gewiß. Zum einen würden sie die Funktion von Museen übernehmen und im übrigen auf den Jahrmarkt zurückkehren, von dem sie gekommen ist. Ich fand das eigentlich nicht einmal traurig, waren doch die meisten der vielen Kinos in denen ich gewesen bin, doch eher schäbig und deprimierend als schön. Und inzwischen wird so vieles am Film subventioniert, das erzeugt die seltsamsten Überraschungen: Länder wie Portugal, Canada und Iran scheinen jetzt die interessantesten Filme herzustellen - wer hätte das je gedacht? Es ist Zufall, daß man im Fernsehen einen Schuldigen für den Verfall des Kinos gefunden hat, er wäre auch ohne das Fernsehen geschehen. Doch ausgerechnet die Repertoirekinos haben als erstes dran glauben müssen - ein Doppelprogramm von "African Queen" und "Wind Across the Everglades", das mich als jungen Mann einmal im Bleeker Street Cinema beeindruckte, wird es im Kino nie wieder geben. So etwas kommt jetzt im Fernsehen. Aber auch da hat man die guten Filme schon alle ein paarmal gesehen - so gut, daß man sie zehnmal sehen kann, sind sie nun auch wieder nicht. Immerhin geht dabei nichts verloren - wenn Filme früher besser gewesen sein sollten, wird man es wieder entdecken. Freilich wiederholt sich der Verfall des Kinos auch im Fernsehen. Es ist schwer geworden, sich einen Film im Fernsehen zu Ende anzusehen, die Fernbedienung kam da gerade recht.
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Am 20. Mai 1909 fand die Premiere von "RESURRECTION" statt, eines Stummfilms von D.W. Griffith mit Florence Lawrence und Arthur Johnson in den Hauptrollen, der Tolstois Roman "AUFERSTEHUNG" zu folgen versucht. Er ist etwa zehn Minuten lang und liegt uns heute in folgender Struktur vor:
T1 : T2 : x1 : T3 : x1 : T4 : x2 : T5 : x2 : T6 : x3 : T7 : x4 : T8 : x4 : T9 : x4 : T10 : x5 : T11 : x5 : T12 : x5 : T13 : T14 : x5 : T15 : x6 : x7 : T16 : x7 : T17 : x7 : T18
wobei x1, x2, x3 usw. die Bildräume verschiedener repräsentativer Einstellungen bezeichnen und
T1, T2 , T3 usw. verschiedene Titel. Das Symbol ":" steht für einen Schnitt. Die Titel lesen sich wie folgt:
T1 : RESURRECTION
T2 : HERE THE TITLED LADY PREPARES TO RECEIVE PRINCE DIMITRI AT A GALA HOME COMING RECEPTION
T3 : A NEW FLOWER GIRL, KATUSCHA, IS SERVING AT COURT: YOUNG, ARTLESS AND INNOCENT; SHE UNWITTINGLY FASCINATES THE PRINCE
T4 : TO KATUSCHA, THE TOSSED-OFF BLOSSOM REPRESENTS THE FUTILITY OF DIMITRI'S ADMIRATION
T5 : HE RETURNS, BUT SHE PLEADS THAT SHE IS NOT OF HIS STATION
T6 : FIVE YEARS LATER - IN A LOW TAVERN
T7 : LOVED AND LEFT, HUMILIATED BY THE DISGRACE, SHE HAS SOLD HER SOUL AND IS PICKED UP BY THE AUTHORITIES
T8 : DIMITRI REALIZES THAT HER PLIGHT IS HIS FAULT: AT THE TRIAL HE PROTESTS, WEAKLY. THE PROCEEDINGS ARE A PARODY
T9 : SHE DOES NOT RECOGNIZE HIM AND HE IS TOO SHAMED TO SHOW HIMSELF
T10 : IN JAIL, HE COMES TO HER
T11 : "I AM TO BLAME AND WILL SEE THAT YOU ARE PARDONED"
T12 : AS HER FURY AND HYSTERIA ABATE, GRADUALLY THE MESSAGE OF GOD REACHES HER
T13 : (Katuschas Finger folgt der Schrift in einer Bibel:) JESUS SAID TO HER: I AM THE RESURRECTION AND THE LIFE: HE THAT BELIEVETH IN ME, THOUGH WE WERE DEATH, YET SHALL BE LIVE
T14 : BUT NOW, THE POLICE ARE READY TO TAKE HER TO A LIFE OF HARD LABOR IN SIBERIA
T15 : KATUSCHA TRIES TO HELP THE POOR UNFORTUNATES WHO SHARE HER FATE
T16 : DIMITRI HAS FOLLOWED HER. HE HAS A PARDON FROM THE AUTHORITIES
T17 : SHE REFUSES TO RETURN, PREFERRING TO WORK OUT HER SALVATION BY RENOUNCING THE WORLD FOR THE PATH OF DUTY
T18 : THE END
Die Schauplätze sind:
|
|
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(2 mal ) |
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( 1 mal) |
x4 : eine Polizeiwache, die gleichzeitig Gerichtssaal ist (erscheint 3 mal)
x5 : das Gefängnis (4 mal)
x6 : eine Schneelandschaft mit Häuschen ( = "SIBERIA") (1 mal)
x7 : eine andere Schneelandschaft mit Kreuz und Kirche (1 mal)
Interessant ist die Erzählform von "RESURRECTION". Bis auf den Übergang x6 : x7 sind alle Einstellungen durch Titel voneinander getrennt. Oder, anders herum gesagt: die Standardverbindung zwischen zwei Einstellungen xi und xj hat die Form xi : Tij : xj wobei Tij den Titel bezeichnet, der zwischen xi und xj steht.
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Die Einstellungen sind alle in der Totalen gedreht, der repräsentativen Einstellung par excellence. Eine Totale "ist" tatsächlich der Raum, den sie abbildet, während bei Nahaufnahmen das Gesicht so dominiert, daß der Raum gelegentlich nur in der Unschärfe wahrgenommen wird, dort aber ist er auf geheimnisvolle Weise immer noch sehr präsent. Es ist bekannt, daß die Totale bis 1910 die fast ausschließlich benutzte Abbildungsform in narrativen Systemen war. Erst entwickeltere Filmformen haben anderen Einstellungsformen wie der Nahaufnahme einen Platz zuweisen können. Die Anekdote vom Produzenten, der es einem Regisseur verbot, die Großaufnahme eines Stars zu machen, weil er für die ganze Person bezahlt hätte, ist vielleicht wahr, enthält aber dennoch ebensowenig Wahrheit wie die inzwischen ich weiß nicht wie vielen Regisseuren in den Mund gelegte Frage nach der Botschaft ihrer Filme, der sogenannten message: "Wenn ich eine message aufgeben möchte, gehe ich zum Telegraphenamt." Diese Personen sind nie etwas von dem sie Drängenden am Telegraphenamt losgeworden.
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Auffällig an "RESURRECTION" ist, daß fast alle Titel das Geschehen der folgenden Einstellung beschreiben und nicht das der gerade vergangenen. Man scheint sich der Fähigkeiten des Mediums damals derart unsicher zu sein, daß man es für nötig hielt, die Information schon im vornherein anzukündigen und sie zu verdoppeln. Das läßt die Bilder leicht zu einer Art Illustration einer Textvorlage werden. Die Handlung wird dabei durch eine literarische Inhaltsangabe geführt und entwickelt sich nicht aus den räumlichen Beziehungen der Filmbilder. Dadurch arbeitet die Bildfolge als atmosphärischer auf einem literarischen Code. Das hat sich inzwischen erheblich geändert, dennoch hat der literarische Code, speziell seit der Einführung des Tonfilms, der ihm zu neuer Geltung verhalf, seine Führungsrolle nie wirklich verloren: in allen narrativen Filme haben die Bilder auch die Qualität einer beiläufigen Dialogillustration.
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Die Heldin Katuscha erscheint in allen Einstellungen. Der Film ist ihr Film. Die entstehenden räumlichen Verbindungen orientieren sich an ihrem Erscheinen. Sie werden durch Titel wie "IN A LOW TAVERN" und "TO A LIFE OF HARD LABOR IN SIBERIA" gestützt. Das Erzählmodell von "RESURRECTION" beobachtet eine einzige Person zu verschiedenen Zeitpunkten. Der sich aus den Titeln ergebende parallele Handlungsstrang mit Dimitri wird nur sichtbar, wenn er Katuschas Lebenslinie berührt. Dieses Erzählmodell ist die wesentliche makroskopische Erzähleinheit des narrativen Films geblieben. Narrative Filme verfolgen das Schicksal von ein, zwei, manchmal ein paar mehr Personen an sogenannten wesentlichen Zeitpunkten. Diese Hauptpersonen eines Films halten die Filme zusammen. Werden zu viele Schicksale zu ausführlich beschrieben, verlieren die narrativen Filme irgendeine Qualität, die sie sonst in die Kinos kommen läßt. Daß es Haupt- und Nebendarsteller gibt, scheint ein der Form zugrunde liegendes Prinzip zu sein. Möglicherweise sind die Räume von Filmen ohne Hauptdarsteller so kompliziert konstruiert, daß ein Betrachter sie nicht mehr eindeutig genug begreifen oder erinnern kann. Und wenn man die Raumzeit-Konstruktionen eines narrativen Films nicht mehr versteht, versteht man auch den Film nicht.
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Das Heldenprinzip bedeutet eine stärkere Einschränkung der Filmform als man zunächst denkt. Denn es scheint nicht zu reichen, etwas zu sehen, interessant zu finden und zeigen zu wollen: man muß einen Helden dazu erfinden, und das ist etwas sehr Schwieriges. Ein Held muß etwas Originelles an sich haben, das ist nicht so einfach zu finden. Durch das Heldenprinzip wurden interessante Bildbereiche von der narrativen Form ausgeschlossen oder - wie in manchen Tierfilmen - mit grotesken Pseudohelden versehen, die das Material dem Zuschauer nahebringen sollen. Im Fernsehen ist der Anchorman einer Magazinsendung dieser Held, der alles zusammenhält, und jeder Programmverantwortliche weiß, wie schwierig es ist, einen einigermaßen originellen Anchorman aufzubauen, der die Sendungen, die er moderiert, auch vertreten kann.
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Der Vorrang des Heldenprinzips klingt banal, weil es aus dem Roman bekannt ist. Bei ihm haben wir es jedoch mit ganz anderen Produktionsbedingungen zu tun. Die Hervorbringung eines wirklichen Helden kosteten Musil, Proust und Joyce ein Leben. Letztlich muß dazu ein neues Menschenbild entworfen werden, das übersteigt die Fähigkeiten der meisten am Kino Beteiligten. Daher haben Filmhelden häufig etwas Minderwertiges, sie sind Helden von der Stange. Und das macht die Dominanz des Heldenprinzips im Kino zu etwas Traurigem, weil vieles des im Gegensatz zum Roman im Film Möglichen, besonders das Unmittelbare der Bilder, sich dem Heldenprinzip unterordnen muß, um ins Kino zu kommen. Das gilt vor allen für Dokumentarisches, welches sich das narrative System nur über einen dominanten Helden ("Nanook of the North") erschließen kann, aber auch für vornehmlich Lyrisches - es reicht ja nicht, die lyrische Empfindung wiederzugeben, es muß ein Held in ihr herumstampfen, da bleibt leicht bloß Kitsch übrig.
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Prinzipielle Bedeutung hat im narrativen System auch die Zeitverkürzung. "RESURRECTION" beschreibt einen Zeitraum von 6 Jahren und hat eine Projektionszeit von etwa zehn Minuten. Wo ist diese Zeit geblieben? Gemessen an den beschriebenen Zeiträumen ist die Projektionszeit eines Films in der Regel lächerlich gering. Dadurch enthalten die Einstellungen eines Films eine ungeheuere Wichtigkeit, müssen sie doch begründen, daß ausgerechnet sie es sind, welche die wichtigsten Stationen eines menschlichen Schicksals beschreiben. Dadurch werden sie doppelt repräsentativ. Sie repräsentieren nicht nur den abgebildeten Raum sondern auf eine geheimnisvolle Weise auch den nicht abgebildeten Raum; sie repräsentieren die entscheidenden Stationen eines menschlichen Schicksals. Diese inhaltliche Repräsentanz wird in den heutigen Filmen nicht mehr der einzelnen Einstellung aufgebürdet, die so eine Last ja gar nicht zu tragen vermag, sondern ganzen Folgen von Einstellungen, sogenannten Sequenzen, in deren jeder sich eine wichtige Station im Leben eines Helden darzustellen hat. Die einzelne Einstellung hat im Vergleich zu "RESURRECTION" inzwischen an Autonomie und Bedeutung verloren.
