K. Wyborny

COMÉDIE ARTISTIQUE
(AUS EINEM KÜNSTLERLEBEN)

Sechster Teil

ELEMENTARE SCHNITT-THEORIE

Band 4

VIERTER TEIL - AUSBLICK UND PERSPEKTIVE

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I.

 

WER IST EIGENTLICH DER ERZÄHLER IN EINEM NARRATIVEN FILM


(Textgrundlage eines im September 1990 an der Akademie der Künste Berlin gehaltenen Vortrages)

(im folgenden Text kleingedruckte Passagen wurden bei dem Vortrag wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit übergangen)

INHALT

1. Wer ist eigentlich der Erzähler
2. Der Zuschauer
3. Raum, Zeit, Materie
4. Der doppelte Betrachter
5. Die negative Erzählung
6. Ein gegebenes Lächeln (nur skizziert)
7. Ich sehe was, was du nicht siehst
8. Müder Wanderer in verlorener Welt
9. Das Vibrieren der Bilder
10. Wir spielen um Daumen (nur skizziert)
11. Die universelle Präsenz des Zuschauers (nur skiziiert)


Filmausschnitte:

Zu diesem Aufsatz gibt es in der CD-Version 5 kurze Filmauschnitte im Microsoft AVI -Format. Sollte Ihr Browser die Filme unzureichend vorführen, betrachten Sie diese bitte mit Ihrem Mediaplayer. Halten Sie diesen kleinformatig (die effektive Auflösung beträgt nur 160 x 120 Pixel, unkomprimiert) geöffnet und navigieren Sie in ihm herum während Sie den sich auf die einzelnen Einstellungen der betreffenden Filme beziehenden Text lesen. Die Dateien befinden sich im Video-Ordner, die betreffenden Dateinamen stehen neben den Links. Sollte Sie einen Macintosh Computer haben, der keine Avi Files lesen kann, fragen Sie einen Fachmann, ob er ihnen helfen kann


.


1. WER IST EIGENTLICH DER ERZÄHLER

 

"Ich werde euch ein anderes Abenteuer erzählen, wohl eines meiner fatalsten."

So beginnt Witold Gombrowicz seinen Roman "Pornographie" aus dem Jahre 1957. Ich wollte, ich hätte ihn vor Drehbeginn des "Offenen Universums" gelesen, vieles von dem, was ich Ihnen heute Abend vortragen möchte, würde anders aussehen. Die Wirklichkeit schreitet nun mal leider nur vorwärts, und - beklagenswert, wie dies vielleicht ist - gibt es mir doch Gelegenheit, meinerseits von einem Abenteuer zu erzählen, wohl auch eins meiner fatalsten. Um es kurz zu machen: die Herstellung dieses Films hat mich um Frau, Weib, Kind, Haus, Hof und Vermögen gebracht, um viele Freunde und schließlich um meine psychische Erhaltenheit. Ich habe mir sagen lassen, solche Verluste hätten im Filmgeschäft als normal zu gelten, und daß allein das fertige, verpack- und verschickbare Produkt einen gewissen Gegenwert dieser Verluste bildet - soweit der Besitz eines Gegenstands ein inneres Fiasko denn überhaupt kompensieren kann.

Ich möchte heute Abend allerdings nicht über das sprechen, was einem in der Filmwelt üblicherweise als Katastrophe begegnet, innere oder äußere Widrigkeiten also, welche die Produktionsmaschinerie aufhalten und viel Geld kosten. Von wirklichen Katastrophen dieses Typs ist "Das offene Universum" verschont geblieben, und im übrigen kann man ruhig einmal bezweifeln, ob Filme mit Etats von 50 Millionen einen interessanteren Schauer von Klatsch und Anekdoten zu erzeugen verstehen, als - sagen wir mal, der Bau einer ähnlich teuren, ebenfalls mehr oder weniger belanglosen Zementherstellungsfabrik.

Wirklich beunruhigende Erfahrungen machte ich erst beim Schnitt dieses Films, und zwar merkwürdigerweise beim Schnitt der konventionell erzählten Teile. Es stellte sich heraus, daß mir meine bisherige Filmpraxis so gut wie keine Richtlinien bot, nach denen ich einigermaßen plausible Schnitte hätte zustande bringen können. Die Schwierigkeit war interessanterweise unabhängig von der Auflösungsqualität der Inszenierung. Es gelang also sehr wohl, die Einstellungen in "richtige" Reihenfolgen zu bekommen, ich war jedoch hilflos bei Entscheidungen, die mit dem "Timing" des Schnitts zu tun hatten. Das betraf bereits die Zahl der Einstellungswiederholungen bei Parallelmontagen und setzte sich an jeder einzelnen Schnittstelle fort. Ich fand vor allem kaum zu dem, was ich vielleicht als künstlerische Intuition hätte bezeichnen können, zu irgendeinem gefühlsmäßiges Voranschreiten, das mit leichter Hand eine gefällige Gestalt zu produzieren verstand.

Lange Zeit glaubte ich, es läge an meiner handwerklichen Ungeschicklichkeit. Aber auch, als ich handwerklich ein wenig sicherer wurde, blieb das Bemühen um eine rhythmisch gefällige Form ein entsetzliches Geringe mit Kleinigkeiten, welches - darin bestand das Entsetzliche - so gut wie keine individuelle Ausdrucksmöglichkeit einschloß. Schließlich begann ich zu vermuten, diese Schwierigkeiten könnten mit dem filmischen Erzählen selbst zusammenhängen. Ich stellte die Frage, wo ich mich als ausdruckswilliges Individuum eigentlich bei diesen Schnittentscheidungen befand. Als was also und mit welcher Kompetenz traf ich Entscheidungen beim filmischen Erzählen? Oder allgemeiner: Wer eigentlich ist der Erzähler eines erzählenden Films, wo befindet er sich und worin besteht sein Erzählen?

In der Literatur scheint die entsprechende Frage leichter beantwortbar. Der Erzähler ist derjenige, der die Geschichte erzählt, im Zweifelsfalle der Autor. Allerdings lauern auch hier allerhand Merkwürdigkeiten. Zum Beispiel in der erwähnten "Pornographie": nachdem uns Gombrowicz wie gehört ein neues Abenteuer ankündigt, fährt er fort:

"Damals, das war 1943, hielt ich mich im ehemaligen Polen auf, im ehemaligen Warschau, ganz auf dem Grund der vollendeten Tatsachen."

Warschau 1943 - das ist ein Ort, an dem eine quirlige Intelligenz wie Gombrowicz nichts zu suchen hat. Es ist der Ort für naive Tagebücher, schon der realistische Roman erscheint hier als reinste Schmiere. Anne Frank und Winston Churchill - der für seine tagebuchähnliche Darstellung des zweiten Weltkrieges wohl zu Recht den Nobelpreis für Literatur bekam - setzen in einem solchen Bereich von Leiden und überstrapazierter Verantwortlichkeit die integren Akzente. Selbst das Kriegstagebuch der Wehrmacht hat für uns hier eine höhere Akzeptanz als Äußerungen dieses Ich-Erzählers Gombrowicz. Daß er ihm zudem seinen Vornamen Witold gibt, erledigt den letzten Rest Glaubwürdigkeit: in seinem vorigen Roman "Transatlantik" - 1953 - hat uns Gombrowicz ja unmißverständlich klargemacht, wohin ihn der Kriegsbeginn wirklich verschlagen hat, nach Argentinien nämlich, dem denkbar schlechtesten Beobachtungspunkt für Ereignisse in Polen 1943.

Am Anfang von "Pornographie" steckt also eine massive Lüge über das Erzählte. Wenn wir dies mit dem Beginn von Herodots Historien vergleichen, dem Ursprung von Geschichtsschreibung - History - und somit von Geschichte im Sinne von Story, wird klar, wie weit der Weg ist, den die Idee der Erzählung inzwischen gegangen ist. Dort lesen wir den seither vielbegrübelten, eine ganze Wissenschaft begründenden Satz:

"Herodotus von Halikarnas gibt hier eine Darlegung seiner Forschungen, damit bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit gerate, was unter Menschen einst geschehen ist."

Herodot beschreibt sich hier als einen Erkunder von Geschehnissen, die er später für uns, die Leser und Zuhörer, so gut wie möglich wiedergibt. Sein Hauptmaterial sind dabei die persischen Feldzüge gegen die Griechen (also die Zeit von 490 bis 480), die er erzählerisch aufbereitet. Zugleich beschreibt er die Vorgeschichte dieser Feldzüge und die gerät ihm zu nichts weniger als einer Gesamtgeschichte der ihm bekannten Welt. Er nutzt dazu alle Quellen, die mit einer gewissen Zuverlässigkeit über irgendetwas in der Vergangenheit zu berichten haben, und entwickelt so gleichzeitig so etwas wie eine erste Anthropologie. Vieles von dem, was er hört, ist rein spekulativ, was von ihm aber auch erkannt und benannt wird. Zweifel an der Integrität seiner Wahrnehmung läßt er nicht aufkommen, vielleicht kommen sie ihm auch nicht. Eher schon bezweifelt er das Begriffsvermögen seiner Zuhörer. Er schreibt:

"Das Getreide (in Babylonien) gedeiht so vorzüglich, daß es zweihundertfältige Frucht trägt und im günstigsten Fall sogar dreihundertfältige. Die Blätter des Weizens und der Gerste erreichen oft eine Breite von vier Fingern. Wie groß die Hirse- und Sesamstauden werden, WILL ICH VERSCHWEIGEN, OBWOHL ICH ES WEISS; denn wer nicht selber das babylonische Land besucht hat, der wird sicherlich schon meinen Bericht über das Getreide anzweifeln." I-193

Eine interessante Stelle: hier entscheidet sich jemand für das Verschweigen der Wahrheit, um glaubwürdiger zu sein; genauer gesagt, um glaubwürdig für einen späteren Zeitpunkt zu bleiben, an welchem er die ihm wirklich wichtige Geschichte, diejenige vom Sieg der Griechen gegen die Perser, erzählen wird. Gombrowicz dagegen unterminiert schon in den ersten Sätzen die Autorität seines Erzählers, im Gegensatz zu Herodot will er glaubwürdig auf keinen Fall sein, und gelangt - sagen wir ruhig mal: gerade dadurch - zu einer wahreren Darstellung von Wirklichkeit.

In beiden Fällen steckt hinter dem Erscheinungsbild der Erzählung die komplexe Zielvorstellung einer Person, eines Autors. Das führt uns zu einer einfachen physischen Näherung: Wenn uns ein Autor eine Erzählung vorliest, dann ist er der Erzähler. Befindet er sich vor uns, besteht sein Erzählen in der Art seines Vortrages. Jede andere im Laufe des Vortrages auftauchende "Ich-" oder "Er-" oder auch objektive Erzählergestalt ist von untergeordneter Bedeutung, ein Marionette in den Händen des wirklichen Erzählers, des physisch präsenten, des vorlesenden Autors. Eine solche Autorenpräsenz ist erstaunlich formprägend. Sie ist imstande, auch Auseinanderfallendstes in zusammenhängende Erzählung zu verwandeln. In diesem Sinne könnte sogar ich der Erzähler dieses Textes werden und ihn in Erzählung verwandeln. Um so mehr gilt dies für das kleine Beispiel, das wir jetzt hören können, eine Aufnahme - also noch etwas raffinierter (genau genommen sogar nur die Kopie einer Kopie einer Kopie einer Aufnahme) - des aus Finnegans Wake lesenden James Joyce.

(Abspielen des Tonbands)

Hier also haben wir einen wirklichen Erzähler vernommen. Ist ein solcher Autor nicht zur Hand (weil er zum Beispiel tot ist), könnten wir einen Schauspieler für ihn einspringen lassen. Dessen Lesen würde eine Art Pseudoautor darstellen, der die Instanz des Erzählers verkörpert. Man könnte sogar auf die physische Präsenz einer solchen Person verzichten und sie sich beim Lesen einfach vorstellen, einen Pseudoautor also, der aus den Seiten heraus zu uns spricht, und den wir Leser uns als den Erzähler vorstellen. Damit haben wir, glaube ich, eine einigermaßen plausible erste Näherung zustandegebracht. Die Kategorie der Erzählung selbst, das darf man nicht verschweigen, ist dabei nur indirekt benannt worden und muß später genauer untersucht werden.

Eine ebenso plausible Grundkonstruktion des filmischen Erzählens - wobei man mit Bildern etwas ähnliches zustande bringt wie mit Worten - scheint nicht möglich zu sein. Am ähnlichsten käme ihr vielleicht noch die Einrichtung eines Projektions-Schauspielers, einer Person also, die Bilder in schneller Folge hochhält und Zuschauern zu sehen gibt.

(kurze Vorführung durch nacheinander erfolgendes Hochhalten der dreiteiligen Bildserie "Deutschland im Herbst" )

Ein solcher Projektions-Schauspieler wäre Stellvertreter eines Filmmachers, der die Bilder vor der Vorführung hergestellt und geordnet hat. Diese Konstruktion wirkt etwas eigentümlich, erschließt uns aber eine tatsächlich mögliche Grundkonstruktion filmischen Erzählens. Sie besteht darin, daß eine Person eine Reihe von Bildern als interessant empfunden hat und nun in einer Vorführung von dieser Interessantheit Mitteilung macht. Es handelt sich gewissermaßen um die direkteste Form der Erzählung, die von einem Autor direkt zum Zuschauer geht.

Im üblichen Kinofilm wird diese Konstruktion verborgen. In ihm sehen wir zwar auch Schauspieler, jede Menge sogar, sie ersetzen aber nicht den Projektor, sondern sie befinden sich direkt vor uns auf der Leinwand. Sie stehen nicht für einen Autor, der zu uns spricht, sondern sie repräsentieren handelnde Personen, die reden. So betrachtet handelt es sich bei dem meisten von uns auf der Leinwand Gesehenen nicht um erzählerische Filme, sondern um Redefilme. Ganz folgerichtig gibt es im Englischen den Begriff "talking pictures". In ihnen hält sich der Autor, ließe sich sagen, zwischen den Schauspielern versteckt.