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Konsequent an diesem Film ist die Benutzung des Präsens in den Titeln. Sie ist die klarste Folge der Idee der räumlich repräsentativen Einstellung. Ein abgebildeter Raum soll im Moment der Projektion als "Ist"-Raum begriffen werden und nicht als "War"- Raum aus der Vergangenheit. Dies steht in einem gewissen Gegensatz zu der inhaltlichen Repräsentativität, von der ja jedermann weiß, daß man sie erst im nachherein beurteilen kann. Häufig wird einem Film daher ein Erzähler überlagert (manchmal in Form von Titeln), der zu Beginn eines Films vom gleich Geschehenden als etwas Vergangenem redet und dann - bis auf ein geheimnisvolles Echo im Schlußtitel "ENDE" - auf Nimmerwiedersehen verschwindet (über den Sinn dieses "ENDE" Titels würde ich übrigens gern mal etwas lesen). Ansonsten soll oder möchte der Zuschauer alles, was sich in den Bildern ereignet, als gegenwärtig begreifen, nur das scheint die Identität von Bild und Abgebildetem zuverlässig zu gewährleisten. In der Vergangenheit spielende Filme sind darauf angelegt, daß man sich in die Vergangenheit zurückversetzt, in etwa so, als würde man dabei sein; man sieht sie jedenfalls nicht aus historischer Distanz.
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Dies führt häufig zu unerträglichen Torsionen, müssen doch die Hersteller eines Films sich bemühen, Authentizität in historischen Umgebungen weit über das Maß dessen hinaus zu liefern, was über die jeweilige Zeit noch bekannt und vor allem herstellbar ist. Kennern der Verhältnisse und Personen, die das in einem Film Beschriebene früher selbst einmal erlebt haben, sträuben sich oft die Haare. Doch wenn das Publikum nicht aus solchen Kennern besteht, reicht eine gewisse Plausibilität zum Funktionieren. Vielleicht gibt es darüber hinaus auf Seiten des Publikums sogar so etwas wie ein Bedürfnis, die Situation nicht "realistisch" dargestellt zu sehen, vielleicht entsprechen gerade nichtrealistische Deformationen einem Bedürfnis nach Verklärung der Vergangenheit und einer in diesem Sinne wirkenden erzählerischen Verdichtung.
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Ein System jedenfalls, das Helden benötigt, muß ohnehin Geschichte aus der Perspektive dieser Helden beschreiben. Versuche, Geschichte anders zu beschreiben, etwa als Resultat einer Bewegung von sozialen Feldern und Massen, scheitert spätestens im Kino. Geschichtsfilme werden dadurch zu geschichtsindifferenten Kostümfilmen. Daß die Folge solcher Bemühungen ein verquastes Verständnis von Geschichte werden kann, ist offensichtlich - darum sind andere Geschichtsverständnisse freilich oft nicht weniger absurd. Trotz offensichtlicher Widersprüche scheint das narrative System jedenfalls irgendwie zu funktionieren. Warum das so ist, erfahren wir erst bei der Analyse systematischer Parallelmontagen. Ein Film wie "RESURRECTION" führt uns heute allerdings nicht mehr in das zaristische Rußland sondern ins Amerika des Jahres 1910. Die naive lineare Erzählweise dieses Films schränkt den repräsentativen Charakter der Einstellungen inzwischen derart ein, daß sie wieder zu dem werden, was sie eigentlich immer gewesen sind: eigenartige Hervorbringungen einer eigenartig experimentierfreudigen Gruppe von Menschen im New York des Jahres 1910.
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Auffällig an diesem Film ist auch, daß zu einmal verlassenen Schauplätzen nicht mehr zurückgekehrt wird. Wir werden erkennen, daß das in der sich sozusagen von allein erzählenden Form ganz anders ist. In ihr wird genau das hier noch nicht vorhandene Zurückspringen in schon Bekanntes exzessiv genutzt, um dem Ganzen Halt zu geben.
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Wenn man diesen Film sieht, ist es schwer sich zu entscheiden, was unverschämter ist: Griffiths Versuch, Tolstoi zu verkürzen oder Tolstois Versuch, eine Geschichte, die sich in einem Zehn-Minuten-Stummfilm erzählen läßt, auf fast tausend Seiten auszubreiten. Die Chuzpe Griffiths haben Literaturverfilmungen bis heute. Aber die ist es eigentlich nicht, die wirklich unverschämt ist, Literatur ist ja nichts heiliges. Unverschämt ist die Chuzpe, etwas ziemlich Erstaunliches in etwas deutlich Minderwertigeres zu verwandeln und zu hoffen, damit durchzukommen, obwohl dieser Schritt in die Minderwertigkeit allen am Produktionsprozeß Beteiligten von vornherein klar ist. Am Beginn der Filmgeschichte gab es sicher die Hoffnung, daß es sich bei dem so Hergestellten um Prototypen handelte, die dann - Griffiths Werk ist ja von dieser Anstrengung sympathisch gezeichnet - irgendwann einmal zu richtigen Kunstwerken führen würden. Selbst in einem so einfachen und zusammengeschlachterten Film wie "RESURRECTION" ist in Titeln wie
T4 : TO KATUSCHA, THE TOSSED-OFF BLOSSOM REPRESENTS THE FUTILITY
OF DIMITRI'S ADMIRATION
etwas von der Hoffnung auf das, was Film einmal sein könnte, zu entdecken, eine gerichtete, Allegorien umfassende Raffinesse, von der Lumière zehn Jahre zuvor sich nichts hatte träumen lassen, und von der in Unternehmungen wie Schlöndorffs Proustverfilmung nicht einmal mehr geträumt wird. Tatsächlich hat Film dieses Versprechen bis heute nur in ein paar hohen Momenten einzulösen verstanden. Dafür aber hat er manches andere übererfüllt.
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Gerade an "RESURRECTION" kann man den erstaunlichen Weg ermessen, der im Film von damals bis heute gegangen ist. Das ist es, was ich die enorme Leistung nenne, der dieses Buch gewidmet sein soll. Gemessen an dem, was Menschen sonst so im Umfeld von Film anstellen, kann dieser Weg nicht geplant oder das Resultat koordinierter Bemühungen gewesen sein - diese Entwicklung war ein sogenannter Selbstgänger. Hinter ihr muß sich etwas verbergen, was den Fortschritt wie von selbst steuerte, und wir wollen versuchen, einiges davon herauszufinden.
*
"RESURRECTION" hat im wesentlichen die Form
EINSTELLUNG : TITEL : EINSTELLUNG : TITEL : EINSTELLUNG : TITEL : ... usw.
Diese Filmform ist die einfachste, die unterschiedliche repräsentative Einstellungen miteinander verbindet. Zugleich ist sie die erste Filmform, die eine systematische und seriell herstellbare Produktion narrativer Filme ermöglicht. Mit ihr können sogar einander eigentlich fremde Einstellungen so verbunden werden, daß sich ein "sinnvolles" Handlungsgefüge daraus ergibt. Alle aus den Bildern nicht ablesbaren Beziehungen können durch Titel beschrieben werden. Und das kann wie bei folgendem Titel
T17 : SHE REFUSES TO RETURN, PREFERRING TO WORK OUT HER SALVATION
BY RENOUNCING THE WORLD FOR THE PATH OF DUTY
eine ganze Menge sein, gemessen jedenfalls am dazugehörigen Bild, auf dem man bloß eine im Schnee stehende, ansonsten nichts tuende Person wahrnehmen kann. Mit einem solch effektiven Verfahren, das sogar aus Mist im Notfall Gold zu machen verstand, konnte die Filmproduktion zu einem Sektor vollindustrieller Produktion werden, und das verrät auch die Zahl von über dreihundert Kurzfilmen die Griffith zwischen 1907 und 1911 drehte.
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Es ist kein Zufall, daß mit dem Vorhandensein dieser Filmform die erste Kapitalkonzentration im Filmgeschäft begann. Mit der Motion Picture Patents (MPPC) entstand das erste horizontale und vertikale Monopol der Filmgeschichte, an dem sich alle späteren Konzentrationsprozesse orientierten.
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Mit dieser Filmform kann jeder literarische Stoff in ein Filmscript verwandelt werden. Man benötigt nur Leute, die Lesen und Schreiben können und ein gewisses Gefühl für dramatische Formen haben - von denen gibts immer genug. Dies garantierte zu Zeiten des frühen Griffith einen unbegrenzten Zustrom geistigen Rohmaterials, auf dem sich eine industrielle Produktion gründen konnte. Jeder drittklassige Schauspieler konnte wegen der Dominanz der Totalen Darsteller in diesen Filmen sein (dieses "Drittklassige" tat im übrigen den Filmen gut). Für die Realisierung ließ sich auf Regisseure mit ein wenig Theatererfahrung zurückgreifen, sie mußten nur bereit sein, schnell zu arbeiten und durften keinen Kunstanspruch haben. Die Produktion blieb billig, da bei solchem Qualifikationsprofil keine hohe Löhne gezahlt zu werden brauchten. Gegenüber den Kinos wurde dagegen eine Art Monopolpreispolitik durchgesetzt. Die Existenz dieser Filmform als eine Art Notanker, auf den man immer zurückgreifen konnte, machte die Filmproduktion zu einem kalkulierbaren Risiko, bei dem auch beim Mißglücken etwas herauskommen würde, und so entstand die für die weitere Entwicklung der Filmform, die vor allem vom Werk Griffiths in den Jahren 1907 bis 1911 ausging, notwendige Akkumulation von Kapital. Wenn auch die weitergehende Entwicklung gegen die MPPC durchgesetzt werden mußte, da sie in einer dümmlichen Verkennung der Richtung des Ganzen auf ihrer Kurzfilm- und Niedriglohnpolitik beharrte und das Starsystem nicht akzeptieren wollte, begann doch das Bankkapital sich für die Geldanlage im Filmgeschäft zu interessieren, und es nicht nur als riskantes Glücksspiel zu behandeln.
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Man könnte meinen, bei der Form von "RESURRECTION" handelte es sich - weil sie ja so einfach ist - um eine Primitivform, aus der heraus sich das Griffithsche Erzählschema ganz logisch entwickelte, aber das Gegenteil ist wahr: es gab zur gleichen Zeit schon sehr viel kompliziertere Filme. Die Form von "RESURRECTION" ist eine Reduktion und man sieht das auch: wir erwähnten schon den raffinierten Titel mit dem Versprechen, und das ganze ist voll von einem erstaunlichen Wissen um dramatische Zusammenhänge - gespeist natürlich von den Erfahrungen im Umgang mit dem Geschichtenerzählen aus der Literatur. Trotz dieser Einfachheit ist es, wenn man von Lumière, Edisons oder selbst von Méliès Filmen ausgeht, ein enormer Schritt bis hin zu dieser Form.
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Von heute gesehen erstaunt das Tempo, mit dem sich das narrative System entwickelte. Von der Erfindung des Films bis zu "Intolerance", dem Film von Griffith, der das Ende der entschlossenen Weiterentwicklung markiert, von 1896 also bis 1916, vergingen gerade mal zwanzig Jahre. Für jemanden, der als Jugendlicher um 1960 Nouvelle Vague Filme gesehen hat und sich davon eine ähnlichen Sprung in der Entwicklung des Films erhoffte, war der Rest der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts eher enttäuschend.
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Im übrigen ist die Filmform von "RESURRECTION" heute keineswegs so überholt, wie man vielleicht denken könnte. Es ist die im Dokumentar- und Tagebuchfilm auch heute noch übliche, bis auf den Unterschied, daß Titel nicht mehr gelesen werden müssen, sondern als Kommentar im off zu hören sind. Eigentlich überrascht weniger, daß diese in sich vernünftige Form noch existiert, erstaunlich ist eher, daß und wie das narrative System es geschafft hat, sich ihrer zu entledigen. Denn diese Form wäre auch im narrativen Kino in Bezug auf Effektivität - in, sagen wir mal, der Inhaltsvermittlung - keineswegs überholt. Ich bezweifele, daß ein narratives Bildsystem mit noch so viel technischem und finanziellen Aufwand jemals die Effektivität des folgenden Zwischentitels erreichen kann:
T8 : DIMITRI REALIZES THAT HER PLIGHT IS HIS FAULT: AT THE TRIAL
HE PROTESTS, WEAKLY. THE PROCEEDINGS ARE A PARODY
Die Zwischentitel in den Filmen verschwanden jedenfalls nicht, um irgendeinen Informationsfluß zu optimieren. Verglichen mit der Schrift ist der narrative Film ein denkbar schlechtes Informationssystem.