Die direkte Erzählung ist uns in ihrer ursprünglichen Gestalt als Dia-Vortrag und seiner Hauptmodifikation, der Fernsehnachrichtensendung, erhalten geblieben. Sie geht aber an der Grundkonstruktion der Filmvorführung in einem wesentlichen Punkt vorbei. Die Maschine nämlich, der Projektor, welcher unseren altertümlichen Bildhochhalter ersetzt hat, ist der Inbegriff des Unpersönlichen. Zwischen Filmmacher und Zuschauer schiebt sich ein Apparat. Das direkte Erzählen verwandelt sich in die Beherrschung eines Apparates, mit dem eine indirekte Erzählung erzeugt werden soll. Die Apparatabhängigkeit des Erlebens ist eine der Grundgegebenheiten des filmischen Prozesses.

Homer gilt als der erste uns namentlich bekannte Erzähler. Schon die Griechen zogen allerdings seine Autorenschaft in Zweifel, und bezeichneten Ilias und Odyssee als dem Homeros nur zugeschrieben. Es scheint sicher zu sein, es wird jedenfalls kaum noch in Frage gestellt, daß der Versbestand seiner Epen mehr oder weniger präzise von Sänger zu Sänger überliefert worden ist, und daß Homer einer dieser vortragenden Sänger war. Besonders die Ilias wirkt stilistisch so zusammengestoppelt, daß mehrere Sängergenerationen an ihrer Entstehung beteiligt sein mußten. Aber der einheitliche Hexameterrhythmus (in der Übersetzung von Voß: Singe den Zorn, O Göttin, des Pellaiaden Achilleus / Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte) überspielt die komplizierte Entstehungsgeschichte, so daß jeder Sänger sich beim Vortrag zur Phorninx als Pseudoautor des Ganzen inszenieren konnte, ohne daß es merkwürdig anmutete.

Die maschinenhaften Hexameterrhythmen haben mich beim Hören öfter an das durch den komplizierten Filmtransport erzeugte, mir seit langem vertraute Laufgeräusch der Projektoren erinnert. Mag sein, daß nur dies mich zu einer Sichtweise verleitet hat, einer zugegeben exzentrischen, in welcher Homer als Vorläufer jenes erdachten Projektions-Schauspielers begriffen wird, der nicht so sehr Autor als vielmehr Vorführer eines vorher Zusammengefügten ist. Der Autorengedanke selbst scheint den frühen Sängern jedenfalls kaum weniger fremd gewesen zu sein als unseren Projektoren. Ihr Gesang war geborgt: es waren die Musen, die aus ihrem Mund sprachen. Ihre eigene Individualität war so minderwertig, daß sie nicht erwähnenswert war. Das Wort "Ich" erscheint selten und unbetont. In der Ilias tauchen Sänger nicht einmal dort auf, wo sie eigentlich am willkommensten hätten sein müssen, bei den Gelagen in und vor Troja. Es gibt aber eine bezeichnende Ausnahme auf dem Olymp, wo Apollon beim Götterschmaus als Sänger mit Phorninx erscheint, selbst ein Gott zweifellos, und nicht bloß Sprachrohr der Musen.

Die Idee der Autorenschaft hat etwas mit der Vergöttlichung des Autors zu tun. Das Konzept gottähnlicher Individualität, das uns mittlerweile selbstverständlich ist, scheinen die Griechen so nicht gekannt zu haben. Am ehesten vermochten sie sich ihm in klassischer Zeit - lange nach dem Entstehen der Versepen - durch das Erlangen von "arete" anzunähern, von demjenigen also, was man heute vielleicht als "Bestheit" bezeichnen müßte, der maximalen Steigerungsform von "Ausgezeichnetheit". "Arete" und damit eine Form von Individualität konnte durch Taten oder Werke erlangt werden, und umgekehrt: jede vorzügliche Tat ungöttlichen Ursprungs hatte ihre Wurzel in dem Bemühen eines einzelnen Menschen um "arete". In einer Kultur, in welcher das Individuum in dieser Form modelliert wird, muß die bloße Anwesenheit von Ilias und Odyssee irritieren. Vorzüglichkeit und Anonymität waren auf radikale Weise miteinander unverträglich. In einer erstaunlichen Anstrengung wurde daraufhin der Homeros erfunden, als Autor, der diesen Fall normalisierte. Etwas Vorzügliches besaß mit ihm fortan eine vorzügliche Wurzel. Man kann die Erfindung dieser Autorenschaft gar nicht hoch genug einschätzen. Ihr verdanken wir die relative Überlieferungstreue antiker Texte, letztlich wohl sogar den Tatbestand der ausführlichen schriftlichen Überlieferung selbst. Andere Texte hatten nicht das Glück, derart mit einem Autor - auch Jehova hat gewiß als ein solcher zu gelten - versehen worden zu sein, das Gilgamesch Epos beispielsweise: seine Autorenlosigkeit verurteilte es zu als minderwertig angesehener Qualität, die nicht recht überliefernswert schien, und so wurde es verstümmelt.

Die Stimme eines spezifischen Individuums allerdings verdanken wir weder der Dichtung noch Homer, sondern wieder und paradoxerweise der Geschichtsschreibung des Herodot. Schon in dem zitierten Anfang - ich wiederhole -

"Herodotus von Halikarnas gibt hier eine Darlegung seiner Forschungen, damit bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit gerate, was unter Menschen einst geschehen ist."

verkündigt er - 300 Jahre nach Homer - seine individuelle, für den Inhalt verantwortliche Autorenschaft, seinen selbstangestrengten Versuch also, an der "Bestheit" teilzuhaben.

Das Wort "Forschung" als Übersetzung des griechischen Wortes "historia", ist dabei etwas kühn, es soll zu Zeiten Herodots vor allem "Erkundigung" bedeutet haben, speziell Erkundigung vor Gericht. Wie es bei Gericht üblich war, läßt sich entsprechend argumentieren, habe auch Herodot bei verschiedenen Leuten Erkundigungen eingeholt und sie miteinander verglichen. Voraussetzung für Mitteilungswürdigkeit ist dabei die Übereinstimmung voneinander unabhängiger Quellen . So lesen wir:

"Was dagegen die Geschichte der Menschheit betrifft, so hat man mir einstimmig folgendes erzählt:
Die Ägypter waren die ersten, die die Länge des Jahres erststellten und es in seine zwölf Zeiten einteilten,
usw." II-4

Partiell zumindest scheint ein Erzähler also ein Jemand zu sein, der dasjenige erzählt, was andere ihm auch schon "erzählt" haben. Er ist damit Teil eines rekursiven Verfahrens, welches durch Einstimmigkeit etwas eindeutiges und vertrauenswürdiges bekommt. Ist Einstimmigkeit nicht zu erzielen, bestehen also Widersprüche zwischen einzelnen Mitteilungen, wird auch dies von Herodot mitunter mitgeteilt. Gleich am Anfang des ersten Kapitels lesen wir:

"Nun behaupten die Gelehrten der Perser, an der Zwietracht zwischen den Hellenen und Barbaren seien die Phoiniker schuld, usw.", was in die Erzählung der persischen Version des phoinikischen Raubs der Königstochter Io mündet. Anschließend bekommen die Gegenspieler der Perser, die Phoiniker Gelegenheit, ihrerseits zu behaupten, Io wäre freiwillig mit ihnen gegangen, es hätte also gar kein Vergehen gegeben.

Es geht in der Tat zu wie bei einer Gerichtsverhandlung, bei der die Parteien nacheinander zu Wort kommen. Hier, vor Gericht, in der gerichtlichen Auseinandersetzung, findet sich eine der Wurzeln der antagonistischen, meist dialogischen Aufbereitung von Geschehen, die heute - wir erwähnten ja die "Rede-Filme" - häufig als erzählerische Aufbereitung schlechthin gilt. Dann aber folgt ein für unsere kurze Untersuchung zur Idee der Erzählung entscheidender Punkt. Nachdem sowohl Perser als auch Phoinikier ihre Meinung geäußert haben, sagt Herodot schlicht:

"Ich selber will nicht entscheiden, ob es so oder anders gewesen ist."

Damit subtrahiert er von sich alles Willkürliche und verwandelt sich als Autor in eine sozusagen objektive Instanz. Es ist die Instanz des leidenschaftslosen, des objektiven Erzählers. Er gibt wieder, was er erfahren hat, angeblich ohne Haltung zu beziehen. Dabei ist klar, daß die Definition des Standpunktes einer solchen Objektivität bereits Propaganda für diesen Standpunkt ist.

Laut Hannah Arendt findet sich das Wort "histor" bereits in der Ilias. Dort hat es die Bedeutung von "Richter". Und damit nähern wir uns einer tieferen Substanzschicht des Erzählers und seiner Erzählung: Er ist immer auch ein Richter über die Ereignisse, so entschieden er das vielleicht verbirgt. Bei aller Gleichbehandlung von Griechen und Barbaren hat Herodot ein die Perser vernichtendes Urteil gesprochen. Nach ihm, nach dem Erscheinen seines Buches, nach dem Erscheinen seiner Sichtweise, ist die Welt zweigeteilt: hier sind wir, die Fortschrittlichen und Zivilisierten - dort sind die Barbaren. Hier steckt das Individuum mit seiner Fähigkeit, die Wirklichkeit aktiv zu strukturieren - dort ist die Welt der Untertanen, bloßer Werkzeuge irgendwelcher Despoten. Die Welt wird zerlegt in einen wichtigen und einen unwichtigen Teil, hier ist Europa, jenseits dessen ein unappetitlicher Rest. Es ist eine Dichotomie weit über den üblichen völkischen Rassismus hinaus, ganz unmoralisierend, unrassistisch, jenseits von Gut und Böse, beinahe nichts als eine nüchterne Feststellung, ein Verdikt, das die östlichen Kulturen vernichtete und minderwertig machte.

"Das erkannten die Perser als richtig an" - so enden die Historien: "Sie wollten lieber in einem mageren Lande Herren sein, als in einem üppigen Knechte."

Das ist Propaganda und Wirklichkeitsverfälschung in massiver Form, bis zu den Feldzügen Alexanders - 150 Jahre später - ist Griechenland schließlich neben dem Perserreich eine politische Marginalie gewesen. Herodot allerdings hatte ein Urteil gesprochen, ein ganz eigenes - als glaubwürdig empfunden wurde es in Form der Historien weitergegeben, wurde es verewigt, der entscheidende Urteilsspruch, der zweieinhalbtausend Jahre strukturierte.

In jedem Erzähler, der die Unzulänglichkeit seiner Subjektivität verbirgt, steckt so ein Richter. Und bei vielen von ihnen - vor allem den fanatischen Anhängern einer "objektiven" Erzählweise - spürt man den Wunsch, die Zukunft nach dem Beispiel Herodots zu gestalten. Dabei wissen sie, daß dies nur gelingen kann, wenn sie sich einer Idee unterwerfen, besser noch einer Ideologie, an deren bevorstehenden Sieg sie so teilhaben. Ob das der Sozialismus ist oder der American Way of Life oder auch nur das gute, das von Grund auf anständige Leben, das bleibt sich eigentlich gleich, Hauptsache da ist ein Sieg in Sicht, und man ist auf Seite der Sieger. Und derjenige Sieger muß noch gefunden werden, dem die objektive Erzählform nicht vollkommene Herberge zu bieten versteht. Im Gegenteil: ideologische Kämpfe werden, meine ich, wesentlich gerade um die Besetzung der erzählerischen Form geführt, mehr als um die Nutzung irgendwelcher Terrains oder Rohstoffe, die man mit weit weniger Aufwand erwerben kann.

Ähnliches gilt seltsamerweise auch für die Besetzung von Begriffen. Die "arete" selbst beispielsweise - das also, was wir als "Ausgezeichnetheit" oder "Bestheit" begriffen und mit der Idee individueller Autorenschaft verbunden haben - verlor nach Herodot zunehmend seine kreative Aggressivität, um schließlich bei Aristoteles zu etwas rein Kontemplativen zu werden, zu einer Art von Geruhsamkeit, die man heute mit "Tugend" übersetzt, aus deren Besitz heraus man die Fähigkeit zum Maßhalten zwischen Extremen gewinnen kann. Als Beherrscher der Worte haben die Philosophen dieses Wort solange umgewertet, bis es ihnen allein zukam. Politiker, Historiker, Maler und Dichter dagegen wurden zu Erscheinungen, deren Bestheit (als erster hat das Aristophanes in seinen Komödien beschrieben) man deutlich in Frage stellen mußte. Den Grund dieser Verschiebung lassen Herodots direkte Nachfolger erkennen, Thukydides und Xenophon. Was bei Herodot als weltumfassendes Projekt gegen die Barbarei begann, verwandelte sich bei Thukydides in den Kampf von Ehrgeizlingen um die Vormacht in Griechenland (mit dem Desaster der athenischen Expedition zur Eroberung Siziliens), um schließlich bei Xenophon

(hochhalten der "Hellenika")

in einer Art Dorfchronik zu enden, in deren Verlauf die Chefs bereits erschöpfter Dörfer noch einmal mit achtzig Mann ein Nachbardorf überfielen, um ein letztes Mal vom herrlichen Stoff der "Ausgezeichnetheit" zu schmecken. Diesen politischen Abstieg Griechenlands durch maßlosen Politikerehrgeiz - durch forciertes Streben nach "arete" im klassischen Sinne - zu beobachten ist noch heute schmerzlich. Als Reaktion wurde der Wert individueller Leistungen neu eingeschätzt. Als "Bestheit" galt bald nicht mehr das Erringen von Gottgleichheit aus einer eigenen Kraftanstrengung (das hatte zur politischen Katastrophe geführt), sondern es ging um das Erreichen eines menschlichen Maßes. Auf widersinnige Art war dies aber zugleich das Ende der menschlichen Individualität, denn "tugendhaft" sein zu müssen, bedeutet traurigerweise auch, daß man seine Gottesähnlichkeit verliert.



2. DER ZUSCHAUER

 

Anders als bei Herodot ist die Substanz der meisten Erzählungen fiktiv. Die Vergangenheitsform, in der sie geschrieben sind, soll aber ein Stattgefunden-Haben suggerieren. Der erzählende Film kennt dagegen die Vergangenheitsform nur als ausgestellte Geste, seine Bilder begegnen dem Zuschauer entschlossen als Gegenwart. In Erzählungen sind Passagen mit direkter Rede dramatisierende Einsprengsel von Gegenwärtigkeit in einem Gedankenfluß über Vergangenes. Im Film dagegen ist dies die dominante Struktur. Insofern ist der erzählerische Film dem Drama verwandter als der Erzählung. Dennoch bleibt immer ein undramatischer Erzählungsrest, besonders wenn die Protagonisten mit ihrem Reden aufhören. Einen personifizierbaren Erzähler allerdings scheint es dabei - außer als Trickfigur - nicht zu geben. Der Erzählvorgang hat im Film seine Aktivqualität verloren, er wird ins Passiv verwandelt. Man sagt, in einem Film wird etwas erzählt. Gelegentlich verwandelt sich dieses Passiv wieder in ein Pseudoaktiv und dann heißt es: der Film erzählt. Der Film selbst also, darin drückt sich vielleicht am klarsten die Entpersönlichung des Erzählers aus. Persönliche Ansichten des Autors haben in der Erzählstruktur kaum Platz. Will er sie unterbringen, muß er sie seinen Protagonisten in den Mund legen oder sich etwas ähnlich Raffiniertes ausdenken. Der Erzähler verschwindet in einer objektiv erscheinenden Instanz, er wird - vielleicht kann man es so sagen - zum Erzählprinzip, er wird eine Art Apparat.

Wenn der Film - oder genauer: der Projektor - zu erzählen beginnt und nicht mehr eine Person, hat ein entsetzlicher Verlust stattgefunden. Ein literarischer Erzähler kann ein sehr merkwürdiger Mensch sein, dessen Einsichtsvermögen in die objektive Wirklichkeit nicht besonders hoch sein muß (wie der berühmte Witold, der Erzähler von Gombrowicz). Er kann sich irren, kann halbwahnsinnig sein, da aber in Erzählungen von Menschen die Rede ist und deren Stärke ist nun einmal nicht eine objektive Wahrnehmungsfähigkeit, kann sich solche Beschränktheit in die Darstellung von Wirklichkeit verwandeln. Wenn aber der Film erzählt, ein Apparat, eine Maschine, dann existiert nur noch konventionelle Objektivität. Ein Apparat kann nicht wahnsinnig werden. Er kann vielleicht Fehler machen, aber einen Fehler machen ist etwas ganz anderes als am Rande der Wahrnehmungsfähigkeit halbwahnsinnig zu einer tieferen Sichtweise zu gelangen oder auch schlicht sich zu irren.

Wenn ein Apparat einen Fehler macht, muß der Fehler korrigiert werden. Dafür sind Funktionäre zuständig, die ihn bedienen. Sie werden nicht dafür bezahlt, daß sie ihren Wahnsinn ausstellen, sondern dafür, daß der Apparat keine Fehler macht. Die Bediener dieser Apparate nennen sich Profis, und "professionell" ist auch das höchste Kompliment was man diesen machen kann. Die Apparate werden durch sie systematisch optimiert und auf eine Übereinkunft von Objektivität hin getrimmt. Die filmische Erzählung hat in diesem Prozeß etwas penetrant Wahrhaftiges bekommen, besser gesagt, einen penetranten Schein von Wahrhaftigkeit, wie er uns auch im Erscheinungsbild von Politik in demokratischen Gesellschaften begegnet.

Damit sind wir an einem sehr komplizierten Punkt in unserer Erörterung gelangt, einem Punkt, den wir bisher systematisch ausgeklammert haben, als würde seine Konstitution überhaupt keine Rolle spielen, ich meine den Zuschauer.

Auch der Zuschauer ist wohl eine griechische Erfindung. Das griechische Wort für Zuschauer "theatai" finden wir in "Theater" wieder, aber auch - und das ist interessant - in "Theorie". Das Wort "theoretisch" bedeutete bis vor ein paar Hundert Jahren "betrachtend". Die Zuschauer blickten von außen auf ein Geschehen, aus einer Perspektive, die den Teilnehmern der Ereignisse verschlossen bleibt. Handeln und Verstehen sind voneinander getrennt. Die Schauspieler handeln zwar, aber sie verstehen nichts, die Zuschauer dagegen handeln nicht, sind aber in der Lage, "die Wahrheit" dessen zu verstehen, worum es in dem Schauspiel geht. Die Aufgabe des Schauspiels, später auch der Erzählung, bestand nicht zuletzt darin, den Zuschauern eine Art Theoriebildung zu ermöglichen.

Konnte man in den griechischen Stadtstaaten noch hoffen, alle Bürger soweit zu bringen, daß sie brauchbare Theorien zum Gang der Welt vereinbarten, wurde das in größeren Zusammenhängen zunehmend weniger möglich. Wirkliche Theorie wurde ein Bereich für Spezialisten, die Zuschauer dagegen verwandelten sich in Publikum und begnügten sich mit Halbwahrheiten und Pseudoerkenntnissen. Natürlich ist Gombrowicz Beschimpfung der Spezialisten nicht unrichtig:

"Eins ist widerwärtig an so einem Wissenschaftler: seine lächelnde Ohnmacht, stillvergnügte Ratlosigkeit. Er ähnelt einem Rohr, das die Nahrung durchläßt ohne zu verdauen; niemals wird sein Wissen zu etwas Persönliches von ihm; er ist von Kopf bis Fuß nur Werkzeug, nur Instrument."

Wie es allerdings aussieht, wenn Halbwahres, große Zuschauerzahl und gemeinsamer Nenner zusammenkommen, um die Erzählform zu optimieren, können wir jetzt im Fernsehen bewundern. Und in der Werbung wurde noch einmal ein Optimierungsschub erzeugt. Dort trifft inzwischen eine Parodie - die optimierte Erzählung - auf eine andere: das sich optimierende Publikum.

Wenn wir allerdings Herodot sorgfältig lesen, war es offenbar auch mit seinen Zuschauern oder -hörern soweit nicht her.

"Sämtliche Tiere gelten (in Ägypten) als heilig, Haustiere so gut wie wilde. Wollte ich den Grund für diese Heilighaltung der Tiere angeben, so müßte ich auf die religiösen Vorstellungen eingehen, was ich nach Möglichkeit vermeide. Was ich darüber schon nebenher erwähnt habe, habe ich nur notgedrungen der Erzählung zuliebe gesagt." II-65

Der Erzählung zuliebe etwas sagen, was man eigentlich nicht sagen möchte - das drückt auf die netteste Weise aus, daß es auch damals sowohl fixierte Vorstellungen von einer guten Geschichte gab, als auch einen gewissen Erwartungsdruck von Seiten der Zuhörer, dem Herodot sich nicht verschließen wollte. Das Publikum wußte wohl schon immer, was eine gute Geschichte ist, und die will es auch hören, egal, was ein gelehrter Herr wie Herodot für richtig hält. Statt den Verfall der Zuschauerkultur von den Griechen zu uns hin zu beklagen, könnte man also auch behaupten, daß das Publikum ewig ist - und daß nur in letzter Zeit zufällig so etwas wie der individuelle Zuschauer entstand, zusammen womöglich mit dem individuellen Erzähler. Es trifft natürlich zu, daß es Fernsehen und Werbung und die ihnen innewohnenden Verstümmelungen früher nicht gegeben hat. Andererseits aber hat sich das Erzählen von dramatischen Situationen im Film nicht weit von Herodot wegbewegt. Seine Schilderung der Schlacht von Marathon können wir Satz für Satz in ein Filmdrehbuch verwandeln.

"Als die Aufstellung (der Truppen) vollendet war /Totale/ und das (Schlacht-) Opfer günstig ausfiel /Teilausschnitt/, stürmten die Athener /Halbtotale/ auf das Zeichen zur Schlacht hin /Großaufnahme/ gegen die Barbaren vor /Totale/. Die Entfernung zwischen den Heeren betrug nicht weniger als acht Stadien /Supertotale/ (2 Kilometer). Die Perser sahen /Perspektivenwechsel/ die Athener im Laufschritt nahen /Blick/ und rüsteten sich, um sie zu empfangen /Rückschnitt/. Sie hielten es für ein ganz tolles selbstmörderisches Beginnen/kurzer Dialog/, als sie die Schar heranstürzen sahen /Zwischenschnitt im Dialog/, die weder durch Reiterei noch durch Bogenschützen gedeckt wurde /etwas Abwesendes kann nicht im Bild gezeigt werden, hier muß ein Dialog her/. Aber während die Barbaren solche Gedanken hegten /im Film: aussprachen/ kamen schon die Haufen der Athener heran; der Kampf begann /nun sind alle im selben Bild/, und sie hielten sich wacker. Die Athener waren die ersten /Propaganda/ unter den hellenischen Stämmen, soweit wir wissen /sehr interessante Einschränkung der Propaganda; als Historiker darf man Propaganda eigentlich nicht aussprechen, will man sie trotzdem unterbringen , muß man sie hinter den Quellen verstecken, oder sie durch die Erzählperspektive suggerieren. Man darf das nicht vergessen: die realistische Erzählung ist immer auch Propaganda durch Perspektive. Sie waren, die ersten, soweit wir wissen: im Film wird so ein Satz fast notwendig zu Wahrheit; die Athener waren also die ersten /, die dem Anblick medischer /also persischer/ Kleidung standhielten. Bis dahin fürchteten sich die Hellenen, wenn sie nur den Namen der Meder hörten." VI-112

Heute abend brauchen wir sicher nicht zu entscheiden, ob sich der Publikumsgeschmack über die Jahrtausende verbessert oder verschlechtert hat. Aber vielleicht gibt es neben dem ewigen Publikum auch den ewigen Zuschauer, dem nach dem individuellen Erzähler verlangt. Statt zu jammern, daß sich immer mehr idiotische Filme an immer mehr idiotische Leute wenden, wollen wir daher im zweiten Teil dieses Abends einmal das filmische Erzählen selbst untersuchen, und sehen, wieweit es sich in eine Veranstaltung für ernstzunehmende Zuschauer verwandeln läßt.

Ich möchte deshalb einige kürzere Sequenzen aus dem "Offenen Universum" etwas genauer untersuchen. Da es mein eigener Film ist und ich Buch, Kamera, Regie, Produktion, Schnitt und Musik selbst gemacht habe, nehme ich an, daß ich in irgendeiner Form auch der Erzähler sein oder zumindest gewesen sein muß. Zudem hat mich eine weitere Notiz von Gombrowicz überzeugt. In seinen Tagebüchern schrieb er:

"Ich muß mich erklären, so gut und soweit ich kann. In mir spukt die Überzeugung, daß einem Schriftsteller, der nicht über sich selbst schreiben kann, etwas fehlt."

Wenn diese Überzeugung für Literatur akzeptabel gewesen ist, kann sie für Film nicht ganz falsch sein. Dementsprechend werde ich jetzt versuchen, über die folgenden drei, vier Szenen soviel an Erklärenswertem abzugeben, wie ich eben kann. Dabei sollte eigentlich vom Prinzip des filmischen Erzählens einiges zum Vorschein kommen.



3. RAUM, ZEIT, MATERIE

 

Filmausschnitt: Acapulco (nur CD-Version / Dateiname: Un1a.avi)

 

In der ersten Einstellung dieser Sequenz entdecken wir Robert, den Helden dieses Films, er befindet sich am Strand von Acapulco. Dort küßt er als erstes den pazifischen Ozean, ein neuer Balboa, der diesen Raum für das Königreich der Jugend in Besitz nimmt. Daß es sich tatsächlich um Acapulco handelt, verrät uns eine kurze Flackersequenz, die uns das Stadtzentrum vorstellt, inclusive einiger Verkehrsgeräusche, die der erklingenden Klaviermusik eine realistische Komponente beimischen. Danach sehen wir Robert zurückblicken, zum Ort dieses Geflackers, wenn man so will: zurück in die Stadt, zurück nach Amerika. Anschließend wendet er den Blick nach links, Richtung Südsee und Meer, wo wir Frank und Carla auf einem Landungssteg sitzen sehen. Bei dem Schnitt auf diese beiden erklingt das Wort "Raum". Es bildet eine Überschrift zu dieser Sequenz, in ihr wird das Raumkonzept des narrativen Filmschnitts, die Art, wie Raum dabei behandelt wird, auf einfachste Weise dargestellt. Der Landungssteg beispielsweise, der nach Roberts Blick und einem Schnitt sichtbar wird, befindet sich real auf den Fiji-Inseln, während das Bild von Robert tatsächlich in Acapulco aufgenommen wurde. Sein Blick überwindet also beim Erklingen des Wortes "Raum" objektiv etwa 4.000 Kilometer, während im Film ein kompaktes Areal von höchstens einem einzigen Kilometer Seitenlänge suggeriert wird, das durch Roberts Blick zusammengehalten ist. Beim danach erfolgenden Rückschnitt auf Robert wird noch einmal die gleiche Distanz zurückgelegt - solche Zusammenziehungen von objektivem Raum sind für den narrativen Schnitt kein Problem. Robert setzt sich nun in Bewegung, und da er den beiden vorher von ihm Gesehenen nun auch zu begegnen wünscht, muß es zu einem gewalttätigen Schnitt kommen, bei dem er in einem einzigen raumverbindenden Schritt den Raum zwischen Acapulco und Fiji in einem Sekundenbruchteil überspringt. Dort in Fiji (das wir freilich noch immer und auch weiterhin als Acapulco interpretieren), sehen wir ihn nämlich nun am Landungssteg ankommen, von dem aus er einen neuen, einen näheren Blick auf Frank und Carla wirft.