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Schauplatz eines Films der Form
EINSTELLUNG : TITEL : EINSTELLUNG : TITEL : EINSTELLUNG : TITEL : ... usw.
ist potentiell die ganze Welt. Faktisch blieben die Schauplätze im wesentlichen dennoch auf die Dekorationen in den Studios beschränkt. Wollte man die Kosten eines Films niedrig halten, waren Außenaufnahmen ein riskanter Luxus. Transport, Gagen, und das Warten auf gutes Wetter machten eine einzige Einstellung unter Umständen kostspieliger als einen ganzen, nach dem Drehbühnenprinzip hergestellten Film im Studio. Viele Außenaufnahmen haben im Gegensatz zu den Interieurs auch nicht die angenehme Eigenschaft, daß sich in ihnen Personen beliebig oft zwanglos treffen und interessant miteinander interagieren können, und können daher in einem Film häufig nur ein, zweimal benutzt werden. Ein Interieur dagegen kann dem ganzen Arsenal der Theaterinteraktionen zwanglos zu einem Ort verhelfen. Trotz des ungeheuren Potentials beschränken sich daher die auf unsere Filmform zurückgreifenden frühen Filme auf billig zusammengeschreinerte Interieurs und gemalte Außendekorationen mit nur gelegentlichen Einsprengseln von Außenaufnahmen. Auch heute ist es oft billiger, etwas im Studio neu bauen zu lassen, als an einem Originalschauplatz zu drehen. Die Filmindustrie zog zwar wegen des guten Wetters von New York nach Hollywood, doch das geschah nicht so sehr wegen der Möglichkeit von Außenaufnahmen, es ging um Licht. Weil die damaligen Scheinwerfer nicht stark genug für das wenig empfindliche Filmmaterial waren, hatten die Studios offene Dächer. Wenn bei Regen die Glasdächer geschlossen werden mußten, war man auch innen schon am Rand einer Katastrophe.
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Wir wollen nun das Modul xi : Tij : xj genauer untersuchen, wobei Tij ein Titel ist, der die beiden repräsentativen Einstellungen xi und xj verbindet. Dazu zerlegen wir Formel den Titel Tij in einen Bestandteil TRZij , der die Raumzeit-Verbindung zwischen xi und xj beschreibt und in einen Rest TRest ij :
Tij = TRZij : TRest ij
Dies stellen wir uns so vor, daß erst der eine Titelanteil zu sehen ist und dann der andere. Da die Zerlegung künstlich ist, nehmen wir an, daß es auf die Reihenfolge nicht ankommt. Der Titel
T6 : FIVE YEARS LATER - IN A LOW TAVERN
hätte zum Beispiel die Zerlegung
TRZ6 = FIVE YEARS LATER - IN A TAVERN
und TRest 6 muß den Tatbestand enthalten, daß es sich bei der Kneipe um eine der niedrigeren Gesellschaftsschichten handelt, das ist nicht so sehr eine geographische als eine soziale und inhaltliche Eigenschaft.
Manche Titel haben natürlich keinen Raumzeit-Anteil und bestehen nur aus diesem Rest:
T11 : "I AM TO BLAME AND WILL SEE THAT YOU ARE PARDONED"
Andere wiederum bestehen nur aus diesem Raumzeit-Anteil wie zum Beispiel der schlichte Titel
"7 JAHRE SPÄTER IN PARIS". Den nichtraumzeitlichen Anteil eines Titels nennen wir im folgenden den inhaltlichen Bestandteil.
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Etwas bislang noch nicht Berücksichtigtes, was auch mit Zeit zu tun hat, ist, daß das Geschehen einer neuen Einstellung für uns als Zuschauer wie selbstverständlich zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet als das einer vorhergehenden. Das klingt trivial, aber genau dies und die Möglichkeit, daß man es als Zuschauer zunächst einmal glaubt, ist die Voraussetzung dafür, daß das Erzählen funktioniert. Keiner der Filmerfinder hat davon ausgehen können. Seit ihren uns bekannten Ursprüngen gab es in der Kunst zwar schon ein Nebeneinander, das sich für einen Betrachter in ein zeitliches Nacheinander verwandeln sollte, schon in manchen Höhlenmalereien, und in zahllosen Beispielen noch in der Malerei der Renaissance, ganz wenige davon wiesen aber die zeitlich geordnete Rigidität geschnittener Filme auf. Tatsächlich handelte es sich bei den frühen Bildwerken unserer Kultur oft um ein für heutige Begriffe sehr merkwürdiges Nebeneinander von Verschiedenzeitigkeit in einem einzigen Bild. Hatte ein solches etwa das Leben eines Heiligen zum Thema, wurden nicht selten verschiedene Phasen seiner Vita an verschiedenen Orten dieses Bildes dargestellt, ohne daß man für nötig hielt, die verschiedenen Zeiten durch Rechtecke oder ähnliches voneinander zu trennen. Derartige Verschiedenzeitigkeit in einem einzigen Bild gibt es im Film nicht mehr, auch nicht die relative Ungeordnetheit der in gerahmten Teilbildern nebeneinanderstehenden Zeitgefüge, wie sie in vielen mittelalterlichen Mosaiken und Fresken, (etwa denen Cimabues und Giottos in Assisi), erhalten ist (die rigide Zeitordnung der Mosaiken in den Kuppeln von San Marco in Venedig, welche das dort Entstandene zu einer Frühform des Kinos macht, bildet die Ausnahme) - aber man brauchte im Mittelalter auch noch keine sorgfältig gesetzte Zeitstruktur: jede mögliche Bildanordnung wurde durch die Erzählungen der Kirchengeschichte und der Bibel als im Hintergrund befindliches Ordnungssystem stabilisiert.
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Oft wirken Titel über die folgende Einstellung hinaus und sind dann formal Bestandteil eines späteren Titels. In "RESURRECTION" gibt es zum Beispiel das System
x5 : T13 : T14 : x5 : T15 : x6
wobei x5 ein Gefängnis und x6 eine Landschaft in Sibirien darstellt. T14 nun heißt:
"BUT NOW, THE POLICE ARE READY TO TAKE HER TO A LIFE OF HARD LABOR IN SIBERIA"
woraufhin man in x5 sieht, wie die Polizei Katuscha abführt. Dann erscheint T15 :
"KATUSCHA TRIES TO HELP THE POOR UNFORTUNATES WHO SHARE HER FATE"
und man erkennt sie danach in der "sibirischen" Einstellung x6. Dabei muß in der Raumzeit-Verbindung von x5 zu x6 die Information aus T14 berücksichtigt werden, daß es eben ab nach Sibirien geht. Bei den Raumzeit-Verbindungen zwischen zwei Einstellungen werden also auch vorher erschienene Titel berücksichtigt, etwa in der Art, daß sie eine Zeitlang gespeichert und dann, wenn sich der betreffende Schnitt ereignet, abgerufen werden.
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Diese Struktur ist auch in heutigen narrativen Filmen häufig zu beobachten. Im Lauf eines Gesprächs können wir zum Beispiel erfahren, daß einer der Darsteller vorhabe, in der nächsten Woche nach Rom zu fahren. Nehmen wir ihn einige Zeit später in einer Umgebung wahr, die einen Ort in Rom repräsentieren könnte, wird in unserem Kopf der gespeicherte Raumzeit-Titel abgerufen und wir interpretieren "EINIGE WOCHEN SPÄTER IN ROM". Solche dialogvermittelten Raumzeit-Verbindung braucht man kaum von der durch einen Titel an der richtigen Stelle vermittelten zu unterscheiden.
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In der entwickelten narrativen Filmform von heute sind Zwischentitel selten. Meist werden sie durch Dialoge vermittelt, ab und zu tauchen sie aber doch noch auf: bei größeren Orts- oder Zeitsprüngen und oft auch in den Anfangsbereichen von Filmen, wenn weit auseinanderliegende Handlungsgefüge durch Titel einen Scheinzusammenhang erhalten. Oft vertreten repräsentative Einstellungen einen Zwischentitel, ein Bild der Tower Bridge oder von Big Ben mit Glockengeläut kann zum Synonym von "LONDON" werden. Nur aus dem inhaltlichen Bestandteil bestehende Titel dagegen gibt es dagegen kaum noch, sie sind voll in den Dialog übergegangen oder es ist gelungen sie visuell so differenziert darzustellen, daß sie nicht mehr auftauchen müssen. Jetzt, in den neunziger Jahren, tauchen wieder häufiger off-Erzähler auf. Ein solcher Erzähler ist zwar "unfilmisch", man hat aber begriffen, daß sich mit ihm gelegentlich doch kompliziertere Sachverhalte darstellen lassen, als mit dem bloß "filmischen" Erzählen. Dies ist ein Zeichen des Verfalls des erzählerischen Kinos, und hängt mit dem Bemühen um differenzierteren Ausdruck zusammen.
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Wenn wir in der uns jetzt schon so gut bekannten Filmform
F = EINSTELLUNG : TITEL : EINSTELLUNG : TITEL : ... usw.
von den inhaltlichen Titelbestandteilen absehen, bleiben nur die Raumzeit-Titel übrig und wir haben eine Form der Gestalt
F = EINSTELLUNG : TRZ : EINSTELLUNG : TRZ : EINSTELLUNG : TRZ : ... usw.
in der Raumzeit-Titel jeweils zwei Einstellungen verbinden und die räumlichen Bezüge zwischen ihnen herstellen. Eine der Hauptleistungen des narrativen Systems besteht darin, die explizite Darstellung der Raumzeit-Zwischentitel überflüssig gemacht zu haben. Und zwar ohne daß wir als Zuschauer unsere Raumzeit-Orientierung verlieren, sie im Gegenteil sogar noch verbessert wahrnehmen können. Die Filmform wird dann zum trivialen System
F = EINSTELLUNG : EINSTELLUNG : EINSTELLUNG : ... usw.
und es gibt in jeder Einstellung eine Reihe von Hinweisen, die den raumzeitlichen Anschluß an das Vorherige vermitteln.
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Wir stellen uns ein Wahrnehmungsmodell vor, in dem sich diese Hinweise im Kopf des Zuschauers zu einem Raumzeit-Operator verdichten, der die nötige Beziehung zwischen den Raumzeit-Segmenten vermittelt. In einer solchen Terminologie würden wir die Untersuchung des narrativen Systems als weitgehend identisch mit einer Analyse der in ihm möglichen Darstellungen von Raumzeit-Operatoren begreifen.
Bezeichnen wir mit ORZ einen Raumzeit-Operator nimmt dann die Filmform die folgende Gestalt an:
F = EINSTELLUNG : ORZ : EINSTELLUNG : ORZ : EINSTELLUNG : ORZ : ... usw.
Von diesen Raumzeit-Operatoren erwarten wir, daß sie sich kurz nach dem Schnitt aus gewissen den Einstellungen entnehmbaren Hinweisen in unserem Kopf zusammensetzen, um dann die raumzeitlichen Verbindungen zwischen den einzelnen Einstellungen zu vermitteln. Auch die Form
F = EINSTELLUNG: TRZ :EINSTELLUNG: TRZ :EINSTELLUNG: TRZ :... usw.
können wir als mit diesem Prinzip arbeitend begreifen, wenn wir annehmen, daß aus den geschriebenen Titeln erst Raumzeit-Operatoren entstehen.
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Die Raumzeit-Operatoren werden nicht ausschließlich durch die Einstellungen bestimmt, von denen sie direkt gerahmt sind. Wie bei Zwischentiteln können vorher auftauchende Hinweise einen Raumzeit-Operator modifizieren. Derartiges nennen wir eine Retardierung. Ebenso ist möglich, daß ein einmal etablierter Raumzeit-Operator einen späteren beeinflußt. Das ist der Fall bei den Rückschnitten.
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Das Entstehen der Raumzeit-Operatoren verlangt die Vorstellung möglicher Nachbarschaft zweier Einstellungen und ihre Analyse. Als möglich empfundene Nachbarschaftsbeziehungen erzeugen mögliche Raumzeit-Operatoren, die durch weitere Hinweise zu tatsächlichen werden und mögliche Nachbarschaftsbeziehungen in ebenso tatsächliche verwandeln. Dieser Prozeß findet miteinander wechselwirkend sowohl auf der Ebene der räumlichen als auch der zeitlichen Nachbarschaften statt.
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Es ist nicht leicht, die sich bewegenden Bilder eines Films zu beschreiben. Schon die Beschreibung eines einzelnen Bildes hat zwar eine jahrhundertelange Tradition, bleibt aber ungenau und ist vor allem eine Betonung des vom Betrachter als wichtig Empfundenen. In keinem Fall ist sie ein Äquivalent des Bildes, obwohl auch so etwas gelegentlich wie durch ein Wunder sich einstellt:
Der Garten Daubignys
im Vordergrund grün und rosa Gras
links ein Gebüsch grün und lila und ein Baumstumpf mit weißlichem Laub In der Mitte ein Rosenbeet. Rechts ein Gatter eine Mauer und die Mauer überragend ein Haselnußstrauch mit violettem Laub.
Dann eine Fliederhecke eine Reihe kugelförmig geschnittener gelber Linden. Das Haus selbst im Hintergrund rosa mit einem bläulichen Ziegeldach. Eine Bank und 3 Stühle eine Gestalt in Schwarz mit gelbem Hut und im Vordergrund eine schwarze Katze
Himmel grün blaß .
Doch selbst, wenn Bildbeschreibungen wie in diesem Text van Goghs (Anlage zu Brief Nr. 651 vom 23. Juli 1890; neu übersetzt unter Berücksichtigung der ursprünglichen Zeichensetzung und der Leerräume zwischen manchen Worten und Sätzen) durch das Erfassen der Essenz mehr als gelingen, erwachsen durch das Bewegungsphänomen derartig viele neue Schwierigkeiten, daß Sprache, gemessen am Anspruch, Wirklichkeit einigermaßen präzise wiederzugeben, verzweifeln muß. Weder grobe Bildvereinfachungen noch erschöpfende Beschreibungslänge können dies Problem lösen.
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Haben wir zum Beispiel zwei Personen vor uns, die relativ unabhängig voneinander verschiedene Handlungen ausführen, zwingt die Gleichzeitigkeit ihrer Handlungen immer wieder zu Konstruktionen folgenden Typs: "Während A dies tut, macht B jenes", die sich derart häufen, daß die Handlungen von A und B als in sich geschlossene, voneinander unabhängige Vorgänge kaum noch begriffen werden können. Wird andererseits erst die Handlung von A und dann die von B beschrieben, begreifen wir zwar die einzelnen Vorgänge, verlieren aber jede Information über die Querverbindungen zwischen ihnen. Dieses Problem ist repräsentativ für die Schwierigkeiten einer Literatur, die sich als objektiv beschreibend versteht, denn es erscheint auch bei jedem Beschreiben von sozialer Wirklichkeit, die - das ist ihre Natur - eine Unmenge gleichzeitiger Prozesse enthält. Der Roman des neunzehnten Jahrhunderts hat als Antwort darauf eine Form entwickelt, die noch heute als Prototyp realistischen Schreibens figuriert.
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Bei Balzac etwa lesen wir :
"Ist es so gut?" fragte der Advokat und reichte Thuillier das Blatt hin. "Vollkommen," erwiderte dieser, faltete vorsichtigerweise den Brief selbst zusammen und schloß den Umschlag: "jetzt adressiere," fügte er hinzu.
Und der Brief wanderte in le Peyrades Hände zurück.
Und eine Seite später:
Als sie allein waren, nahm le Peyrade eine Zeitung zur Hand und schien sich in ihre Lektüre zu vertiefen.
Thuillier, der angefangen hatte, ziemlich unruhig bezüglich der Lösung der Frage zu werden, bedauerte, daß ihm eine andere Idee zu spät eingefallen war.
"Ja," sagte er sich, "ich hätte den Brief lieber zerreißen und es mit der Erbringung des Beweises nicht so weit treiben sollen."
(H. de Balzac, "Die Kleinbürger", Rowohlt Berlin, deutsch von Hugo Kaatz, Band 2, S. 239/240)
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In der "realistischen" literarischen Konstruktion der Gleichzeitigkeit wird also erst A eine Weile verfolgt und dann B, wobei wir zuweilen Informationen über das bekommen, was A tut, während wir B beobachten, und umgekehrt. Das Verfahren ist das einer raschen Parallelmontage, in der die "wesentlichen" Bewegungsphasen enthalten sind und die "unwesentlichen" weggelassen werden. Bei literarischen Konstruktionen fällt einem das kaum auf, schließlich sind die Gleichzeitigkeiten darin ja nur ausgedacht; den Ansprüchen einer realistischen Rekonstruktion von Wirklichkeit jedoch genügt das nicht, denn: Was macht eigentlich le Peyrade, nachdem er Thuillier sein Blatt gereicht hat? Was tut Thuillier, während ihm le Peyrade das Blatt zurückgibt?
Oder schärfer noch:
Was heißt eigentlich, daß le Peyrade eine Zeitung zur Hand nahm und sich in deren Lektüre scheinbar vertiefte, während Thuillier schon angefangen hatte, ziemlich unruhig bezüglich einer bestimmten Frage zu werden?
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Diese "realistische" Konstruktion, die bei der Verfolgung eines Ping-Pong-Spiels vorzüglich funktioniert, und deshalb, weil die menschliche Wirklichkeit höchst selten wie ein Ping-Pong-Spiel organisiert ist, im modernen Roman meist nur noch als Travestie zu beobachten ist, feiert im narrativen Film eine Art Auferstehung. Sie bestimmt seine Struktur und ist verantwortlich für das eigentümliche Mißverständnis, nach dem narrative Filme häufig als "realistischer" begriffen werden als Wirklichkeit selbst.
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Voraussetzung für das Funktionieren dieser Konstruktion ist die radikale Zerstörung der verwirrenden Gleichzeitigkeit der einzelnen Einstellung, die im Film ja Wirklichkeit repräsentiert. Je deutlicher die Gleichzeitigkeitsstruktur der Wirklichkeit in der einzelnen Einstellung zerstört wird, desto glaubwürdiger erscheint ihre Wiedergeburt in der "realistischen" Konstruktion. Hier entdecken wir eine der Wurzeln der Degeneration des Darstellers zu einer Person mit beschränkten Bewegungsmöglichkeiten.
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In dem, was uns von Méliès Film "VON PARIS NACH MONTE CARLO" aus dem Jahre 1905 erhalten ist, beobachten wir das Prinzip dieser Zerstörung. Der Film ist knapp 6 Minuten lang und hat, wenn wir die einzelnen zum Teil durch Stoptricks hergestellten Szenen als in sich realistisch begreifen, 12 verschiedene Einstellungen, die jeweils einmal erscheinen. In diesen Einstellungen sehen wir Dutzende von Personen, die eine zum Teil unbeschreibbare Aktivität entfalten. In jeder dieser schwarzweißen Einstellungen erscheint dann nach einer gewissen Zeit der Hauptdarsteller des Films, ein nachträglich von Hand rot koloriertes Automodell, das sich von rechts nach links durchs Bild bewegen will - von Paris nach Monte Carlo. Die Geschichte des Films ist die Geschichte der Hindernisse, die sich dieser roten Ungeheuerlichkeit auf seinen Vordringen in den Weg stellen. Was immer sich an Aktivitäten auf seiner Bahn entfalten mächte, wird von ihm mit fataler Konsequenz gerammt, überrollt und zerstört. Weil das Auto seinen Weg von rechts nach links nehmen muß, um in der nächsten Einstellung wieder auftauchen zu können. Um die Bildaktivitäten ist es jedoch schon vor ihrer physischen Zerstörung geschehen. Denn was immer sich in den einzelnen Einstellungen an gleichzeitiger menschlicher Aktivität offenbart, wird in dem Moment vernichtet, an dem das Auto im Bild erscheint, weil sich das Auge des Zuschauers reflexhaft diesem wegen seiner Kolorierung stark von seiner Umgebung unterschiedenden Objekt zuwendet. Die übrigen Bildgeschehnisse werden zu Atmosphäre und haben, wenn sie die Bewegung des Helden nicht unterstützen, nur noch die Funktion, von ihm möglichst spektakulär vernichtet zu werden. Der Held besiegt die komplizierte Gleichzeitigkeit der Wirklichkeit und damit die Wirklichkeit selbst: zuerst im Auge, und anschließend physisch. Dies ist bis heute eine der wesentlichen Botschaften des narrativen Films - und die kann man nun wirklich nicht am nächsten Telegraphenamt aufgeben, ohne Gefahr zu laufen, vom Empfänger der Botschaft ausgelacht zu werden.
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(aus "Von Paris nach Monte Carlo")
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Darsteller in Filmen haben also nicht nur die Eigenschaft, den Raum hinter sich zu verdecken und unser Auge so für die Fortsetzung einer Einstellung nach innen zu schulen, sondern sie helfen auch, sehen sie auffällig genug aus, das Gleichzeitigkeitsproblem der einzelnen Einstellung zu lösen. Mit dem Erscheinen des Hauptdarstellers wendet sich die Aufmerksamkeit diesem zu, gleichgültig ob er groß im Bild ist oder nur Punkt in einer weiten Totalen. An diesen Reflex koppeln sich die Konstruktionen des narrativen Systems. Sowie ein Bild erscheint, wird es vom Zuschauer hierarchisiert und daraufhin untersucht, ob ein Hauptdarsteller zu entdecken ist. Erst nach der Beantwortung dieser Frage wendet sich die Aufmerksamkeit anderen Bildteilen zu. Dann entfaltet der Hauptdarsteller freilich oft eine derartige Aktivität, daß er die Hintergrundeinzelheiten überspielt. So daß wir die vielfältigen Details nur sorgfältig betrachten können, wenn wir das Risiko in Kauf nehmen, die folgende Handlung nicht mehr zu begreifen. Eine der Voraussetzungen für das Funktionieren des narrativen Systems ist der flüchtige Blick, der sich einbildet, einen abgebildeten Vorgang trotz aller Flüchtigkeit erfaßt zu haben. In diesem Sinne möchte unser Auge im Kino betrogen werden.
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Man kann sich fragen, was das soll. Da wird sehr viel Geld in diese Totalen gesteckt - der sogenannte "production value" - dann erscheint der Hauptdarsteller, und man ist gar nicht mehr in der Lage, auf all die teuren Details zu achten. Und in der Tat hat es lange gedauert bis solch beiläufiger Luxus im Film selbstverständlich wurde. Bis zum ersten Weltkrieg waren die Filme darum bemüht, dem Zuschauer jeden ausgegebenen Dollar mit einem Ausrufungszeichen vor Augen zu führen, manche Produzenten waren sich nicht einmal zu blöde, die Kosten einzelner Einstellungen in den Zwischentiteln anzugeben oder den Namen ihrer Firma auf Möbelstücke zu schreiben, damit der Zuschauer erfuhr, daß sie eigens für diesen Film und teures Geld angeschafft wurden. Weil Betrug und Täuschung das Prinzip des Kinos ist, wollte man zeigen, daß der Zuschauer zumindest in finanzieller Hinsicht von dem Produzenten nicht betrogen wurde: man bekam etwas für sein Geld.
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Ebenso oft habe ich mich gefragt, wie es kommt, daß man so schnell selbst in Totalen eines arabischen Marktes bekannte Darsteller zu entdecken vermag - nicht etwa nur eine auffällig gekleidete Frau, das wäre nicht weiter rätselhaft. In einem Kamerahandbuch habe ich einmal Regeln dafür gefunden, präzise Angaben über Diagonalenstruktur, Bewegungsrichtung, Tempo und ähnliches.
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Der an Darstellern orientierte Sehreflex des Zuschauers veränderte die Produktionsweise von Filmen. Aus ihm entwickelte sich das Starsystem und die daran gekoppelten für damalige Verhältnisse monströsen Darsteller-Gagen. Sobald diese bekannt wurden - sie waren so unverschämt, daß sie im Bewußtsein des Zuschauers schon beim Kauf der Eintrittskarte festsaßen - brauchten die Produktionskosten im Film kaum noch erwähnt zu werden. Meist beginnt ein Film erst richtig, wenn sein Star erscheint. Das sich zuvor Abspielende darf man übersehen: es wird der Hauptfigur schon noch einmal erklärt werden. Der Auftritt des Stars bildete den eigentlichen Anfang eines Films.
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Das unterscheidet das Heldenprinzip des Films auch von demjenigen des Romans. Ein Roman erfindet seinen Helden, zu Anfang weiß man nichts über ihn. Ein Film verfügt über ihn schon, bevor das Drehbuch geschrieben ist. Und Filme, die keine Stars haben, können nur hoffen, daß ihre Schauspieler irgendwann zu Stars werden, sonst haben sie es schwer.
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Die Verbindung des Starsystems zu bürgerlichen Ideologien ist nicht verborgen geblieben. Sozialkritische Beschreibungsversuche des Starsystems hat es immer schon gegeben. Übersehen wird dabei aber zumeist die innige Verbindung, welche diese Ideologie mit der Form selbst eingegangen ist. Das Hauptdarstellerprinzip ist wichtige Voraussetzung für die Aufbereitung von Ereignisfolgen. Erst das Starsystem sorgte für eine so nachhaltige Zerstümmelung der Gleichzeitigkeit, daß ihre filmische Rekonstruktion durch die Parallelmontage selbstverständlich wird.