Nach dem großen raumverbindenden Schritt gibt es nun Gelegenheit zu einer zweiten für das narrative Kino charakteristischen Raumoperation. Es ist der Perspektivenwechsel. Zunächst sehen wir Carla und Frank in einer Naheinstellung etwas größer, ganz als würde Robert etwas genauer hinblicken. Dazu hört man einen Ruf im off, woraufhin sich Frank dem ihn rufenden Robert zuwendet und die Hand hebt. Damit ist der Kontakt zwischen den beteiligten Personen in Form von aufeinanderfolgendem Blick und Gegenblick gewährleistet. Robert hebt nun ebenfalls die Hand, wodurch diese Einstellung nun interessanterweise so erscheint, als wäre sie von den beiden Sitzenden aus gesehen, was bislang noch nicht der Fall war. Das Interessante daran ist, daß jede der folgenden Einstellungen nun so interpretiert werden kann, daß einer der von uns gesehenen Beteiligten sie in etwa dieser Form nicht nur wahrnehmen könnte sondern sie auch so wahrnimmt. Vorher dagegen, als Robert allein in der Welt herumblickte, sind nur wir Zuschauer es, die als Wahrnehmende seines Blickens in Frage kommen. Robert war da nur "er selbst" und das Bild von ihm aus irgendeinem Grund eine Selbstverständlichkeit. Hinter dieser angeblichen Selbstverständlichkeit verbirgt sich aber das vielleicht größte Geheimnis des Kinos. Dieses verschwindet mit dem Auftauchen einer Blickinteraktion. Zunächst verdeutlicht eine Nahaufnahme von Carla den Perspektivwechsel, anschließend sehen wir Robert mit Carlas Augen den Landungssteg herunter ihr entgegenhoppeln, womit ein dritter Typ von Raumoperation eingeleitet wird, der für das narrative Kino kaum weniger charakteristisch ist als die beiden bisher von uns erkannten. Sie beginnt mit einer Großaufnahme Carlas, in welcher man in ihrem Gesicht zu lesen beginnt. Dabei entfaltet sich ein psychologischer Raum: offenbar beginnt sie, darüber nachzudenken, was es mit diesem Robert und ihrem Ehemann Frank eigentlich auf sich haben könnte. Als ahne sie unversehens etwas von einem homosexuellen Verband zwischen den beiden, blickt sie ihren Gatten an, dem wegen dieses skeptischen Blicks nun seinerseits eine Großaufnahme beschert wird. In ihr hält er Robert weiterhin die Hand wie einen erigierten Schwanz entgegen, bis er, da er sich von Carla bös gemustert sieht, die Hand, mit mehr schon als einer bloßen Spur von Enttäuschung, sinken läßt. Den Sequenzabschluß bildet eine verbindende Totale von allen drei Personen, mit welcher Roberts Annäherung zu einem natürlichen Ende kommt. In ihr hebt er seinerseits den Arm. Diesmal hat dieses Armheben aber nicht nur den Charakter einer trivialen Begrüßung, jetzt stellt es die Mischung einer solchen mit , ich hoffe, Sie können mir folgen, einer magischen Verwandlung der Struktur der Welt dar - denn siehe da, dieses Bild, diese simple Einstellung, gefriert zum Abbild des ödipalen Grunddreiecks. Gesehen aus der Perspektive des Kindes, das auch ein bißchen Penis zu zeigen wagt, ansonsten aber begrifflos dem Treiben seiner Eltern folgt. Dieses Bild beinhaltet die Grundkonstellation der ausgearbeiteten Filmerzählung der kommenden zwanzig Minuten; sie endet mit der überlangen Trennung von einer symbolischen Mutter nach einem katastrophalen Schiffbruch, als Robert erneut den Arm, diesmal zum Abschied, heben wird. Vorerst aber ist Robert gerade wegen seiner allein durch die Kameraperspektive erzeugten Größe in Wirklichkeit besonders klein, in einem Stadium, in welchem er noch an dem Geheimnis seiner eigenen Existenz herumzurätseln muß, die eine zumindest sexuelle Begegnung der Eltern vor seiner Geburt notwendig verlangt. Folgerichtig vernehmen wir, daß sich Frank und Carla drei Wochen zuvor in Las Vegas kennengelernt hätten. Anschließend erklingt ein Klavierton, zu welchem auf die an einem Swimmingpool sitzende Carla geschnitten wird, gleich danach hören wir im Kommentar das große Wort "Zeit".

So weit - so gut. Das bislang Beschriebene ist, so plausibel es auch klingen mag, leider nicht identisch mit der im Zuschauer beim Betrachten des Films entstehenden Erzählung, und mithin nicht das, was "der Film erzählt". Dies hängt damit zusammen, daß, obwohl diese Sequenz mit dem Wort "Raum" überschrieben ist, sie sich dem Zuschauer nur in der Zeit offenbaren kann, und die Einstellungen bereits verschwunden sind, bevor man ihre Vielschichtigkeit erfaßt hat. Auf der Ebene der Zeit gibt einem diese Sequenz vor allem anderen wohl ein Gefühl von zögerndem räumlichem Vorwärtsdrängen, welches allmählich zur Ruhe kommt, um sich jetzt, nach Roberts Zusammentreffen mit Frank und Carla, in eine statische Gespanntheit zu verwandeln. Ich würde sagen, daß es genau dies ist, was "der Film erzählt", dasjenige also, was alle einigermaßen bewegungssensiblen Betrachter wahrnehmen sollten und könnten. Das darüber Hinausgehende hängt von der individuellen Substanz der Zuschauer ab, die darüber entscheidet, wieviel von "meiner" Erzählung zu dem subjektiv verbindlichen gefühlsmäßigen Wahrnehmen hinzu genommen wird.

Filmausschnitt: Las Vegas (nur CD-Version / Dateiname: Un1b.avi)

Mit dem Auftauchen des Wortes "Zeit" findet die in diesem Film längst fällige Ergänzung zur Kategorie des Raums statt. Während in der Landungsstegsequenz beinahe lehrbuchmäßige Raumdominanz herrscht, ist die folgende Sequenz am Swimmingpool vor allem zeitbestimmt. In ihr wird versucht, den Raumaspekt des Erzählten weitmöglichst zu minimalisieren, ohne den Rahmen plausiblen Erzählens zu verlassen. Hatten wir in der vorigen Sequenz gesehen, daß im Film Raum nicht ohne Zeit darstellbar ist, daß also nicht so sehr Raum dargestellt wurde, sondern eine Öffnung und Erweiterung eines bestimmten Raumes in der Zeit, so wird in der folgenden Sequenz nicht eigentlich Zeit dargestellt, sondern das zeitliche Nebeneinander zweier unmittelbar benachbarter Räume. Einer von diesen ist durch Frank besetzt, im anderen befindet sich Carla. Beide sind sie von hinten zu sehen, über die Schulter, einer Einstellungsweise, die das Verlangen nach Raum aus sich heraus bereits minimalisiert, weil man diesen zum Teil ja schon sieht. Wo gewöhnlich bei der Über-die-Schulter-Einstellung der Blickpartner sichtbar ist, befinden sich hier allerdings bloß die Gegebenheiten eines gewöhnlichen Swimmingpools. Dieser und gelegentlich ausgetauschte Blicke lassen den räumlichen Zusammenhang jedoch so klar und eindeutig erkennen, daß er nicht erst durch eine verbindende Totale bestätigt zu werden braucht.

Das Wort "Zeit" fällt, wie schon erkannt, sobald Roberts Annäherung an das Paar abgeschlossen und sein Bewegen eingefroren ist. Es forciert die Auflösung der entstandenen Starrheit, im Blau der hinter den beiden liegenden Wasserfläche spürt man sie als zarte Bewegung. Zugleich trifft das Wort "Zeit" auf eine Schnittfigur, in der wir als Zuschauer Zeit am deutlichsten, schmerzlich schon beinahe, spüren, und zwar in einer Rückblende, als Realisierung der Worte, die wir gerade gehört haben: die "drei Wochen", von denen die Rede ist, stehen hier natürlich für die berühmten neun Monate. In den ödipalen Bereichen, in denen wir uns, die Starrheit der vorigen Einstellung hat es verraten, momentan bewegen, ist, wie nicht wenige sagen, der Coitus der Eltern das eigentlich Unheimliche auf dieser Welt. Der grelle Klavierton stützt diesen Schmerz des Griffs in die Vergangenheit. Und als hätte auch Carla diesen Ton und das Wort "Zeit" vernommen, blickt sie zur Seite, wo wir in der nächsten Einstellung Frank auf seine Armbanduhr blicken sehen, wie wenn das Wort "Zeit" ebenfalls zu ihm gedrungen wäre. Im folgenden guckt Carla genauer in Richtung dieser Uhr, auf deren Armband wir in einer Großaufnahme - Resultat einer weiteren Minimalisierungsanstrengung - entdecken, daß auf ihm ein kleines Stück rotes Klebeband angebracht ist. Da Uhren nicht erst seit Freuds Traumdeutung mit weiblichen Valeurs versehen sind, läßt sich für Carla in diesem roten Fleck die Andeutung der Menstruation entdecken, ein Weibliches also an diesem Mann, das sie zum Jäger werden läßt. In einem Akt von umgekehrten Exhibitionismus öffnet sie die Handtasche und streckt ihm deren Öffnung entgegen. Auf der Innenseite der Taschenklappe befindet sich statt des für Exhibition üblichen Penis allerdings ein Stück Klebeband vom gleichem Rot wie das aufs Franks Uhrenarmband, Metapher, wenn man so will, somit ihrer eigenen Menstruation. Wie jedermann weiß, ist diese Art von partiellem Exhibitionismus sehr unweiblich, gewöhnlich wird er Männern zugeschrieben, speziell älteren Männern, die in U-Bahnen ihre Trenchcoats öffnen - Carla fühlt sich indes in diesem Moment ja als Jäger, als im Inneren gewissermaßen bereits männlicher Jäger, der das Weibliche jagt, und hofft, daß ihr unbekanntes Gegenüber die geheimnisvolle Ironie und den Humor ihrer obszönen Geste nicht nur erkennt (natürlich eine absolut männliche Wahnvorstellung) sondern sie sogar bewundert, zumal ja die beiden Flecken Klebeband sich auf so seltsame Weise wie vorherbestimmt gleichen. Frank ignoriert dieses sexuelle Angebot jedoch schulbuchmäßig und streckt seine Nase ein bißchen mehr gen Himmel, woraufhin Carla kleinlaut die Tasche schließen muß. Das visuelle Angebot für eine mögliche Interaktion hat sich zunächst einmal erschöpft. Um nicht aufgeben zu müssen, versucht sie es nun konventionell mit Sprache. Da ihr Gegenüber auf einen intelligenten Tausch des Rollenspiels nicht einzugehen verstand und sie befürchtet, daß er weibliche Zudringlichkeit als offenbar nur durchschnittlicher Mann nicht schätzt, spricht sie ihn auf eine Weise an, die gleichzeitig maskiert, daß sie überhaupt etwas gesagt hat: "Say something, Sagen Sie doch etwas."

(Dieser ein für die Beteiligten verhängnisvolles Geschehen einleitende Satz wird auch der letzte Dialogsatz des Films sein - am Ende wird er von einem stümperhaften Chor angeblicher Kannibalen in fast klassisch griechischer Art auf so beschwörende Art ausgesprochen, als solle die Pascalsche Bemerkung, alles Unheil der Welt rühre daher, daß es die Menschen nicht allein in ihren Zimmern aushielten, so uminterpretiert werden, daß das Elend der Welt vielmehr daher rühre, daß die Menschen auf Teufel komm raus etwas sagen zu müssen meinen, und dies sogar als Ausdruck ihrer geistigen Reife empfinden sollen.)

Nach seinem unhöflichem Ignorieren der Raffinesse auch dieser verbalen Einleitung muß ihr klar geworden sein, daß dieser Mann, der jetzt bereits zwei geniale Varianten einer ersten Begegnung schlicht nicht zur Kenntnis genommen hat, vermutlich eher einer von der einfältigen Sorte ist, und so versucht sie es nunmehr ganz orthodox mit der Frage nach seinem Beruf: "What do you do?", eine Frage, auf die sie sicher noch nie keine Antwort gehört hat. Kann schon sein, daß sie sogar noch immer wehmütig der geheimnisvollen Marke auf dem Uhrenarmband hinterherträumt, als sie seinen knappen Antwortsatz vernimmt: "I sell buoys! Ich verkaufe Bojen!". Bei dem Wort "buoys" wird wieder auf Frank geschnitten, der sie nun endlich mit der erwarteten Herausforderung mustert. Der Filmkommentar läßt seiner Antwort jedoch ein trockenes "Materie" folgen, welches zusammen mit den "buoys", die sie mit "boys", also kleinen Jungs, verwechselt haben mag, einen derartigen Schreck in Carla auslöst, daß sie sich, ein dickes Fragezeichen nun im Blick, Frank direkt zudreht, der mit solcher Überraschung allerdings gerechnet hat und zügig ein energisches: "Buoys! Sailboats! Rafts!" folgen läßt - dabei erscheint zu den "Bojen!" ein beachtlicher Brocken der vom Kommentar in diesem Zusammenhang so unsinnig erwähnten "Materie", welche an dieser Stelle einfach in den Film eingeschnitten wird: eine dicke, an Land verrostende rote Boje; synchron zu den "Sailboats" erscheint eine ebenso verschrottete dazugehörige grüne und zu den "Rettungsinseln!" ein großes, vertäut an einer Kaimauer schwimmendes Gestell, das einmal Leuchtfeuerfunktionen erfüllt haben mag, nun aber tatsächlich an ein Floß erinnert. Sobald Carla mit den "sailboats" ihren Schreck verloren hat, antwortet sie mit einem schlichten "Oh, I see!" woraufhin wir als Zuschauer dasjenige sehen können, was sie, im Grunde anscheinend doch eine schlichte Seele, als Ergebnis dieses knappen Wortaustausches vor sich sieht: eine nette, kleine rote Plastikboje, die lustig auf den Wellen vor sich hindümpelt.