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Diese Art Reflex beim Betrachten filmischer Wirklichkeit ist in der Wirklichkeit selbst kaum vorhanden. In ihr begegnen wir nur selten Stars, ihr Äquivalent könnten höchstens uns plötzlich interessierende Personen oder Bekannte sein. Bei der Begegnung mit einem Bekannten, mit dem man in ein Gespräch kommt, wird diese Person jedoch bald zu einem Teilphänomen unter all den anderen Details, die man während eines Gesprächs wahrnimmt. Selbst die meisten Sätze eines solchen Gesprächs gehen unter in dem Strudel eigener Gedanken, der das Leben ausmacht und in dem von der äußeren Welt zugleich alles Mögliche und nichts wahrgenommen wird. Anders als der Star in einem Film ist das Aussehen eines Gesprächspartner nur winziger Bestandteil der in einem Gespräch erlebten Welt.
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Im Film ist diese darstellerfixierte Sehweise dagegen Teil des Wahrnehmungsprozesses: in jedem Film neu dressiert, ist sie Voraussetzung für das Verständnis seiner Raumzeit-Konstruktionen. Trotz ihrer offensichtlichen Widernatürlichkeit stellt die Entdeckung dieser filmspezifischen Sehweise und ihrer Konsequenzen eine enorme Leistung dar, die lohnt, sie zu verstehen, zu unterrichten und zu bewahren. Den Menschen - das habe ich aus der Physik gelernt - erschließen sich nicht jeden Tag neue Ordnungssysteme. Gerade in der modernen Physik wird oft versucht, schon abgeschmetterte Ideen in Bereichen, für die sie ursprünglich gar nicht gedacht waren, erneut auszuprobieren, manchmal bloß um zu sehen, ob die rechnerischen Konsequenzen in die Nähe der Messungen fallen. Selbst Irrtümer enthalten häufig vielversprechende logische Ansätze. Erstaunlicherweise scheint selbst die Zahl der menschlichen Irrtümer zu klein zu sein, um in allem befriedigende Interpretationen des Wirklichen zu liefern. Und das narrative System ist ein wirklich überraschendes Geschenk, von dem niemand bei der Erfindung der Photographie ahnen konnte, daß es überhaupt existierte. Nur ein paar Buch- und Wandmalereien und aus dem frühen Mittelalter stammende Mosaiken deuteten vage in die Richtung dessen, was da kommen konnte.
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Das Wandern des Auges, dem die van Goghsche Beschreibung seines letzten Bildes folgt, enthält eine Zeitkomponente, obwohl es in dem Bild selber gar keine Bewegung oder vergehende Zeit gibt. Die Beschreibung tastet sich vorwärts und dabei erschließt sich das Bild nur allmählich - obschon als Ganzes vorhanden, ist es als solches nicht wahrnehmbar, und insofern ähnelt diese Beschreibung tatsächlichem Etwas-Erkennen. Balzacs Konstruktion hat im Vergleich dazu eine weit größere Gerichtetheit. Zugleich ist sie sorgloser, und im Grunde überzeugt, daß auch eine schlechte Beschreibung beim Leser die Wirklichkeit entstehen läßt. Als wäre dies eine Selbstverständlichkeit. Dieses Vertrauen in die selbstverständliche Existenz der Wirklichkeit hat van Gogh nicht mehr, in ihm kündigt sich schon die Moderne an, in der violettes Laub und blaßgrüne Himmel als Wahrnehmungsparameter die gleiche Plausibilität annehmen wie die photorealistische Wiedergabe eines Geschehens.
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Während im realistischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts die abstrakte, vereinfachende Darstellung gleichzeitiger Vorgänge wegen der eindimensionalen Imperfektion der Sprache eine enorme Errungenschaft darstellte, ist ihre formale Übertragung auf Film leider auch ein Rückschritt. Denn Film besitzt im Prinzip ja schon die Fähigkeit der gleichzeitigen Abbildung. Vielleicht aber sind wir als Zuschauer von dieser Gleichzeitigkeit überfordert und sehnen uns nach einer Art Zeigefinger in ihrer Komplexität. Dieser Zeigefinger verwandelt die alogische Gleichzeitigkeit der Wirklichkeit in das logisch erscheinende Nacheinander des von der Literatur gelieferten Modells. So wird es uns möglich, Filme nach dem literarischen Code des neunzehnten Jahrhunderts herzustellen, zu betrachten, zu beschreiben und zu beurteilen. Ach, die lieben Inhaltsangaben! Daß wir auf diese Weise über nur am Rand Narratives wenig zu sagen wissen, kann nicht erstaunen. Aber das gilt auch für statische Bilder, bei deren Beschreibung sentimental narrative Geschwätzigkeit immer häufiger das Wahrnehmen und Empfinden zu ersetzen sich bemüht. Ich wünschte, auch bei der Betrachtung von bewegten Bildern wird man einmal so lapidar empfinden können:
Eine Bank und 3 Stühle eine Gestalt in Schwarz mit gelbem Hut und im Vordergrund eine schwarze Katze
Himmel grün blaß .
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G. EXKURS: DER STARRE BLICK UND DIE POLITIK
Da bei der besprochenen Rekonstruktion der Gleichzeitigkeit in Form der "realistischen" Konstruktion sehr häufig Blicke auftauchen, lohnt es sich, die im ersten Kapitel angerissene Untersuchung des starren Blicks noch einmal unter diesem Gesichtspunkt aufzunehmen. Zunächst aber sollten wir darauf hinweisen, daß im Film noch eine Verbesserung dieser Konstruktion die Regel ist, und zwar durch das zwanglose Wirken der rahmenden Totalen, für die sich freilich auch literarische Äquivalente finden lassen. Gehen wir zum Beispiel davon aus, daß x1 wie in dem folgenden Diagramm eine Totale ist, die wie in diesem Diagramm x2 mit der Person A und x3 mit der Person B enthält,
dann wird ein Kinofilm häufig folgende Schnittfigur enthalten:
x1 : x2 : x3 : x2 : x3 : ... : x2 : x3 : x1
das heißt nach dem Erscheinen einer Totalen x1 , in der wir A und B entdecken, wird an die Person A im Raum x2 herangeschnitten und dann wie in Balzacs Roman zwischen A im Raum x2 und B im Raum x3 hin und hergeschnitten, bis schließlich wieder die rahmende Totale x1 erscheint, welche die räumlichen Verhältnisse stabilisiert.
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Dem entspricht in der Literatur folgende Figur (wieder aus "Die Kleinbürger" S 276-278):
x1 = "Als sie in den Salon trat, sah sie den Abbé Gondrin im Mittelpunkt eines großen Kreises, den fast die ganze Gesellschaft um ihn gebildet hatte, und als sie sich ihm näherte, hörte sie, wie er sagte:
x2 = "Ich danke dem Himmel, daß er mir diese Freude hat zuteil werden lassen...."
x3 = Den Arm unter dem ihrer Patin, stand Celeste einige Schritte von dem Priester entfernt. An seinen Lippen hängend, so lange er redete, preßte sie Frau Thuilliers Arm und sagte....
dann eine Reihe von Dialogen und schließlich:
x1 = Nach diesen Worten nahm der Abbé seinen Hut und verließ den Salon.
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Wird dabei die Beziehung zwischen A und B oft durch sich gegenseitig wahrnehmende Blicke gestützt, bezeichnet man die Unterfigur
x2 : x3 : x2 : x3 : ... usw.
auch als "Schuß-Gegenschuß-Verfahren", gerade als würden A und B statt Blicken Revolverkugeln austauschen. Das Bedürfnis nach dieser zusätzlichen Stützung der räumlichen Beziehungen ist der Grund der Häufigkeit der Blicke vom Typ der zweiten Starrheit im narrativen System. Da diese Schnittfigur systematisch in amerikanischen Filmen entwickelt wurde und immer noch benutzt wird, könnte man eine solche Zerlegung der Totalen mit anschließender Blickstabilisierung der räumlichen Beziehungen zwischen den Untereinstellungen auch die "amerikanische" Zerlegung der Wirklichkeit nennen.
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In einem interessanten Sinne vertritt der Politiker in einer repräsentativen Demokratie - der "representative" - ebenso eine Meinung, wie die repräsentative Einstellung einen Raum. Er wird dafür ins Parlament gewählt wie die Einstellung in einen Film. Im Blick eines solchen Politikers ist eine andere Starrheit als bei Stalin, er wartet auf den Gegenblick, und ist damit auf eine interessante Weise Vertreter der von uns erwähnten zweiten Starrheit. Das Nacheinander von Meinung und Gegenmeinung in der repräsentativen Demokratie mit anschließender Abstimmung hat also ein beinahe äquivalent scheinendes Gegenstück im narrativen System: Blick, Gegenblick und verbindende Totale.
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Daher ist der ein wenig starre das Beobachten ertragende Blick auch Kennzeichen einer offenen Demokratie, in der man zu seinen Ansichten steht und sich bemüht, sie einigermaßen vernünftig zu halten. Während das Warten auf den Gegenblick Ausdruck einer Sehnsucht ist, daß auch jemand anderes das als vernünftig einschätzt, was man sich als Ansicht abgerungen hat. Das Nacheinander ersetzt das Durcheinander gleichzeitiger Meinungen. Durch die Zerstörung der Gleichzeitigkeit und ihre Verwandlung in Nachzeitigkeit läßt sich interessanterweise das Feld der Meinungen besser aufspannen als durch direkte Darstellungen der Gleichzeitigkeit. Denn da es den Gegenblick gibt und mit ihm die entgegengesetzte Meinung, kann jeder Protagonist oder Politiker wagen, seine Meinungen extremer zu äußern, ohne Angst haben zu müssen, daß das Ganze aus dem Gleichgewicht gerät - man kann also verantwortungslos tun, ohne im Inneren verantwortungslos sein zu müssen. Vertritt jemand eine extremere Meinung, als er sie im Inneren für richtig hält, kann er darauf hoffen, daß sie durch eine Gegenmeinung korrigiert wird. Die Leidenschaft des Voyeurs dagegen, der einer Totalen gegenübersteht, ist maßlos, er gleicht einem Diktator, der die Totale beherrscht; auch in diesem Sinn kann man eigenartiger Weise das Wort totalitär begreifen.
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Insofern wäre dieser Montageform auch ein Ausdruck wie "rhetorische" Montage angemessen. Tatsächlich lassen sich manche Passagen aus Ciceros "orator", die auf die Gestentechnik des Redners gemünzt sind, leicht modifiziert ebensogut auf Darsteller, die sich in einem Schuß-Gegenschußverfahren gegenüberstehen anwenden: zuerst ist bei Cicero von der Stimmführung nach Lautstärke und Tonhöhe (vox), dann von den Ausdrucksgebärden, gegliedert nach Haltung (gestus) und Bewegung (motus) die Rede, wobei Ziel des gestus Sicherheit der Haltung und Bewegung von Rumpf und Gliedmaßen sind; mit den Kriterien: maßvolle Würde, Vermeidung zappeliger, affektierter Clownerien, Berechnung bis in die Fingerspitzen hinein (argutiae digitorum), Hervorhebung des Rhythmus durch Pochen mit den Fingerknöcheln aufs Pult. In diesem Zusammenhang findet sich auch die wichtige Regel: "In der Haltung: aufrechter Stand und Erhobenheit; seltene und nicht ausschweifende Schrittbewegungen...; keine koketten Nackenverdrehungen... Eher soll man mit dem ganzen Rumpf sich selbst ein Maß setzen und durch mannhafte leichte Beugung der Flanken, in der Erregung die Arme recken, sie wieder zurückholen in der Entspannung. Im Mienenspiel, das nächst der Stimme am meisten auszudrücken vermag, mögen Würde und Güte möglichst abwechselnd in Erscheinung treten. (Orator 59,f)
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Überhaupt ist unter den bekannten sprachlichen Ordnungssystemen die Rhetorik dem narrativen System vielleicht am meisten verschwägert. In Quintilians berühmter umfassender Darstellung der Redekunst würde heute auch auftauchen, wie Schnittrhythmus und durch ihn optimal zur Geltung gebrachte Körpersprache die Darlegung von Argumenten unwiderstehlich machen. Von da ausgehend könnte man viele Teile des narrativen Systems eher eine der üblichen Sprache aufgesetzte Rhetorik nennen als eine eigene Sprache, denn daß sie eine solche nicht ist, haben wir ja bereits einsehen müssen.
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Wenn x1 wieder eine Totale ist und x2 ein A enthaltender Ausschnitt wie in dem folgenden Diagramm,
dann wäre folgende Schnittfigur wichtigster Bestandteil der Ästhetik des Voyeurs:
x1 : x2 : x1 : x2 : ? usw.
das heißt die erzählerische Spannung zehrt vor allem aus der Spannung zwischen Totale und Detail. Das ähnelt der pornographischen Situation, in welcher der Geschlechtsakt vollzogen wird. Dann macht die "amerikanische" Zerlegung nämlich keinen rechten Sinn mehr, weil die Protagonisten mit anderen Sachen beschäftigt sind als dem Sich-gegenseitig-Anblicken, und daher bleibt pornographischen Filmen am Ziel ihrer Handlungsführung nichts übrig als dauernd zwischen der Totalen und den Details zu wechseln. Insofern könnte man diese Schnittfigur mit gutem Recht "pornographisch" nennen, wir ziehen aber die neutralere Benennung "voyeuristisch" vor.
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Von einer voyeuristischen Montage könnte man auch dann sprechen, wenn folgende Situation vorliegt:
wenn also in den Unterausschnitten x2 und x3 der Totalen x1 keine Darsteller auftauchen, die durch Blicke oder ähnliches einen Bezug zueinander herzustellen versuchen. Dann wird in der Schnittfigur
x1 : x2 : x3 : x1
der Schnitt x2 : x3 ausschließlich durch die vorherige Einbettung beider Einstellung in die Totale x1 begriffen, das heißt von der im vorigen Abschnitt besprochenen voyeuristischen Grundstruktur.
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Diese Entsprechung der Worte "total" und "totalitär" ist gewiß zufällig, obwohl seltsam anmutet, wie sehr sich zahlreiche deutsche Fernsehregisseure gegen die systematische Zerlegung der Totalen in Parallelmontagen sträuben, obwohl sie den Erfolg wahrnehmen, den amerikanische Serien mit diesem Verfahren haben. Tatsächlich hatten auch die Ostblockstaaten Probleme mit der amerikanischen Zerlegung, ich weiß nicht ob aus Unkenntnis, oder ob tatsächlich irgendeine politische Grundüberzeugung dahinter stand. Die Zerlegung der Totalen
nimmt dann häufig folgende Form an:
x1 : x2 : x1 : x3 : x1 : x2 : x1 : ... usw. oder x1 : x2 : x1 : x2 : x1 : x3 : x1 : ... usw.
das heißt A und B werden, wenn sie sich anblicken, nicht direkt aneinandergeschnitten, sondern es wird gern die verbindenden Totale zwischengeschaltet. Da wir die systematische Aufeinanderfolge von Ransprung mit darauffolgendem Rücksprung schon aus der "voyeuristischen" Zerlegung kennen, könnte man diese Schnittfiguren als "halbvoyeuristisch" oder "halbamerikanisch" bezeichnen.
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Viele intelligente Filmmacher lehnen die "amerikanische" Zerlegung als zu plump ab, und arbeiten lieber halbamerikanisch oder voyeuristisch mit der dominierenden Totalen. Vielleicht ist ihnen das demokratische Wechselspiel von Meinung und Gegenmeinung und der Kompromiß, der sich in der verbindenden Totalen äußert, ja doch nicht in Fleisch und Blut übergegangen und so füllen sie die Totale mit all den Details und Requisiten ihrer Autorenherrlichkeit und glauben sie als Regisseure zu beherrschen wie Stalin die Sowjetunion.
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In diesem Sinne ist vielleicht nicht Walt Whitman der Sänger der amerikanischen Demokratie sondern das Hollywoodkino, das den Raum beschreibt, den die Demokratie sich verschafft. Eigentlich sind ja die Meinungsträger in Amerika auch in ihren politischen Ansichten an so etwas wie den starren Blick gebunden; es ist schon schwer, nicht darüber zu lachen, wie die gleichen Politiker über die Jahre die gleichen Meinungen vertreten, als würde sich in ihnen nichts ändern, es scheint eine Starre der Gedanken zu verraten: einmal liberal - immer liberal, und vorhersehbar in allen neuen Bereichen. Aber dies ist nicht lächerlich, denn tatsächlich hat jeder dieser Meinungsträger Opponenten, und zwischen ihnen spannt sich der Raum auf, in dem die Individuen ihre Freiheit sich bewahren können - nur in diesem Zwischenraum können Whitman oder Charles Olson von der Demokratie singen, sie mit ihrem Leben füllen und so am Implodieren hindern.
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Heute freilich wollen erfolgreiche Politiker so verantwortungslos wie schlechte Künstler leben (während schlechte Künstler verantwortungslose Politiker zu sein versuchen), und wer dann einen aufrecht und überanständig klingenden politischen Raum aufspannt, muß sich schon gefallen lassen, daß seine Haltung und seine Vergangenheit genauer untersucht wird. Kein Wunder, daß es zu den unsäglichen Verleumdungen im Privatbereich kommt, mit denen uns die Medien füttern. Starrer Blick und differenzierte Persönlichkeit wollen aus irgendeinem Grund nicht recht zusammenpassen.
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So weit, so gut. Das Spiel von Meinung und Gegenmeinung in der Demokratie enthält aber a priori auch den Zuschauer. Seltsamerweise entsteht bei Zuhörern einer Diskussion das Bedürfnis nach Parteinahme. Das führt dazu, daß man bei der Beobachtung zweier Argumentierender in beinahe einer Art Reflex vermutet, die Wahrheit befände sich irgendwo zwischen den beiden, und dieser Ort wäre der für das eigene Engagement angemessene. Dabei sind derartige Auseinandersetzungen nicht selten erbitterte Kämpfe zwischen zwei Irrenden - in diesem Falle gäbe es zwischen ihnen natürlich keinen Ort der Wahrheit und damit auch keinen solchen für den Zuschauer. Interessant ist aber nun, daß sich ihrer beider Ansichten auch im Irrtumsfalle gegenseitig stabilisieren und den Ort der Wahrheit zwischen sich zu schieben verstehen. Und das ist der Punkt, an dem es schwierig wird: bei der ganz demokratisch funktionierenden Fähigkeit zweier Irrer, ganze Gesellschaften durch eine heftige politische Auseinandersetzung in die Irre zu führen.
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Eine der Hauptursachen der Häufigkeit des starren Blicks ist aber auch schlicht sein gutes Funktionieren. In der Zuverlässigkeit seiner Wirkung ähnelt er der Kadenz in der Musik, die darum ja auch so häufig benutzt wird. Immer neue Generationen von Filmmachern produzieren ihn zu Beginn ihrer Laufbahn in seiner plumpesten Form immer wieder aufs neue. Sie erkennen in ihm eine funktionierende Resonanz und sind auf sie bis zur Beherrschung raffinierterer Formen angewiesen wie Amateurmusiker auf immer die gleichen Akkordfolgen. Er ist darum, auch wenn man es wollte, nicht ausrottbar.
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Interessanterweise paart sich diese zu Starrheit neigende Anfängerästhetik angenehm mit dem Menschenbild totalitärer Gesellschaften, weil mit ihr zu einem differenzierteren, mit dem Totalitarismus unvereinbaren Menschenbild, erst gar nicht durchgedrungen wird. Gerade in totalitären Gesellschaften wird der Mensch als starres Wesen mit nur wenigen Grundbedürfnissen und mit einem peinlich starren Blick gesehen, in dessen Leere sich freilich die Hohlheit der für sie verantwortlichen Köpfe entdecken läßt.
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Im Leben ist der deutlich wahrgenommene lang anhaltende Blick geradezu bedeutungslos - außer vielleicht im Kindesalter. An die Blicke aus meiner Kindheit kann ich mich freilich nicht mehr erinnern. Was ich zu erinnern glaube, kann auch aus Filmen stammen, die Kindheitssituationen nach dem Modell des starren Blicks simulierten. Bedeutung im Leben hat vor allem der zwar verstohlene, aber dennoch wahrgenommene Blick. Seine Interpretation beschäftigt die Menschen ausgiebig. Der Haken an ihm ist, daß er zwar nicht selten, aber doch wiederum nicht so häufig ist, daß man auf ihm eine Filmform aufbauen könnte.
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Daher braucht man im Film eine Reihe nichtssagender halbstarrer Blicke, um den einzigen unterbringen zu können, der Bedeutung hat. Dabei kommt es zu erstaunlichen schauspielerischen Leistungen wie etwa der von Ingrid Bergman am Anfang von "Notorious", die das Starre mit einer Leichtigkeit überspielt, die einen, wenn man dies erkennt, fast weinen läßt. Diese Leichtigkeit ist freilich nur leicht gemessen an der Starrheit, die Film ansonsten innewohnt, sie umspielt diese Starrheit und hat mit der Leichtigkeit des Lebens eigentlich doch gar nichts zu tun. Tatsächlich spielt sie mit der von uns so genannten zweiten Starrheit, in der sich die Freiheit verkörpert - zu ihr gehören Paare, die mit der narrativen Form ja viel inniger verwoben sind, als die Einzelperson.
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Trotz der relativen Belanglosigkeit des deutlichen Blicks im privaten Leben, gehört es ohne Zweifel zu den menschlichen Grundbedürfnissen, angeblickt zu werden. Dieses Bedürfnis ist wahrscheinlich wichtiger als Sexualität und kommt gleich hinter dem nach Essen und Trinken. Interessanterweise aber gibt es im Kino den frontalen Blick, bei dem man sich angeblickt fühlt, sehr selten, meistens geht der Blick ein wenig an der Kamera vorbei. Dagegen sehen wir häufig jemanden, der jemanden anderen anblickt - und jemanden anzusehen, der jemanden anderen anblickt, gehört eigentlich nicht mehr zu den elementaren menschlichen Grundbedürfnissen, eher schon zu den Perversionen. Darum haben politische Führer im Zeitalter des Fernsehens gelernt, direkt in die Kamera zu blicken und das Publikum direkt anzusprechen und den Raum zwischen ihnen und uns auszuschalten. Diese Starrheit ist interessanterweise unglaublich intolerant gegenüber Abweichungen: ein einziger, versehentlicher Seitenblick auf eine nicht im Bild sichtbare Person (wie den Tonmann) entlarvt den Blick in die Kamera als das was er wirklich ist: als bodenlos schamlosen Betrug.
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Das Einander-in-die-Augen-Schauen-Können, von dem die römischen Historiker glaubten, es wäre den Menschen abhanden gekommen, was sie für den Grund des Zerfalls ihrer Republik in den Bürgerkriegen hielten, ist ihrer Kultur in den Bürgerkriegen tatsächlich abhanden gekommen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt haben die Menschen etwas zu verbergen. Dies ist aber nicht nur ein Verlust, es ist auch ein Gewinn, denn damals wurde in einem paradoxen Prozeß gleichzeitig die Individualität erkämpft. Ein Individuum ist nur frei, wenn es die Freiheit hat, etwas zu verbergen. Daher die Liebe der Machthaber in totalitären Gesellschaften für den starren, offen tuenden Blick, weil der Skandal der Millionen Toten, die man wirklich verbergen muß, kaschiert werden soll. Dennoch aber hat man auch in demokratischen Gesellschaften den Eindruck, daß dieses Einander-in-die-Augen-Schauen-Können als Traum von der gesunden Basis eines Zusammenlebens und eines Staatswesens noch immer existiert. Wenn ich heute jemandem in die Augen schauen möchte und merke, daß ich mich dazu wie ein Schauspieler verstellen muß, bin ich nicht stolz darauf.
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Haben die Menschen etwas zu verbergen? - naturgemäß kann man es von ihnen nicht erfahren. Was könnte es sein? Es gibt eine Art Vereinbarung zwischen uns, die besagt, daß man darüber nur vage spricht. Und obwohl wir das alle wissen, gilt uns immer noch der, von dem klar wird oder der zugibt, etwas verbergen zu haben, als gefährlich und potentieller Verbrecher. Darauf basieren wohl die Maskierungen der Handelnden in parlamentarischen Demokratien, darauf basiert das Überanständige, dem wir in ihnen bis zum Übelwerden begegnen - auch eine der Wurzeln für unser gedankenloses Akzeptieren der zweiten Starre. Genau dieser unausgesprochene Verdacht des Etwas-zu-Verbergen-Habens, der sich auf alle erstreckt, vielleicht sogar genetisch verankert ist, ist tatsächlich ein Grund, etwas zu verbergen.
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Denn wenn die Menschen wohl auch nicht klüger geworden sind, so haben sie doch ein größeres Bewußtsein von ihrer Komplexität bekommen. Und mit dem stellt sich die Frage nach der Normalität anders: Seltsamerweise bin ich mit mir nämlich nicht im reinen, ob ich jemanden jederzeit so einfach in die Augen schauen möchte. Es macht zum Beispiel wenig Sinn, jemandem, der daraus womöglich bloß einen Treppenstein seiner Karriere machen will, die Bereiche der eigenen Neurosen zu öffnen. Und ich erwarte auch nicht, daß Personen, mit denen ich umgehe, mir ihr Innerstes und ihre Unzulänglichkeiten offenbaren. Dem undurchsichtigen jederzeit gehaltenen Blick der Verstellung, der von all dem nichts verrät, ziehe ich den scheuen Blick fast jederzeit vor. Mir fällt nicht schwer, mit der bloßen Oberfläche von Personen umzugehen und einem gelegentlichen Blick in ihre Tiefe. Um diesen tiefgehenden Blick immer ertragen zu können, muß man mehr sein als Gott. Oder blind sein - für sich und die anderen. Im übrigen wäre eine Welt, die es einem jedem zu jeder Zeit ermöglicht, jedermann in die Augen zu blicken, vermutlich sowohl gewalttätig als auch langweilig.