4. DER DOPPELTE BETRACHTER

 

Das erinnert uns daran, daß wir die Ereignisse auch aus der Perspektive Franks wahrnehmen könnten. Er war zwar zu Sequenzbeginn eher still gewesen, ein bloß wahrgenommenes Objekt, nun aber, mit seinen ersten Worten, ist er aus sich herausgekommen, wirft er selber einen perspektivischen Schatten. Mit "I sell buoys - Ich verkaufe Bojen," hatte er keinen schlechten Einstand, der Witz mit dem Wortspiel zu den kleinen Jungs hatte gezogen und die erwartete Überraschung ausgelöst. Er ahnt natürlich nicht, daß das Wort "Materie" im Kommentar des Films ebenso zu Carlas Erschrecken beigetragen hat - sowohl als Abschluß der Kommentarkette "Raum, Zeit, Materie" (nicht ganz zufällig der Titel des ersten umfassenden, 1922 von Herman Weyl geschriebenen Lehrbuchs über Relativitätstheorie

(an dieser Stelle hochhalten)

- sein Auftauchen an dieser Stelle spielt darauf an, daß die Gesetze des Filmschnitts, nach denen die Materie, also auch wir Menschen, im Filmkontinuum in Raum und Zeit angeordnet wird, schon bei diesem simplen Schnitt auf die Bojen kaum weniger wundersam sind als die vieldimensionalsten Verdrehungen der kompliziertesten Gravitationstheorien) als auch durch das Wort Materie selbst, das in Carlas empfindlicher Weiblichkeit wiederum den Anklang von Materialismus auslöst, und von jenem wollte sie hier am Swimmingpool zuallerletzt vernehmen. Frank hatte von dieser "Materie" nichts mitgekriegt, weil die Sequenz bis dahin aus der Sicht Carlas wahrgenommen wurde, in der sich das Ereignende für Carla ereignete, nicht zuletzt auch der Kommentar. In falscher Folgerichtigkeit bezog er ihr Erstaunen auf den Erfolg seines kleinen Witzes, den er nun unbeschwert mit der Richtigstellung "Bojen" fortsetzen konnte, für ihn zugleich Gelegenheit, ihr seinen Seelenzustand anzudeuten: er verkaufe zwar neuwertige Bojen, sie fühlten sich für ihn nach jahrelanger Tätigkeit jedoch an wie bereits verschrottete Wracks, ein deprimierender An- und Ausblick; klar verkaufte er auch Segelboote, aber das war im Grunde dasselbe, alles nur Schrott, und Flöße, hier ich zeig ihr mal ein Floß, so sieht ein Floß aus, Schrott. Das ist die Welt, in der verkauft wird, meine Liebe, ich nehme an, du wirst kein Wort, von dem, was ich hier sage, verstehen.

Doch als Zuschauer sehen wir, daß Carla sehr wohl etwas versteht. In ihrem "Oh I see" kommt die kleine Boje zum Vorschein, die sie an ihre Kindheit erinnert, an Badeurlaub vielleicht in Cornwall, als kleine rote Bojen die Lieblichkeit der Sicherheit verkündeten, und klar hatte sie das jetzt verstanden, er meinte Bojen, und nicht kleine Jungs, und so sehen Bojen aus, und klar verstehe ich, du verkaufst Sachen, aber Bojen und Flöße, ich weiß nicht, na gut: Segelboote. Wenn du ein so humorloser Bursche bist, der ein gutgetimtes Rollenvertauschspiel nicht zu erkennen vermag, dann wollen wir mal sehen, was kleinmädchenhafte Biederkeit bei dir anrichten kann. Und so kommt aus ihr die Fortsetzung: "So, why don't you sell me a boat - Warum verkaufen Sie mir nicht ein Boot?"

Jetzt ist es an Frank, Überraschung zu zeigen, erstaunt dreht er sich zu ihr um und erwartet, daß sie dieses Kaufangebot zurückzieht - aber nein, stattdessen nimmt sie ihren Zimmerschlüssel und legt ihn auf den Tisch: Wenn das keine Einladung ist! Und so endet diese Sequenz, statt mit einer verbindenden Totale, wie es die vorige tat, mit einem verbindenden Detail, dem Schlüssel auf dem Tisch und darauf ruhenden Händen der an dieser Sequenz Beteiligten - der Kommentar teilt uns mit einem halbunsinnigen: "Schlüssel, Lippen zum Paradies" trotz semantischer Undurchsichtigkeit etwas vom Kern des Versprechen dieser Szene mit, die ja schließlich zu Roberts Zeugung führen muß.

Wir erkennen an dieser Beschreibung, daß man als Zuschauer eines Filmdialogs häufig eine doppelte Perspektive einnehmen darf. Man nimmt die eine Person durch die jeweils andere wahr. Jeder Umschnitt hat das Potential zu einem solchen Perspektivwechsel. Gleichzeitig tritt das ein, was man als das "Sich mit einer Person identifizieren" bezeichnen kann, daß man sich also in einer der handelnden Personen wiederfindet. Im Moment des Umschnitts hat man wiederum Gelegenheit, sich selbst zu beobachten und damit auch die Wirkung der möglichen eigenen Person auf die anderen. Das Bedürfnis angeblickt zu werden ist vermutlich eins der Grundverlangen menschlicher Existenz, und das Geheimnis der unzähligen Schuß- Gegenschußverfahren in Spielfilmen besteht wohl nicht zuletzt darin, daß es dem in einer Reinheit entgegenkommt, die es bis dahin nicht gegeben hat.

Dieses Phänomen des doppelten Betrachters macht sich massiv beim Schneiden bemerkbar. In der Regel wird man Szenen wie diese in zwei langen Takes inszenieren. Im einen wird man die Texte und Reaktionen der einen Person aufnehmen, im zweiten diejenigen der anderen. Beim Schnitt wird man dann die beiden so passend ineinanderschneiden, daß man mal die eine Person wahrnimmt, mal die andere. Interessant ist nun, daß sich durch die doppelte Perspektive die Neigung entwickelt, die Person genau in der Pose wiederzusehen, in der man sie verlassen hat. Macht ein Mann beispielsweise vor dem Umschnitt auf eine ihn betrachtende Frau ein verdutztes Gesicht, erwartet man beim Rückschnitt, daß sich sein Gesicht noch immer in einem ähnlichen Zustand befindet; erst nach dem erfolgtem Rückschnitt bekommt es die Erlaubnis, den Ausdruck zu ändern. Von einer Person, die kurze Zeit nicht sichtbar ist, erwarten wir gewissermaßen, daß sie ihren Zustand für die Zeit ihrer Nichtsichtbarkeit einfriert, daß sie ihn erst weiterentwickelt, wenn sie wieder für uns sichtbar geworden ist. Es handelt sich dabei um ein merkwürdiges Einfrier-Bewegungsparadoxon, welches der filmischen Erzählform durch die praktizierte Möglichkeit des doppelten Betrachter aufgedrängt wird.

Die Existenz dieses doppelten Betrachters verleitet einen beim Schnitt dazu, einen Vorgang von gewisser Länge aufs doppelte zu strecken, so daß man den Vorgang eigentlich verdoppelt wahrnimmt. Diese effektive Verlangsamung erscheint einem widersinnigerweise als das natürliche Ereignistempo. Verkürzt man die Szene wieder in Richtung auf die ursprüngliche Länge, kommt einem der Film deutlich beschleunigt vor. Er geht in etwas über, was ich für mich beim Schnitt als "Hyper-drive" bezeichnet habe, ein überentschlossenes Umklappen von einer Einstellung in die nächste, ohne daß man als Zuschauer eigentlich recht weiß, was mit einem angestellt wird. Ich meine, genau da beginnt der Moment, an dem der Film selbst zu erzählen beginnt. Wenn man schneidet, besteht die Arbeit vor allem darin, dieser Selbstresonanz der Erzählung auf den Weg zu helfen.

Es ist aber ebenfalls der Moment, wo man sich als ausdruckswilliger Autor verabschieden muß. Man hilft einem Verfahren auf die Sprünge, das keinerlei subjektiven Ausdruck hat. Dabei ist es mühselig, sich diesem Resonanzpunkt zu nähern, er hat viel mit unserem Rhythmusgefühl zu tun. Bereits drei, vier Einzelbilder zuviel lassen das Ganze, gerade weil es so ausdruckslos ist, leicht holperig und plump erscheinen. An dieser kurzen Sequenz hier habe ich, kaum zu glauben, an die sechs Wochen geschnitten, bevor sie die Leichtigkeit annahm, die sie jetzt für mich hat. Das Ganze war ein brutales Ausprobieren, bei dem man nie sicher sein konnte, ob es sich in die richtige Richtung bewegte. Nach drei Wochen habe ich beispielsweise erst gespürt, daß ich einen Perspektivwechsel zu viel in der Sequenz hatte, was leider bedeutete, daß die ganze rhythmische Struktur neu erarbeitet werden mußte.

Dies ist ein heikler Punkt, er betrifft den Kern des filmischen Erzählens. Man steckt sehr viel Geld und Energie daran, sich einer Form zu nähern, von der man weiß, daß sie irgendwie "richtig" ist; gleichzeitig weiß man, daß diese Richtigkeit absolut nichts mit einem selbst zu tun hat. Es geht im Film darum, den Schein von Richtigsein, mit dem die anderen Filme arbeiten, aufrechtzuerhalten und ebenfalls entstehen zu lassen. Dieser Schein hat leider etwas deprimierend Minderwertiges und Mittelmäßiges. Trotz aller Entdeckungen um Resonanzphänomene und gepflegten erzählerischen Fluß hat man es mit so ausgetretenen Geschmacksfeldern zu tun, daß einem die Anstrengungen, sich ihm zu nähern, leicht verleidet werden, wenn man das Resultat nicht soweit bricht, daß es, drücken wir es mal zugleich überpathetisch und vereinfacht aus, eine Beleuchtung des eigenen Innen ermöglicht. Vielleicht geht das aber gar nicht. Vielleicht ist es genau dieses Gefühl von erzählerischer Richtigkeit, das die Reste eines erzählenden Selbst zwangsläufig zerstört.

Bei unseren Überlegungen über den doppelten Betrachter sollten wir allerdings eine andere Person nicht vergessen, mit der ich weniger Schwierigkeiten habe, das ist der Zuschauer: der klassische griechische Zuschauer, der sich das Ganze ansieht und zu einem eigenen Urteil gelangt. Er ist keineswegs identisch mit den Betrachtern, er ist eine zusätzliche Instanz. Er nimmt zum Beispiel wahr, daß die Bojen, die Frank aus seinem Kopf herausspuckt, in Liverpool aufgenommen worden sind, dem gleichen Liverpool, das am Ende des Films im Kannibalendorf als Spielstätte Roberts und seiner kleinen Freundin auftaucht und in den langen Sequenzen mit den Industrielandschaften zuvor deutlich sichtbar gewesen ist. Natürlich erkennt er auch, wie die Figuren einander anblicken und welche Figur sie dabei machen, er erkennt alles, einfach alles, und versucht, sich aus dem Ganzen einen Reim zu machen. Er ist der Verstehen-Wollende und der Verstehende, im Gegensatz zum doppelten Betrachter, der ein Teilnehmender ist und als Pseudohandelnder selbst ein halber Schauspieler. In ihm, dem idealen, dem unbeteiligten Zuschauer, entdecken wir auch den Richter Herodots, den, der - mit welcher Kompetenz auch immer - das Urteil über die einzelnen Szenen sprechen wird, und schließlich über den ganzen Film, die ganze Zeit.



5. DIE NEGATIVE ERZÄHLUNG

 

An dieser Darstellung läßt sich vielleicht etwas von einer anderen Grundbedingung filmischen Erzählens erkennen. Die Folge von Sätzen, mit denen ich die Sequenz beschrieben habe, stellt so etwas wie "meine Erzählung" dieser Szene dar. Sie ist eine Mischung von Plänen und Versuchen, diese Pläne in Bilder und Schnittfolgen umzusetzen. Dabei folgte ich meinem Gespür für formale und emotionale Richtigkeit des Ablaufs, zunehmend dann aber auch einer sich entwickelnden Interpretation des durch verschiedene Stufen von Fertigkeit sich offenbarenden Bilderflusses. In diesem Sinne ist es die "wahre" Erzählung des Films, weil die Sätze, aus denen sie besteht, bei den tatsächlichen Entscheidungsprozessen beim Drehen und beim Schnitt tatsächlich einigermaßen ausformuliert eine Rolle gespielt haben.

Sie ist wahr aber auch als Abdruck einer zweiten Gedankenkette, die ich als "negative Erzählung" bezeichnen möchte. Ausgangspunkt dieser "negativen Erzählung" ist die verbale Unendlichkeit der einzelnen Einstellung. Beim Betrachten eines Films wird sich jeder Zuschauer aus einem angebotenen Bild eine Kette von Vorstellungen herausholen, die für ihn dem Bild angemessen erscheinen. Diese Vorstellungen, die aus Worten bestehen können oder auch nur aus Partikeln von Aufmerksamkeit, sind bei verschiedenen Zuschauern wenn auch nicht jederzeit vollkommen verschieden, so doch nicht immer gleich. In manchen Bereichen überlappen sie sich. Und diese Bereiche sind es, mit deren emotionaler oder logischer Entwicklung die filmische Erzählung arbeiten kann. Es kommt also darauf an, die Bilder in Richtung auf gewisse Wesentlichkeiten zu komprimieren, welche dann die Bausteine der Erzählung bilden können. Ich sage bewußt "in Richtung", eine wirkliche Kompression dergestalt, daß jeder Zuschauer das gleiche in einem Bild sieht, ist vollkommen ausgeschlossen. Im übrigen ist es nicht einmal erwünscht, gerade eine gewisse Uneindeutigkeit der Bilder garantiert das Realismusprinzip der Oberfläche, ohne welche das Filmbetrachten zu einer unappetitlich sterilen Sache wird.

Man muß also bei jeder Einstellung neben dem Erscheinen der Wesentlichkeit mit dem Aufschwappen eines mehr oder weniger zufälligen Bewußtseinstroms rechnen, der wie ein "Ah" oder "Oh" eine jegliche Erzählung begleitet. Dieses Daneben schaukelt sich leicht zu einer ganz eigenen Erzählung auf, die sich mit dem eigentlichen Plan womöglich nicht recht verträgt. In solchen Fällen wird man versuchen (Voraussetzung ist natürlich, daß man Derartiges überhaupt wahrnimmt, das ist in diesem Bereich des "Vielleicht" ja durchaus nicht stets gewährleistet), diesen Nebenfluß in irgendeiner Form zu hemmen, durch ein Dazutun von etwas Kräftigerem, diese wegführende Bewegung Zerstörendem vielleicht, oder ganz simpel durch eine Wegnahme; oder auch komplizierter durch einen Rhythmuswechsel oder was immer sonst einem als Filmmacher beim Schneiden von seiner Gedanklichkeit her handwerklich zur Verfügung steht. Dieses Hemmen des Flusses der Nebenbedeutungen ist es, was ich meine, wenn ich von einer "negativen Erzählung" spreche. Sehr viel kreatives Gefühl wird bei der Filmherstellung nämlich darauf verwandt, diese unerwünschten Nebeneinflüsse so weit es geht zu eliminieren. Man könnte sogar sagen, daß sich die "positive Erzählung" letzten Endes genau dadurch ergibt, daß man die "negative" optimal unterdrückt. Daß einem sogar die Gestalt des Endproduktes, das ist vielleicht der eigentliche Punkt, erst bei dieser bewußten Optimierung richtig zuwächst. Die "negative Erzählung" enthält also all die Elemente, die im Laufe der Arbeit unterdrückt oder gar weggeschnitten worden sind, in einem erweiterten Sinn sogar all das, was einem zu irgendeinem Zeitpunkt als für den Film erwägenswert vorgekommen ist, bei dem man sich aber, oft schweren Herzens, entschlossen hat, es nicht in die eigentliche "positive" Erzählung aufzunehmen. Im gleichen Sinn kann man von einer "negativen" Biografie sprechen, die unsere eigentlichen Biografien umschließt, und gewissermaßen die Summe all der unendlich vielen Möglichkeiten und Entscheidungen ist, die wir nicht für uns getroffen haben. Diese Entscheidungen sind oft von größerer Klarheit und verraten mehr über uns, als die ins Positive zielenden anderen, von denen wir merkwürdigerweise oft nicht einmal genau wissen, ob wir sie überhaupt getroffen haben oder ob einfach etwas mit uns geschehen ist. Die meisten von uns wissen nun einmal sehr viel genauer, wie und was sie nicht werden wollen; Vorstellungen von demjenigen, was wir werden wollen, sind möglicherweise ebenso selten wie, wenn wir Auden glauben wollen, die romantische Liebe.

In diesem Sinne also, als Abdruck einer wahren "negativen" Erzählung wollen wir die oben ausgeführte Beschreibung der Sequenz an Landungssteg und Pool als wahre "positive" Erzählung verstehen, als "wahre" Erzählung eines "wahren" Erzählers. Immerhin sitze ich hier als Personifikation dieses "wahren" Erzählers vor ihnen, und als Wesen aus Fleisch, Hirn und Blut versichere ich Ihnen, meine Artgenossen, daß es sich in etwa wie von mir gerade überausführlichst beschrieben auch verhält.



6. EIN GEGEBENES LÄCHELN

(nur skizziert)

Eine wunderbare Einstellung: eine Darstellerin blickt auf nicht recht definierbare Weise leicht an der Kamera vorbei, etwas verdrießlich vielleicht, und plötzlich (eigentlich ganz allmählich, man bemerkt es nur plötzlich) hellt sich dieses Gesicht auf und endet in einem strahlend entwaffnendem Lächeln, das von der Schönheit der Welt erzählt oder der Schönheit eines gedachten Gedankens. Es war, als ich die Muster meines Filmes sah, eine der schönsten Einstellungen, die ich gedreht hatte, alles in ihr schien zu stimmen. Ich wünschte mir, ich hätte mehr solche Einstellungen inszeniert und die enormen Fähigkeiten dieser Darstellerin besser genutzt.

Als ich versuchte, sie in das Schnittgefüge der Szene einzubauen, wollte sie sich aber nicht recht einfügen lassen, lange vermochte ich das nicht zu verstehen. Die Einstellung war gut photographiert, die Schauspielerin ergreifend, die Szene auf das Lächeln hin inszeniert, eigentlich hätte alles zusammenpassen müssen. Allerdings war die Einstellung im Verhältnis zu den sie umgebenden etwas lang, zeigte sie doch den Übergang von einem Befinden in ein anderes und so etwas kostet eine gewisse Zeit. Nach einigen Tagen, in denen ich versuchte, die Einstellung in ihrer perfekt anmutenden Vollständigkeit zu retten, fiel mir nichts anderes mehr ein, als sie in zwei Teile zu zerlegen. Diese beiden Teile werden von einer Einstellung unterbrochen, welche die Person zeigt, auf die sie gerade blickt, und deren Befindlichkeit sie laut Regieanweisung gerade begrübeln sollte. Auch bei dieser Lösung war mir nicht recht wohl. Abgesehen von der Billigkeit der Schnittfigur schien die enorme Leistung der Schauspielerin ihres Geheimnisses beraubt und sich geradezu in Schäbigkeit zu verwandeln.

(Später erfuhr ich, daß gerade dieses entstehende Lächeln in Schauspielschulen bis zum Exzeß geübt wird, man kann an ihm sogar Schauspielstile unterscheiden; mit wie wenig Wissen über Schauspielerei darf man eigentlich Filme drehen, he?)

Dennoch - mein plötzliches Mißfallen war nicht in der Enttäuschung zu suchen, nur Zeuge einer geübten Darbietung gewesen zu sein (wie etwa einer Pflichtübung im Bodenturnen), es hatte mit dem Schnittgefüge zu tun und gewissen Grundvorstellungen von Filmschnitt in meinem Kopf.

In meinen letzten Physikerjahren versuchte ich nämlich einiges von der Quantenfeldtheorie zu verstehen. Das war - für mich jedenfalls - nicht ganz leicht, weil selbst der Begriff "verstehen" in der Feldtheorie merkwürdig verschwommen daherkommt. Eins habe ich aber trotzdem mitbekommen, es hatte damit zu tun, daß man selbst in Situationen, in welchen man als so ein Physiker nichts über die Struktur einer Interaktion weiß, doch zu Beschreibungsformen komplizierter Vorgänge gelangen kann, obschon sie diese unbegriffene Interaktion enthalten. Ich hoffe, das klingt nicht zu kompliziert, im Grunde ist es sogar sehr einfach. Eine recht brauchbarer Begriff ist dabei der sogenannte "Zustand" eines Systems. Unterliegt ein solcher einer Interaktion, verwandelt er sich von einem Anfangszustand in einen Endzustand (die verdrießlich vor sich hinblickende Schauspielerin wird zur Idee des Lächelns). Selbst wenn die Struktur der Interaktion unbekannt ist und die Zwischenzustände nicht zugänglich sind, läßt sich, das ist eine bemerkenswerte Erkenntnis, allein aus den Anfangs- und Endzuständen ein Formalismus entwickeln, der nicht weniger rigide und logisch geschlossen ist, als beispielsweise die Newtonsche Mechanik, in der man das Interaktionsgesetz ja bekanntlich genau beschreiben kann. Die Stelle der Kraftgesetze nimmt eine sogenannte Streumatrix ein, welche im wesentlichen die Übergangswahrscheinlichkeiten des Anfangs- in die dem System möglichen Endzustände beschreibt.

In Situationen, in denen die Interaktionen undurchsichtig sind, auf dem Gebiet der Elementarteilchen ist dies nahezu alles, sucht man daher also, möchte man einen Vorgang beschreiben, vor allem nach Regeln zur Berechnung der Übergangswahrscheinlichkeiten. Im Sinne eines klassischen Verstehens mag das unbefriedigend klingen, es ist aber möglicherweise das einzige was man an der Natur überhaupt verstehen kann. Die Kenntnis aller Übergangswahrscheinlichkeiten ist in den Augen vieler heutiger Physiker der Kenntnis des Interaktionsgesetzes, aus dem man diese Wahrscheinlichkeiten schließlich erst ableiten muß, sogar überlegen.

Die Struktur des von uns erfahrenen Lebens selbst ist natürlich nicht viel einfacher als die der materiellen Welt. Auch hier können wir mit einer gewissen Fertigkeit einigermaßen stabile Zustände beschreiben. Sobald es aber zu zügigen Veränderungen kommt, sind sowohl unsere Beschreibungs- als unsere Verstehensversuche von einer (für einen klassischen Sinn) bestürzenden Einfältigkeit.

Eine der in meinen Augen interessantesten möglichen Schnittfiguren ist das einfache Aufeinanderfolgen zweier Einstellungen, die den gleichen Ort zu verschiedenen Zeitpunkten beschreiben (das Bild einer Fabrik im Ruhrgebiet von 1930zum Beispiel und eins von jetzt jetzt). Im Sinne der Quantenfeldtheorie wäre ein solcher Schnitt die Abbildung eines an einem festen Ort über 60 Jahre ablaufenden Streuprozesses. Es ist unvorstellbar, diesen ganzen Prozeß in einem Film zu zeigen. Im übrigen würde dies gemessen am Aufwand ganz wertlos sein, viele der Kräfte, welche die Umgestaltung der Elemente dieses Bildes beeinflußten, finden wir in der Einstellung ja gar nicht wieder. Wir müßten ein Bild der ganzen Welt mitliefern, selbst wenn es einem gelingt, gibt es darüber hinaus Kräfte, die überhaupt nicht abbildbar sind. Die bloße Aufeinanderfolge dieser beiden Einstellungen enthält aber schon Beachtliches. Im Sinne von Abbildbarkeit stellt es vielleicht das Äußerste dar, vielleicht sogar alles, was überhaupt einwandfrei und ohne ideologische Spekulation möglich ist. Natürlich ist es Geschmacksfrage, wie genau man solche von einem großen Zeitsprung sprechende Einstellungen miteinander koppelt. Mein Temperament würde eine Abblende empfehlen, gefolgt vom plötzlichen Erscheinen des neuen Zustandes, jemand anders mag sich für einen Zwischentitel entscheiden, noch jemand anderes würde vielleicht eine Einstellung vom Himmel oder von Hitler dazwischen schneiden, um den Übergang weicher zu machen. Bei diesem Weicher-Machen des Übergangs beginnt natürlich die Ideologie, meistens wird dabei eine Kausalstruktur angedeutet, von der man annimmt, sie habe an dieser Veränderung mitgewirkt.

Zurück zu der Einstellung mit dem entstehenden Lächeln. In ihr sind Anfangs- und Endzustand zugleich enthalten, dazu sämtliche dazwischenliegenden Phasen. Mein Sinn für Wirklichkeit, genauer gesagt, für deren von mit erkannte Kompliziertheit, hat wohl dazu geführt, daß ich den Mittelteil (bis auf die letzte, vom Entstehen noch gerade so sprechende letzte Viertelsekunde) heraus und das Bildfeld des von ihr ausgesandten Blicks dazwischen schnitt. In diesem ist zwar in Wirklichkeit nicht der Grund ihres Lächelns zu finden (der Grund ist der Wille zur Zurschaustellung dieser Fähigkeit), immerhin ist er es aber im Kontinuum der Erzählung.

Im wirklichen Leben kenne ich gewiß Menschen die nicht nur mitunter lächeln, aber ich bin mir weniger sicher, ob ich auch nur ein einziges Mal je so einen Übergang wie in jener Einstellung gesehen habe, außer als Wunschvorstellung, diesen geheimnisvollen Übergang zu einem von innen herauskommenden Lächeln. Habe ich immer weggeschaut? Fast immer scheint so ein Lächeln auf einmal da zu sein, vielleicht bemerkt man es immer erst dann. Sieht man solche Übergänge tatsächlich einmal, sind sie nicht selten übertrieben und zeugen von Verstellung. Und eigentlich möchte ich mir das Geheimnis der Entstehung des Lächelns erhalten, möchte "Plötzlich ein Lächeln..." als Satz vernehmen und nicht: "Allmählich begann sie zu lächeln". Ich mag die Zwischenstufen nicht, ich mag kein ausgeführtes Kausalitätsgesetz, im Grunde will ich nur die Anfangs- und Endzustand von Vorgängen wahrnehmen müssen, dazwischen höchstens noch eine Geste.

Anders vielleicht bei einem Gehbehindertem, der sagen wir mal an einem Tisch auf einem Stuhl sitzt, und danach auf einem Rollstuhl fährt. Oder bei der Geschihte des Zweiten Weltkriegs. Da würde ich mich für den Übergang interessieren: wo es mühsam ist, von einem Zustand in den anderen zu gelangen. Hier würde ich also gern den ganzen Vorgang sehen, oder vielleicht doch nicht? Genaugenommen handelt es sich in solchen Fällen um mindestens drei Zustände: der Moment des Übergangs dehnt sich wegen der ihm innewohnenden Mühsal nämlich so aus, daß er selber ein Existenzzustand wird, der einer Beschreibung wert ist. In einer Schnittfigur würde man dann drei Zustände aufeinander folgen lassen, und sie durch zwei Zwischenschnitte unterbrechen.

Beim Drehen dieses Films habe ich erstaunlich viele Einstellungen von Personen gemacht, die liegen und noch halb schlafen, kurz nach dem Anlaufen der Kamera erwachen sie, setzen sich auf oder kommen gar ins Stehen. Eine grauenhafte Zeitverschwendung, in den Einstellungen selbst bereits, aber vermehrt noch in einem Montageverbund. Solche Prozesse interessieren nur im Ausnahmefall (bei dem Gehbehindertem zum Beispiel), sie suggerieren eine Pseudokausalität, die im Grunde peinlich ist. Und außerdem verschlingen sie viel Zeit, zwanzig Sekunden sind da überhaupt nichts, oft braucht man eine Minute, nur um zu zeigen, daß eine Person aufwacht und aufsteht. Selbst das ist natürlich knapp, gemessen an der Wirklichkeit, aber die Ökonomie eines dramatischen Films erlaubt derartige Geschwätzigkeit nur, wenn sie noch etwas anderes bedeutet.



7. ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST

 

Filmauschnitt "Ich sehe was, was Du nicht siehst" (nur CD-Version / Dateiname: Un6.avi)

 

Nachdem sich Frank, der einstige Bojenverkäufer, als unsensibles Monster mit wahrscheinlich finsteren Absichten entlarvt hat, sitzt er mit Robert an einem Landungssteg, an dessen Ende Carla trübe ins Ferne schaut. Als Frank auffällt, mit welch prüfender Eindringlichkeit er von Robert betrachtet wird, beschwert er sich, daß auf diese Art nicht angeblickt werden möchte, woraufhin Robert meint, daß man seinen Blick nicht einfach kontrollieren könne. Um dies zu demonstrieren, dreht er sich nach Carla um, womit er nicht nur die Reflexbedingtheit des männlichen Blicks demonstriert, sondern auch, daß er sich nun, nach dem offensichtlichen Scheitern ihrer Ehe, Hoffnungen auf diese Carla macht. Auf die Großaufnahme des nunmehr auf sie blickenden Robert folgt eine Totale mit der recht fernen Carla. Jetzt, da sie angeblickt wird, kann sie aber offenbar ihrerseits ihren Blick nicht mehr kontrollieren und dreht sich zu den beiden Männern um, obwohl sie sich gerade zuvor in einem Stadium der Beleidigtheit abgewandt hatte. Im off vernehmen wir dazu Roberts Text: "Wenn du willst, dann schaue ich dich überhaupt nicht an." - genau dies ist der Moment, an dem sich Carla umblickt - "Ich schließe meine Augen." Noch während Robert spricht, setzt sich Carla in Richtung der beiden in Bewegung und wirft dabei energisch die Haare aus dem Gesicht: ihre Sache ist es nicht, jetzt die Augen zu schließen. Als auf Robert zurückgeschnitten wird, der noch immer in Richtung Carlas blickt (also weiß, daß sie auf ihn zukommt), dreht er sich zu Frank zurück und schließt, nachdem er ihn kurz angeblickt hat, tatsächlich die Augen.