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Ein "richtiges" Menschenbild hat fraglos etwas mit der Definition von Normalität zu tun. Tatsächlich ist der Kampf um diese Definition einer der wichtigsten Bestandteile der Demokratie. Merkwürdigerweise kommen sich die meisten Menschen wohl im wesentlichen normal vor, obgleich viele von ihnen zugleich denken, der Rest der Welt bestehe nur noch aus Verrückten. Da das Menschenbild einer Staatsform die Art beeinflußt, in der die ihm Unterworfenen blicken oder zu blicken haben, kann bei der Wichtigkeit der Blicke im narrativen System vermutet werden, daß seine Struktur in deutlicher Wechselwirkung mit diesem Menschenbild steht.
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Habe ich etwas zu verbergen? Seltsamerweise weiß ich es nicht. An sich nicht, würde ich sagen, und doch gibt es Bereiche, die ich nur zögernd jemandem anderen öffne, manche sogar die meiste Zeit nicht einmal mir selbst. Viele davon haben mit Scham zu tun, zum Beispiel darüber, daß man sich nicht einwandfrei verhalten hat oder es nicht kann, auf öffentlich-moralischen, auf sexuellem Terrain. Und es gibt Scham über das eigene Versagen, das zu Beschädigung der Innenstruktur führt, die ich anderen Menschen lieber nicht aufbinden möchte - aus Eigennutz, auch um nicht unnötig zu entmutigen, denn schließlich sind meine Probleme meine eigenen. Und ich möchte bei der Begegnung mit anderen die Scham auch in ihnen nicht dauernd erkennen müssen.
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Wir erwarten vom Kino zwar, daß es unsere Vorstellung vom Menschen erweitert, gleichzeitig aber doch auch, daß es unser eigenes Menschenbild stützt, das, was wir für normal halten. Die zahllosen Happy-Ends im Kino und die Befriedigung, die man bei ihrem Betrachten empfindet, sind schließlich nicht Resultat einer bösartigen Verschwörung. Während wir selbst uns meist für einigermaßen normal halten, ist die Frage nach der Normalität der anderen allerdings nicht so leicht zu beantworten. Gewöhnlich wird dazu die Gaussche Glockenkurve zu Hilfe gerufen, gemäß der es für jede menschliche Eigenschaft so etwas wie einen gehäuft auftretenden statistischen Durchschnitt gibt, und Abweichungen nach dem Maß ihrer Größe immer seltener werden. In diesem Sinne verfügt jeder einzelne Parameter über einen erheblichen Bestand normaler und durchschnittlich veranlagter Menschen. Schwieriger wird es, wenn zwei Faktoren gleichzeitig normal sein sollen, dann wird ein durchschnittlich Großer schon mit grünen Augen leicht abnormal. Dies häuft sich bei jedem weiteren zusätzlichen Merkmal, das einzeln für sich einer sauberen statistische Verteilung unterliegt. Man kann leicht ausrechnen, daß es bei 27 Merkmalen wie beim Lotto unter hundert Millionen Teilnehmern nur noch einen Gewinner in der Durchschnittslotterie gibt. Bei 33 Merkmalen in der gesamten Erdbevölkerung - wenn nämlich jeweils die Hälfte der Bevölkerung das Durchschnittsmerkmal haben, nimmt bei jedem weiteren Faktor die Zahl der Durchschnittlichen um die Hälfte ab. Praktisch bedeutet das, daß gerade bei halbwegs durchschnittlich erscheinenden Menschen mit geradezu mathematischer Sicherheit ein wahrer Abgrund an verborgenen Perversionen zu erwarten ist.
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Das läßt Musils Satz vom erwarteten Sieg des Durchschnittsmenschen in einem anderen Licht erscheinen. Da sich auch der sogenannte Durchschnittsmensch immer mehr ausdifferenziert, hat die Vision von seinem Sieg an Schrecken verloren - der Durchschnittsmensch ist selbst hochgradig neurotischer Einzelfall. Kracauers romantische Vorstellung vom kleinen Ladenmädchen ist wohl bloß der Versuch, bei anderen eine Durchschnittlichkeit herzustellen, die man bei sich selbst - vielleicht leider - nicht mehr entdecken kann. Das könnte freilich bedeuten, daß die berühmten Abgründe in den Existenzen, die man ihrer Oberfläche nicht ansehen kann, absolut normal sind und im Grunde nicht ausreichen, eine Geschichte in Gang zu setzen.
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Nun ist die Leinwand Begegnungsstätte vor allem normaler Menschen. Da heißt es nämlich nicht nur, normal zu sein, sondern man muß auch anderen normalen Menschen begegnen. Die Ausarbeitung der Details und der Konsequenzen für die Plausibilität der Ereignisse in einem Spielfilm überlassen "wir" - wie Bourbaki - den Lesern. Wahrscheinlich ist auch das ein Grund für das Auftauchen so vieler Psychopathen im Kino. Soviel der Beitrag der statistischen Mechanik zu den Problemen der Kinointeraktionen unter überoptimistischen Annahmen.
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Ob der amerikanische Präsident gut beraten ist, wenn er sich alle Naslang mit direktem Blick an seine Bevölkerung wendet und sich damit dem Erscheinungsbild von Sportreportern oder Waschmaschinen-Verkäufern aus Fernsehspots annähert, die auch in die Kamera blicken und das Publikum direkt adressieren? Ich weiß es nicht - mir scheint aber der öffentliche Raum, der durch eine Pressekonferenz aufgespannt wird, effektiver. Im Grunde bedeutet der direkte Blick in die Kamera bei einem Politiker doch bloß, daß er spürt, daß der öffentlich aufgespannte Raum, in dem sich Meinungen ausbalancieren müssen, nicht ganz in seinem Sinne funktioniert, und er deshalb gern zu weniger demokratischem Regieren übergehen würde.
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Bevor wir also den starren Blick vorschnell als verabscheuungswürdig disqualifizieren, wollen wir erst einmal untersuchen und beschreiben, was mit ihm zustandegebracht wurde, und wieviel an gesundem Menschenverstand in ihm und dem narrativen System steckt. Denn wie Lincoln gesagt haben soll: "You can't fool all of them all the time." Daher wollen wir den starren Blick relativ neutral einfach mal als gegeben voraussetzen, und das narrative System erst an den ihn betreffenden Stellen daraufhin untersuchen, ob er überhaupt nötig ist und was er eigentlich anrichtet.
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Gibt es blicklose Filmformen? Und was eigentlich bedeutet Heldenlosigkeit für Filme?
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Zum Schluß noch etwas zu der erwähnten dritten Starre im narrativen System: Die Vergangenheit scheint gegenüber menschlichen Manipulationen etwas robuster zu sein als die Gegenwart. Schrödingers berühmte Katze ist wirklich tot, wenn sie einmal als tot erkannt worden ist - tot jedenfalls in dem Sinn, daß sie keine Mäuse mehr fressen wird. Vom Moment ihres Todes an kann man ihr vergangenes Leben als eine Kette von miteinander zusammenhängenden Ereignissen in zusammenhängenden Räumen darstellen, und - gewissermaßen in nachgestellter Echtzeit - hoffen, daß dieses Bild mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Von diesem Moment an kann man ihr Leben "konventionell" verfilmen. Dann werden bestimmte Phasen des Innehaltens Metaphern für all die Gedankengänge und Möglichkeiten, die jedem Moment innewohnten: das ist Ursache dieser dritten Starre. Sie enthält all die Momente dessen, was sich hätte ereignen können, sich aber nicht ereignet hat.
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Dies hängt zusammen mit einem merkwürdigen Mischzustand des narrativen Systems: einerseits scheinen die Personen auf der Leinwand gegenwärtig zu sein, sie sprechen in der Gegenwart, andererseits weiß man, daß der Film ein Ende hat, ganz physisch. Es ist also eine bereits aufgerollte Vergangenheit, die eine Einbindung in physikalische Räume ermöglicht.
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Erstaunlicherweise kann Schrödingers Katze, selbst wenn sie einmal als tot wahrgenommen und damit also auch im quantenmechanischen Sinne tot ist, im Bewußtsein eines Betrachters, der sie einmal lebendig gesehen hat, noch sehr lebendig und auch nach ihrem Tod Anlaß einer Kausalitätskette sein, welche die Wirklichkeit verändert. Für diese Art von Wirklichkeit, die mit Erinnerung, dem freien Willen und menschlicher Gestaltungsfähigkeit zusammenhängt und seinen unbewußten Konstituenten, haben die Physiker noch nicht den Hauch einer Formulierung entwickelt. Tatsächlich ist genau dies das Thema vieler Erzählungen, und - natürlich - der Psychoanalyse.
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In erlebter Gegenwart hat ein Objekt nicht nur eine Geschichte. Tatsächlich besteht es im Moment der Wahrnehmung gewissermaßen aus allen Geschichten, die in Zusammenhang mit ihm möglich sind - dementsprechend verhalten sich die Menschen auch. Jeder von uns kennt den geheimnisvollen Fremden, dessen Erscheinung uns fasziniert, während wir uns mit ihm in einem Raum befinden. Da man bei einem Drehbuch das Ende kennt, verhält sich ein Schauspieler in einem Film anders: er kennt die Geschichte, der er zu folgen hat, seine Geschichte, und bewegt sich zielstrebig auf ihr Ende zu. Was immer er tut, hat eine Funktion im Rahmen dieser einen Geschichte - das ist die Ursache der dritten Starrheit.
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Es hat keinen Sinn, sich stets auf eine objektive Wirklichkeit zu berufen, weil wir - das kann man, glaube ich, heute in dieser Schärfe sagen - kein modellunabhängiges Konzept der Wirklichkeit besitzen. Und in diesem Sinne ist Erzählung zunächst einmal ein ebenso taugliches Modell zu ihrer Beschreibung wie die Quantentheorie. Problematisch ist dabei nicht so sehr die Existenz mehrerer Modelle zur Beschreibung der Wirklichkeit, sondern eher das Erkennen der Grenzen dieser verschiedenen Modelle, damit man sie nicht in Bereichen operieren läßt, in denen sie nicht mehr funktionieren.
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Wir wollen zum Schluß dieser Einführung die Mannigfaltigkeit der Schnittformen noch schnell analytisch zerlegen, um einen Eindruck der Richtung und Reichweite der nun folgenden eigentlichen Arbeit zu geben.
Wir beschränken uns auf repräsentative Einstellungen und bezeichnen als Film eine Folge solcher repräsentativer Einstellungen.
Als erstes (wie aus dem Übersichtsdiagramm auf der übernächsten Seite ersichtlich) zerlegen wir die Schnitte in Raumerweiternde Schnitte, Raumbenutzende Schnitte und Exoten. Wir nennen einen Schnitt auf eine neue Einstellung raumerweiternd, wenn uns der Raum der neuen Einstellung in dem Filmteil, den wir bis dahin gesehen haben, weder ganz noch zum Teil begegnet ist, wenn es sich also bei dem Raum der neuen Einstellung um einen für den Film ganz neuen Raum handelt. Raumbenutzend dagegen nennen wir Schnitte, in denen der Raum auf den geschnitten wird oder zumindest Teile davon, an der Schnittstelle schon bekannt sind. Diese Zerlegung ist vollständig, was heißt, daß es keinen anderen geben kann.
Dennoch ziehen wir, ohne die Vollständigkeit der Zerlegung zu verletzen, von beiden ein paar Sonderfälle ab und nennen sie Exoten. Unter die ordnen wir Schnitte in Rückblenden oder parallele Welten ein, Schnitte in Träume und innerhalb von Träumen, Schnitte in Visionen oder innerhalb von Visionen und generell Schnitte in assoziative Bildwelten oder innerhalb solcher, mit anderen Worten alles, was im konventionellen narrativen Bereich nicht ganz geheuer ist und mit Verletzungen der Kausalität zu tun hat.