An dieser Stelle sollte ein Umschnitt auf den nun seinerseits Robert anblickenden Frank erfolgen. Dieser Schnitt sah aber merkwürdig aus. Es hatte vermutlich damit zu tun, daß Roberts Augen geschlossen waren. Weil sie nichts mehr sahen, konnten sie in dieser Montagefolge, die bis dahin ausschließlich auf Blicke angelegt war, auch keinen Schnitt mehr generieren. Man kann sagen, daß ich mich durch die Logik des Schnitts in einer Sackgasse verrannt hatte.

Es sollte ein Umschnitt auf Carla folgen, die dieses intime Gespräch der Männer aus etwas größerer Nähe mit skeptischer Eifersucht verfolgt, denn dieser Akt, daß jemand die Augen schließt, nachdem er dich angeblickt hat, ist außerordentlich intim und rührend. Daß Robert die Augen schließt und sich Franks Blick ohne Gegenwehr ausliefert, obwohl er und wir wissen, daß Frank ein ziemlich übler Bursche ist, hat etwas Ergreifendes. Aber Robert ist eben das geborene Opfer, eine Art, wenn man so will, Lamm Gottes.

Wie gesagt, so war es geplant - aber es klappte nicht, weil der Film nach dem Augenschließen nicht weiterwollte. Höchstens ein direkter Umschnitt auf Carla war möglich, dieser war aber vom Inhaltlichen her unsinnig, weil dadurch die Beziehung zwischen Robert und Carla überstark erschienen wäre.

Im fertigen Film schaltet sich nach Roberts Augenschließen die Stimme des Erzählers ein und sagt aus dem off: "Als Robert die Augen schloß", - genau die im Bild sichtbare Situation - "konnte er Frank als das sehen, was er wirklich war, als tapferen Mann in einer tapferen Welt." Auf die Worte "tapferer Mann" wird auf Frank umgeschnitten, aber nicht auf den Frank, der am Landungssteg sitzt (den kann Robert mit geschlossenen Augen ja nicht sehen), sondern wie er in einer Steinwüste (der tapferen Welt) steht, dort einen Geologenhammer in den Gürtel schiebt (tapferer Mann und Wissenschaftler mit seinem Werkzeug) und sich selbstsicher auf einen Felsen setzt (tapferer Mann in tapferer Welt). Wir sehen also bis in die Wortnunancen genau das, was uns der Erzähler verspricht. Gleichzeitig ist es das, was Robert angeblich sieht, als er die Augen schließt, es ist also tatsächlich die direkte Fortsetzung von Roberts Blick im Sinne einer herkömmlichen erzählerunabhängigen Raumkonstruktion.

Durch diese mehrfache Verkopplung steht dieser Schnitt in der Sequenz außerordentlich stabil da, obwohl er die Absurdität selbst ist: man sieht, was jemand sieht, wenn er nichts mehr sieht.

Damit nicht genug, erst jetzt (das ganze bisher spielt sich innerhalb von 15 Sekunden ab) wird die Montage gänzlich merkwürdig. Es folgt der Umschnitt auf Carla, welche die beiden beobachtet. Aber was man sieht ist eigenartig: ihr Gesicht wirkt erstaunt, weil jemand anderes Frank als tapferen Mann in einer tapferen Welt wahrnehmen kann, obwohl sie ihn inzwischen als üblen Mitgiftjäger entlarvt hat, dessen Menschlichkeit selbst in Frage steht. Das liest man jedenfalls als Zuschauer in Carlas Gesicht, und das ist das eigentlich Erstaunliche: Der Zuschauer denkt, Carla sieht ein Bild, das Robert nur sieht, wenn er die Augen schließt, dessen Existenz also Roberts Geheimnis ist, und nur durch den dazwischengeschalteten Erzähler offenbart wurde. Und das Ganze ist durchaus nicht in irgendeinem Traumraum angesiedelt, sondern ganz massiv und solide an einem Landungssteg im Südpazifik, mit wirklichen Blicken und wirklichen Bewegungen.

Nun wollte ich danach Frank zeigen, wie er wirklich "wirklich" war, als Mann auf einem Landungssteg, aber immer noch nicht, trotz Carlas Intervention ging das, denn Robert hatte immer noch die Augen geschlossen und sah den tapferen Frank. Deshalb mußte ich wieder auf Robert mit geschlossenen Augen zurückschneiden - jetzt aber wird das Impassee aufgehoben und zwar durch Franks reale Stimme im off. Er sagt "Das reicht nicht" (woraufhin der Zuschauer denkt "Das reicht!" und ab jetzt eine normale Schnittfortsetzung akzeptiert). Währenddessen bleibt unklar, was Frank eigentlich damit meint: Meint er, daß ihm dieses heroische Bild von ihm als Tapferen noch nicht heroisch genug ist, oder nur, daß es nicht reicht, die Augen zu schließen? Eigentlich dürfte Frank nur das Augenschließen meinen, er kann ja Roberts Vision nicht kennen, dennoch akzeptiert man als Zuschauer aber auch die auf Tapferkeit zielende Variante, bloß weil man selbst in der Lage ist, den Gedanken aus Franks Perspektive so zu denken. Durch diese Zweideutigkeit aber wird die Verzauberung der Montagefolge leicht aufgehoben, nicht stark genug zwar, um endlich den in wirklichem Fleisch und Blut am Landungssteg hockenden Frank zu zeigen (das ging weiterhin nicht, weil Robert immer noch die Augen geschlossen hatte, und Franks Satz für Weitergehendes zu ambivalent war), aber ausreichend für die folgende Einstellung, eine Totale von Robert und Frank, in welcher Robert mit auf einmal geöffneten Augen Frank fragt: "Wie soll ich dich denn dann angucken?". In diesem Moment ist der Blick wieder real, weil Robert im Moment des Umschnitts die Augen geöffnet haben könnte, obwohl wir dies nicht ausdrücklich gesehen haben. Und so antwortet Frank jetzt normal und beschreibt ihm, wie er angeguckt werden möchte, mit Schmelz nämlich, und Carla kann ihre Eifersucht in kindlichen Lärm verwandeln, indem sie einen Dieselmotor anwirft.

Wir haben also eine eigentlich ganz simple Einstellungsfolge von 7 sehr einfachen für sich absolut banalen und geheimnislosen Einstellungen von insgesamt 40 Sekunden Länge vor uns:

1. Robert groß: man kann seinen Blick nicht einfach kontrollieren, wendet sich von Frank zu Carla 4sec

2. Carla am Ende des Landungssteges, dreht sich nach einiger Zeit um, und kommt auf die beiden zu. Roberts Stimme: Wenn du willst, gucke ich dich überhaupt nicht an, ich schließe meine Augen. 8sec (12)

3. Robert dreht sich zurück zu Frank und schließt die Augen. Erzähler im off: Als Robert die Augen schloß, konnte er Frank als das sehen, was er wirklich war, als..." 11 sec (23)

4. Frank steckt den Geologenhammer ein und setzt sich auf Stein, Text im off: "Als tapferen Mann in einer tapferen Welt". 8 sec (31)

5. Carla nah, guckt in Richtung der beiden 2 sec (33)

6. Robert mit geschlossenen Augen, Frank im off: Das reicht nicht" 5sec (38)

7. Die Auflösung: Robert und Frank in der Totale, Robert mit geöffneten Augen: Wie soll ich dich denn angucken, und Frank daraufhin: "Wie ich dich angucke."

Wenn man aber die Frage nach dem Standpunkt des Erzählers stellt, ist dieses Geflecht kaum noch auflösbar. Eine in dieser Undurchdringlichkeit aktive Rolle spielt natürlich die im off erklingende Stimme des "realen" Erzählers, aber dieser, das erkennt man aus der gerade erfolgten Beschreibung, ist selbst nur ein Teil des wirklichen Erzählers, der irgendwo zwischen Film und Zuschauer sein Unwesen treibt.

Noch ein Wort zur Art der gerade erfolgten Beschreibung dieser Sequenz. Es handelt sich eigentlich nicht um das, was man üblicherweise als Interpretation bezeichnet. Die Darstellung meiner Absichten bei der Konstruktion ist eher eine fast schon neutrale Strukturanalyse der Beziehungen der Einstellungen untereinander, sie ist ziemlich unabhängig von der genauen Botschaft und dem genauen Zusammenhang des Films. Solche Analyse kommt dem Reiz der Sequenz nur vermittelt nah, sie beschreibt bloß den handwerklichen Teil der Schnittfolge, so wie man auch eine Analyse der Aufeinanderfolge der harmonischen Felder eines klassischen Musikstücks im Rahmen einer Harmonielehre machen kann, ohne den Reiz eines melodischen Verlaufs beispielsweise auch nur zu berühren.

Im Vokabular einer solchen Harmonielehre könnte man das in Spielfilmen übliche Schuß-Gegenschußverfahren mit anschließender Auflösung in einer verbindenden Totalen als die klassische Grundkadenz des Spielfilms bezeichnen. Die gerade von uns gesehene Sequenz ist eine Variation dieser Grundkadenz, wobei der normale Ablauf durch einen eigenartigen Querstand überlang aufgehalten wird, und erst nach einigen Zwischenstufen, am Ende doch recht gewaltsam erfolgt (Wie soll ich dich denn nun angucken?).

Ein wirklich kompliziertes Geflecht von Strukturanalyse und Interpretation beginnt in diesem Film erst in der nächsten Sequenz, in welcher der Erzähler eine stärkere Präsenz bekommt, und der Raumaspekt der Schnittfolge nur noch marginal ist.



8. MÜDER WANDERER IN EINER VERLORENEN WELT

 

Filmausschnitt: "Müder Wanderer" (nur CD-Version / Dateiname: Un7.avi)

 

Die Sequenz beginnt mit

1. einer Einstellung, in welcher Carla mit einer Flagge in der Hand auf dem Segelboot ins Bild kommt und sich an einer Leine zu schaffen macht, während Robert in der Nähe des Ruders mit dem Fernglas nach links blickt. Dazu hören wir den Kommentar in einer fast lyrischen Beschwörung dieser Szene: "Oh ihr Inseln von Männern und Mädchen."

Sie wirkt für die Einstellung zu kräftig und drängt über sie hinaus, als vielleicht eine Überschrift für eine ganze Sequenz, wie es sie schon einige Mal in diesem Film gegeben hat. Vorerst können sich diese Worte aber höchstens auf die beiden im Bild sichtbaren Personen beziehen, die bei einem Zuschauer freilich eher den Anklang Junge und Mädchen auslösen, wobei man das Fernglas mit einiger Anstrengung vielleicht auf eine mögliche Mannwerdung dieses Jungen projizieren könnte. Als Insel wiederum kann bestenfalls das Boot selbst gelten, das Boot auf dem offenen Meer.

2. In der nächsten Einstellung erscheint das Objekt, das Robert und Carla am Ende der vorigen Einstellung erblickt haben könnten, eine Inselgruppe am Horizont: eine größere Insel, die man mit einigem guten Willen vielleicht als Mann bezeichnen könnte, und zwei kleinere, die als Mädchen oder Mädchen und Kind durchgehen könnten. Der Satz aus der vorigen Einstellung hat sich also verbildlicht, wobei die Inselgruppe selbst das Abbild der Gruppe in dem Boot ist: Oh, Ihr Inseln von Männern (=Frank) und Mädchen (=Carla und Robert, wobei zugleich die infantile, die ins Homosexuelle nur spielende Wertigkeit Roberts angesprochen wird).

3. Es folgt die Fortsetzung der ersten Einstellung, nur daß die Kamera jetzt leicht nach oben schwenkt und, dabei Robert mit dem Fernglas aus dem Bild verlierend, sich ganz auf Carla konzentriert. Vor dem offenen Horizont hißt sie eine Flagge, eine Bild werdende Sprechblase sozusagen, auf welcher ein diagonales rotes Kreuz auf weißem Grund zu erkennen ist - eine Metamorphose sowohl des Union Jack (durch die Diagonalität des Kreuzes) als auch ein negatives und gedrehtes Bild der dänischen Flagge, die zu Beginn des Films in Marseille auftaucht, als Robert auf einer solchen Flagge, die einer Parkbank als symbolisches Tischtuch auflag, frühstückte und auf Franks Frage, woher er komme, mit einem schlichten "Danmark" antwortet. Im internationalen Flaggencode bedeutet diese Flagge indes genauer: "Ich brauche Hilfe" und signalisiert damit präzise Carlas Zustand.

4. Anschließend ist wieder die Inselgruppe zu sehen, an die Carla offenbar ihre Botschaft schicken möchte, als reale Aktion absurd, da die Inseln klein und unbewohnt sind. Da sie vom Text her aber einen Teil der Menschheit repräsentieren ("Oh ihr Inseln von Männern und Mädchen") wird die Flaggenhissung zu einem stummen Hilfeschrei.

5. In der nächsten Einstellung ist der Verursacher dieses Schreis wahrzunehmen: Frank. Er beschäftigt sich mit einem Gummischlauch, in den er kurz hineinbläst, bevor er ihn in einen durchsichtigen Plastikbeutel packt. Dabei entsteht ein wenig der Eindruck, er spiele mit seinem Geschlechtsteil, während seine Frau um Hilfe schreit. Dann hören wir jemand, vermutlich Carla, ins Wasser springen, vielleicht weil sie begriffen hat, daß niemand ihren Hilferuf hören oder verstehen wird: wer kennt schließlich schon das Flaggenalphabet. Frank hat dieses Platschen ebenfalls gehört, denn er blickt in Richtung der Inseln, so daß man die Quelle des vernommenen Geräusches an der Steuerbordseite vermutet. .