Die raumerweiternden Schnitte nun zerlegen wir in linear raumerweiternde und nicht linear raumerweiternde Schnitte. Als linear verstehen wir dabei raumerweiternde Schnitte, wenn wir in der neu auftauchenden Einstellung Bewegungsträger wiedererkennen können, die wir schon vorher im Film gesehen haben. In diesem Falle nennen wir die neue Einstellung auch durch einen linearen Prozeß mit dem bisherigen Film verbunden. Gibt es eine solche Verbindung dagegen nicht, taucht also kein bis dahin bekannter Darsteller oder Bewegungsträger in der neuen, bisher unbekannten Einstellung auf, nennen wir den Schnitt nichtlinear raumerweiternd. Diese Zerlegung der raumerweiternden Schnitte ist wieder vollständig.
Die linearen raumerweiternden Schnitte wiederum zerlegen wir in solche, bei denen der lineare Prozeß in die neue Einstellung aus der unmittelbar hervorgehenden erfolgt und solche, bei denen das nicht der Fall ist. Die ersten nennen wir einfach linear, die anderen verzögert oder retardiert linear, weil wir bei ihnen den Darsteller der neuen zuletzt in einer Einstellung gesehen haben, die schon einige Zeit zurückliegt. Auch diese Zerlegung ist vollständig.
Durch einen Trick ordnen wir auch die Blicke in die Kategorie der einfachen linearen Schnitte ein, indem wir ihnen virtuelle Bewegungsträger zuordnen. Die kann man beim Erscheinen der neuen Einstellung zwar nicht sehen, man kann aber ihre Wirkung beobachten: wenn jemand in der neuen Einstellung von ihr getroffen wird, blickt er in die Richtung zurück, aus der sie gekommen sind.
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Bei den nichtlinearen raumerweiternden Schnitten handelt es sich um Schnitte in Räume und zu Personen, die wir an der Schnittstelle noch nicht kennen und die erst später an das eigentliche Handlungsgefüge angeschlossen werden. Diese Schnitte sind sehr schwer allgemein zu beschreiben, da sie ein Erfassen der ganzen Filmform voraussetzen, von der sie wiederum ein Teil sein können. Sie tauchen auf, wenn Parallelhandlungen eingeführt werden sollen, die später in einem Konflikt oder einer friedlicheren Begegnung mit der ursprünglichen Handlung zusammengeführt werden. Manchmal, das ist allerdings sehr selten, werden solche Stränge auch gar nicht zusammengeführt, dann bleiben sie nach dem Muster von Griffiths "Intolerance" getrennt. Solche Schnitte sind formal sehr schwer zu beschreiben, gehören aber vom Gesichtspunkt dessen, was im Kopf des Zuschauers stattfindet, zum Interessantesten, was das narrative System zu bieten hat.
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Von diesen nichtlinearen raumerweiternden Schnitten nennen wir solche, die nicht der Raumerweiterung in dem Sinne dienen, daß sie den Raum für ein neues Handlungsgefüge öffnen, atmosphärisch, während wir die anderen offen nennen. Damit haben wir wieder eine vollständige Zerlegung. Atmosphärische Schnitte bilden einen Randbereich des narrativen Systems. Wenn sie in Clustern auftauchen haben sie oft bestimmte Bedeutungen. Die einzelnen Einstellungen eines atmosphärischen Clusters nennen wir atmosphärische Einstellungen. Der Unterschied zu den repräsentativen Einstellungen besteht im wesentlichen wohl darin, daß bei atmosphärischen Einstellungen nicht mehr so sehr innerhalb des Einstellungsraumes erzählt wird als vielmehr mit ihm. Wir werden an den betreffenden Stellen dieser Arbeit Ortscluster, Reisecluster, Ereigniscluster und freie Cluster näher untersuchen. im übrigen gibt es zwischen den atmosphärischen Schnitten und den Exoten einen fließenden Übergang.
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Die raumbenutzenden Schnitte nennen wir auch Rückschnitte. Das soll andeuten, daß man in einen Raum, der durch einen raumerweiternden Schnitt in das Handlungsgefüge eingebaut worden ist, jederzeit wieder zurückkehren kann, ohne jedes Mal Angst haben zu müssen, daß der Zuschauer die Orientierung verliert. Als überlappend bezeichnen wir raumbenutzende Schnitte, wenn der Bildraum der neuen Einstellung mit dem der vorigen überlappt. Bei den überlappenden Schnitten kommt es also zu Sprüngen innerhalb des Bildraums: der Ransprung von der Totalen in die Naheinstellung gehört ebenso dazu wie der Rücksprung von der Naheinstellung zurück in die Totale und die (unter Umständen gleichzeitig damit stattfindenden) Perspektivwechsel, Drehungen und Maßstabsveränderungen des gezeigten Koordinatensystems also.
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Als direkt oder auch direkt linear bezeichnen wir überlappende Schnitte, wenn sie linear in einem Bewegungsträger sind, wenn man in beiden Einstellungen also denselben Bewegungsträger sieht. Taucht bei ihnen ein zuletzt in einer früheren Einstellung gesehener Bewegungsträger auf, nennen wir ihn retardiert linear. Taucht dagegen dabei nur ein bisher unbekannter oder gar kein Bewegungsträger auf, nennen wir den überlappenden Schnitt nichtlinear. Wirken nichtlineare überlappende Schnitte vor allem atmosphärisch (wenn zum Beispiel aus einer Totale auf eine brennende Kerze geschnitten wird), bezeichnen wir sie als atmosphärisch überlappend. Nichtatmosphärisch überlappende nichtlineare Schnitte dagegen bezeichnen wir auch als offene überlappende Schnitte.
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Raumbenutzende Schnitte dagegen, bei denen sich die Räume zweier aufeinanderfolgender Einstellungen nicht überlappen, nennen wir disjunkte oder auch eigentliche Rückschnitte. Bei ihnen handelt es sich um Schnitte in einen Bildraum, den wir ganz oder als Teil schon vor einiger Zeit im Film gesehen haben. Dabei unterscheiden wir wie bei den raumerweiternden Schnitten lineare und nichtlineare, je nachdem ob uns ein Darsteller aus den neuen Einstellung schon aus dem bisher schon gesehenen Filmteils bekannt ist oder nicht. Die linearen Rückschnitte zerlegen sich in einfach und retardiert lineare, je nachdem ob uns der Bewegungsträger in der vorigen oder aus einer weiter zurückliegenden Einstellung zuletzt vor Augen getreten ist.
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Eine Unterklasse der retardiert linearen Rückschnitte besteht aus solchen, bei denen sich beim Wiederauftauchen der bekannten Einstellung in ihr noch immer ein Bewegungsträger befindet, den wir beim letzten Auftauchen gesehen haben. Solche Schnitte nennen wir direkte Rückschnitte und ziehen sie von der Menge der retardiert linearen Rückschnitte ab. Bei direkten Rückschnitten und direkten überlappenden Schnitten wird im Gegensatz zu anderen linearen oder retardiert linearen Schnitten die Linearität in einem Bewegungsträger nicht dazu benutzt, den Raum der neuen Einstellung mit dem einer vorherigen zu verknüpfen, es handelt sich vielmehr um eine Verknüpfung eines Raums mit sich selbst.
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Von den nichtlineare Rückschnitten ziehen wir solche ab, in denen der schon bekannte Raum nur noch atmosphärisch oder aus ihm ein atmosphärisches Detail benutzt wird (z.B. Blumen als plötzlich wieder auftauchendes Detail, das keine Raumfunktion mehr hat). Diese Schnitte bezeichnen wir als atmosphärische Rückschnitte, die anderen nennen wir offene Rückschnitte.
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Diese Zerlegung ist wieder vollständig. Von besonderem Interesse sind dabei die direkten überlappenden Schnitte, die erwähnten Sprünge in die Nahaufnahme also und die Rücksprünge in die Totale, wobei in beiden Einstellungen gleiche Personen zu sehen sind. Sie gehören zu den häufigsten Schnitten des narrativen Systems. Ebenso häufig und wichtig sind die linearen Rückschnitte, weil aus ihnen die Blickinteraktionen bestehen.
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Da alle Unterzerlegungen vollständig sind, ist auch die ganze Zerlegung vollständig, so daß es im narrativen System keinen Schnitt gibt, der von dieser Klassifizierung nicht erfaßt wird. Sollte doch mal etwas so Merkwürdiges auftauchen, daß wir nicht daran gedacht haben, fällt es ganz automatisch unter die atmosphärischen Schnitte oder die Exoten.
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Die linear oder nichtlinear raumerweiternden Schnitte sind raumerzeugend insofern, als sie die räumlichen Beziehung der neuen Einstellung zu mindestens einer aus dem bereits gesehenen Filmteil vermitteln. Die Rückschnitte (überlappende und eigentliche Rückschnitte also) sind raumbenutzend in dem Sinne, daß sie auf der mit raumerweiternden Schnitten erzeugten Raumkonstruktion arbeiten. Beide Schnittformen erzeugen ein vorwärtsorientiertes zeitliches Ordnungssystem. Die Struktur dieses Ordnungssystems ist abhängig von der Art des Austauschs der Bewegungsträger zwischen den einzelnen Einstellungen. Atmosphärische Einstellungen sind an dieser räumlichen und zeitlichen Konstruktion nur kontextuell beteiligt oder wenn sich aus ihnen - wie im schon erwähnten Beispiel der Tower Bridge - explizit ein raumzeitverschiebender Titel ergibt. Die Exoten dagegen sind verantwortlich für alle Risse in diesem in der Regel wohlgeordneten Gefüge.
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In diesem Vokabular haben die meisten narrativen Film eine ganz bestimmte Form. Auf eine Reihe von raumerweiternden Schnitten, die in einer Totale enden, folgt eine Zerlegung dieser Totalen in einer Serie von Rückschnitten, auf die wieder eine Reihe von raumerweiternden Schnitten zu einer neuen Totalen führt, die wiederum durch Rückschnitte zerlegt wird, usw. Ab und zu kehrt man auch durch einen Rückschnitt zu einer schon bekannten Totalen zurück, die dann erneut zerlegt wird. Unterbrochen wird diese Folge zerlegter Totalen, die mittels raumerweiternde oder Rückschnitte verbunden werden, nur durch gelegentliche atmosphärische Schnitte oder Exoten. Rückschnitte sind die in narrativen Filmen häufigste Schnittform. Filme, die dieser Rückschnittsdominanz nicht folgen, kommen so gut wie nie in die Kinos. Das heißt nicht, daß es immer so gewesen ist oder immer so sein wird.
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Bilden die raumerzeugenden Schnitte gewissermaßen das Rückgrat des narrativen Systems, so bilden die Rückschnitte Fleisch. Der Rückschnitt ist zugleich sein stärkster und schwächster Punkt. Der stärkste, weil durch seine systematische Anwendung das erzeugt wird, was man gemeinhin als filmische Spannung bezeichnet. Und sein schwächster und zugleich kritischer Punkt, weil sich in ihm am stärksten das offenbart, was man als das Postulat von der universellen Präsenz des Zuschauers bezeichnen kann, welches regelt, welche Teile des schon entfalteten Geschehens einem Zuschauer in jedem Moment angeboten werden und welche nicht. Dieses Prinzip werden wir als verantwortlich begreifen für den sich immer wieder ereignenden Zusammenbruch des narrativen Systems.
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Unter den vielen Rückschnitten sind die durch den gegenseitigen Blick zweier Darsteller generierten die häufigsten. Wenn man Filme von Spielfilmlänge durch einen Zeitrafferprozeß auf eine Minute reduziert, wobei jede Einstellung durch drei, vier Einzelbilder repräsentiert wird, drängt sich beim Sehen der Kurzfassungen der Eindruck auf, das Problem des narrativen Kinos bestehe darin, von einer Blickinteraktion zwischen zwei Personen zur nächsten zu gelangen. Narrative Filme sind Festivals ausgetauschter starrer Blicke.
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Die meisten bisher unternommenen Versuche, das narrative System zu beschreiben, gingen von einer Analyse der atmosphärischen Schnitte aus. Dabei wurde häufig von Eisenstein und Pudovkins Arbeiten extrapoliert und so getan, als wären die heutigen narrativen Filme immer noch auf ihren Prinzipien aufgebaut. Erstaunlich häufig übersah man, daß die bei Eisenstein und Pudovkin noch vitale Bedeutung des atmosphärischen Schnitts nach der Einführung des Tonfilms nahezu verschwunden ist. Das heutige narrative Kino enthält den atmosphärischen Schnitt bloß als Accessoire in seiner trivialsten Form, der raffiniertere Teil ist jetzt Teil der Exoten und soll uns dort den Mund wässrig machen.
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Die Ironie geht soweit, daß Eisensteins Stummfilme einem heutigen Publikum unverständlich erscheinen und nur noch dank eines Bemühens um Filmkultur gelegentlich zu sehen sind. Sie geraten dabei in eine seltsame Nähe zu Avantgardefilmen, die auch ihr Publikum nicht zu finden verstehen, weil sie sich - aus Prinzip - dem existierenden Erzählsystem nicht unterwerfen wollen.
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