6. Gleich danach taucht, richtig, Carla aus dem Wasser auf, sie will anscheinend aber nur baden, ganz ohne suizidale Hintergedanken ruft sie sogar heraus: "Oh, ist das schön!" Das in diesem Ruf enthaltene Glück wirkt ein wenig forciert, die Stimmung im Wasser ist dafür zu trübe, wegen seines in dunkles Türkis verwandeltem Pazifikblau aber als Grundlage möglichen Glücksgefühls immer noch glaubwürdig.

7. In der nächsten Einstellung sieht man die Inselgruppe, während Carlas Stimme nun im off aus dem Wasser herausruft: "Oh, ist das schön!", etwas näher, wodurch nur noch zwei der Inseln im Bild sichtbar sind, eine größere - vielleicht Frank - und eine kleine - sie könnte für Carla stehen. Deren Beharren auf Schönheit scheint den üblichen Südseetraum zu evozieren, wobei sowohl der trübe verhangene Himmel als auch Carlas bekannt verzweifelte Stimmung nicht recht passen wollen.

8. Es folgt eine Einstellung mit Frank, der ein neues Objekt in die Hand nimmt, diesmal ein Pornoheft mit dem Titel Keyhole (das hat einen Bezug auf die Las Vegas-Sequenz, in welcher Schlüssel eine entscheidende Rolle spielten). Während Frank das Pornoheft aufschlägt, spricht der Erzähler den Text: "In Frank regte sich kein Mitgefühl", was man als Zuschauer vage auf das gerade Geschehene beziehen möchte, auf Carla und ihre Verzweiflung. Weder mit dieser scheint Frank Mitgefühl zu haben, noch scheint er jetzt irgendein Gefühl für die verführerische Textur des Wassers, in welchem sie badet, entwickeln zu können, oder für die Nettigkeit des Inselpanoramas, das für im Norden wohnende Naturen eigentlich für fühlbare Naturschönheit schlechthin gelten sollte. Gleich vernehmen wir freilich den Grund für diese Abwesenheit des eigentlich von uns Erwarteten: "Er fühlte sich allein." Diesen Zustand zu spüren und auch noch zu wagen, ihn zu benennen, kostete ihn womöglich das letzte ihm mögliche Mitgefühl, und wir hören weiter: "als müder Wanderer in einer auskühlenden Welt." Zu diesen Worten schlägt er das Pornoheft auf und blättert darin herum, wandert also sozusagen durch die Seiten, deren bloße Existenz von professioneller Kühle spricht, weder neugierig noch aufgeregt tut er es, sondern so, als hätte er das Heft schon tausendmal gesehen - müde also, das Gegenteil von erhitzt, bis in den tiefsten Grund abgekühlt, in einer Gesellschaft, in der Sexualität deutlich an Hitze verloren hat. Und wie um die Tatsache des in seinem Inneren Ablaufenden zu bestätigen, hören wir noch einmal:" Er war allein" - allein mit sich und den kümmerlichen Resten seiner Sexualität, ließe sich denken, bis dieser triviale Gedanke in der nächsten Einstellung eine neue Modifikation erfährt - dort hören wir nämlich den seine Befindlichkeit noch steigernden Satz: "Ein Meer von allein."

9. Zu diesem sieht man Carla im Meer schwimmen und sich im Wasser drehen. Auch Carla ist allein, in ihrem Sich-Drehen auf radikale, auf metaphysische Weise beinahe, entsetzlich allein. Im Hintergrund ist nun wieder die Inselgruppe zu entdecken - konnte man bei dieser bislang annehmen, es handele sich bei ihr nur um einen plumpen, das Literarische der Sequenz betonenden Zwischenschnitt, der eigentlich an einem ganz anderen Ort gedreht wurde, erkennen wir jetzt, daß der Raum, in dem sich dieses doppelte Drama der Alleinheit abspielt, physisch real ist, daß es also in der Wirklichkeit stattfindet, was weitaus gefährdender ist, als ein literarisches Bild von Männern und Mädchen.

10. Dieses Wirklichkeitsmoment setzt sich nun in der nächsten Einstellung, während wir Carla weiter schwimmen hören, ins Praktische fort, wie Frank mit einer Schere das Pornomagazin durchschneidet, in seiner Alleinheit also noch einen Kastrationsakt durchführt.

11. In der nächsten Einstellung schwimmt Carla vor den drei Inseln, gerät dabei aber aus dem Bild, so daß auf einmal die Anfangseinstellung entsteht (tatsächlich war diese die direkte Fortsetzung dieser Szene).

12. Frank setzt die Verstümmelung des Pornoheftes fort, indem er einen Streifen, der aus etwa einem Drittel des Heftes besteht, herausschneidet und ihn

13. in einer Naheinstellung dann zu dem Schlauch in den Plastikbeutel zu anderen Utensilien eines Survival-Kits steckt, Teil eines raumsparenden Konzepts bei weiteren Plänen vielleicht, oder nur zwanghafte Transformation des Heftes in eine penisartige Form. Dabei kommen die Reste des Pornomagazins auf der Sitzbank neben einem internationalen Flaggenalphabet zu liegen, auf welchem man im Kino bei einiger Anstrengung sogar die Bedeutung von Carlas Flagge, den Hilferuf also, erkennen könnte. Frank packt sich die Reste und wirft sie, deutsche Seele, die er von Grund auf ist, ordentlich über Bord.

14. Auf der anderen Bootsseite kommen nun Carla und Robert ins Bild geschwommen, Carla zeigt nach oben zur Reling und ruft plötzlich: "Er hat Blut an den Händen". Während sie beide langsam unten aus dem Bild verschwinden, erscheinen auf der weißen Reling in der Tat zwei blutverschmierte Hände.

15. In der nächsten Einstellung sieht man Frank von hinten vor den Inseln, die blutverschmierten Hände auf der Reling, wozu der Erzähler bemerkt: "Müder Wanderer in einer verlorenen Welt."

16. Auf "Verlorene Welt" erscheint wieder die Naheinstellung der blutigen Hände, anschließend

17. wieder die Totale von hinten, die in einer Abblende verschwindet.

Der Schlußkomplex mit dem Blut vor den Inseln wirkt, bei aller spielerischen Komik, für das eher Besinnliche dieser Sequenz ein wenig zu drastisch. Dieser Zug wird vielleicht verständlicher, wenn man erfährt, daß der Satz "In Frank regte sich kein Mitgefühl" in einer früheren Fassung "In Franks deutscher Seele regte sich kein Mitgefühl" hieß, womit zum ersten Mal explizit auf Franks Deutschheit hingewiesen werden sollte (die ein Ausländer nicht verkennen kann, er weiß ja, daß er in einem deutschen Film sitzt, zudem hat Franks Englisch klar erkennbar einen deutschen Akzent). Dabei sollte das Wort "Mitgefühl" in seiner spezifischen Spannung zum Wort "Gefühl" erklingen, wobei die Worte "Deutsch", "Mangel an Mitgefühl" bei gleichzeitiger extremer "Gefühligkeit" (müder Wanderer in einer abkühlenden Welt) sozusagen den Auschwitzdreiklang bilden, der für die Welt mittlerweile die Signatur des Deutschen geworden ist. Unter diesem Dreiklang will der Fortpflanzungswillen nicht recht blühen und verirrt sich bereitwillig in Pornographie und Selbstkastration. Das Blut an den Händen veroffensichtlicht sich dadurch zu beinahe einem Gemeinplatz der mittransportierten Schuld, die Frank auch im letzten Südseeinselwinkel bestenfalls ein Pseudoerleben von Schönheit erlaubt.

Bezieht sich "müder Wanderer in einer verlorenen Welt", in dem sich das eher deskriptive "abkühlend" in das selbstmitleidige "verloren" verwandelt hat, noch relativ verstehbar auf die Gefühligkeit des Deutschen als Spätfolge der Romantik, dringt Franks Nachempfinden dieser Gefühligkeit weiter ins Unverständliche vor und erreicht in genau dem Moment einen grotesken Höhepunkt, als die Abblende beginnt. Dann nämlich fängt die Stimme des Erzählers auch noch zu singen an und preßt in einer übergefühlvollen Schubertparodie die Zeilen: "Oh sag mir nicht wie müd ich bin, oh sag mir nicht wie müd ich bin..." heraus.

18. Zu diesem Gesang sieht man Frank an einem ganz anderen Ort liegen, in einer merkwürdigen Steinlandschaft, die ein wenig an Italienbilder des frühen neunzehnten Jahrhunderts erinnert, Frank im Schatten schlafend, Carla und Robert hinter ihm stehend und ihn betrachtend. Im Hintergrund die Sonne auf dem Meer. Während der Erzähler singt, blendet das Bild ab, dann

19. blendet die gleiche Einstellung, etwas näher, wieder auf - und wieder ab,

20. wonach in einem supertotalen Umkehrschuß noch einmal aufgeblendet wird, in welchem synchron zum erneut herausgesungenen "Oh" im linken Vordergrund ein massiger Felsen in Form eines dicken "O" erscheint. Diesmal sind Carla und Robert von hinten sichtbar, vor dem schlafenden Frank, hinter dem Meer liegt in der Ferne sonnenbeschienenes grünes, heiteres Land (vielleicht ist es das, in welchem die Zitronen blühn), dann wird wieder abgeblendet, das Singen bricht ab, und

21. Robert und Frank befinden sich wieder auf dem Segelboot - schlafend liegen sie am Mast, Opfer einer wirklichen, einer natürlichen Müdigkeit.

Ein einziges Wort, das Wort "deutsch" in dem Satz "In Franks deutscher Seele regte sich kein Mitgefühl" hätte also vermocht, die ganze Sequenz ziemlich eindeutig zu strukturieren. Eine Zeitlang überlegte ich, lachen Sie mich nicht aus, ob ich diese Strukturen nicht sogar noch verdeutlichen sollte, indem ich ein Bild aus einem Konzentrationslager einschnitt. Das schien mir dann aber doch zu dick aufgetragen, und vieles, was ich beim Drehen dieser Sequenz in andere Richtung gehend viel klarer empfand, drohte in dem so entstehenden Interpretationssog unterzugehen.

Damit möchte ich eine neue Ebene ins Spiel bringen. Die Einstellungsfolge der Sequenz ist klar erkenntlich auf die drei Auf- und Abblenden mit dem liegenden Frank zugeschnitten. Diese Szene wurde ganz am Ende des ersten, des entscheidenden Drehabschnittes gedreht. Zu diesem Zeitpunkt war ich auch mit meiner Kraft ziemlich am Ende und zudem mit den Darstellern zerstritten, außer mit Frank, weswegen ich mich mit diesem, der eigentlich am wenigsten sympathischsten Gestalt des Films, zu identifizieren begann. So begriff ich die Einstellungen mit ihm und den ihn und sein Liegen gleichgültig betrachtenden Robert und Carla als eine Art Selbstporträt. Und die Müdigkeit, von der im Film an dieser Stelle die Rede ist, ist die tatsächlich dort von mir erlebte, eine beinahe endgültige Erschöpfung, von der ich mich bis jetzt, ich sage das jetzt einfach mal so, noch nicht erholt habe. Diese Erschöpfung, die auch Ausdruck einer Erschöpftheit im Umgang mit dem Medium Film ist, hatte eigentlich nichts mit dem Erbe des Faschismus zu tun, höchstens sehr indirekt hatte sie es, weil sie am Endpunkt eines langen Weges stand, in meiner künstlerischen Arbeit, die selbstverständlich, wie konnte sie nicht, im Schatten der deutschen Katastrophe lag. Diese Erschöpfung projizierte ich beim Schnitt des Films auf Frank, deshalb bekommt er hier, er bekam sie schon in der vorigen Sequenz, diese seltsamen Züge ("tapferer Mann in einer tapferen Welt"), die mit der Flachheit, der Grobheit der vorher unter gleichem Namen agierenden Figur wenig zu tun haben. Gerade in der Einstellung mit den blutigen Händen vor den Inseln konnte ich mich wiedererkennen, der ich ja, für dieses Unternehmen verantwortlich, ein ganzes Team an diesen fernen Ort geschleppt hatte, inzwischen erschöpft und selbst vollkommen unfähig, auch nur das geringste Gefühl für die unglaublich schöne Szenerie, in der wir da drehten, zu entwickeln.

Weil mir der Satz von der mitgefühlsarmen deutschen Seele gegenüber dieser realen Erfahrung zu platt vorkam, nahm ich die Eindeutigkeit wieder zurück, Gott sei Dank werden Sie sagen, ich sage es auch, und ließ bloß noch "in Frank regte sich kein Mitgefühl" stehen, wobei ich ansonsten nur noch versuchte, den deutschen Schuldkomplex (in der Szene mit den blutigen Händen könnte es auch der eines englischen Imperialisten sein) mit den anderen Anklängen an Blut in diesem Film auszubalancieren.

In ihm wimmelt es ja von kleinen roten Flecken, in der Regel haben sie mit minimalen Verletzungen zu tun, mit Menstruationsblut oder einer leichten Aversion diesem gegenüber beispielsweise - es begann in der Swimming-Pool Szene mit dem Klebeband an Franks Uhr und in Carlas exhibitionistisch geöffneter Handtasche. Nachdem Frank und Carla auf einer Landkarte - eigentlich einer Seekarte, man sieht ja auf ihr fast nur Wasser - miteinander geschlafen haben, ist auf ihr ebenfalls ein roter Fleck zu entdecken, neben einem Kompaß, an dem eine kleine rote Schnur befestigt ist, die in diesem Zusammenhang an Tampons denken läßt; neben genau diesen Fleck fällt dann der Ring, den Carla Frank zur geheimen Verlobung schenkt; und auf sowohl diesen und den Fleck wird zu dem Satz "Dies sollte ihre Hochzeitsreise sein" eine alte Postkarte des Arc de Triomphe gelegt, welche beide verdeckt (früher führte der Traum von einer Hochzeitsreise nach Paris: die Hochzeitsreise selbst diente nicht zuletzt dazu, das bei der Entjungferung anfallende Blut zu verdecken). Fleck und Ring befinden sich auf der Land- bzw. Seekarte wiederum in etwa an dem Ort, wo Robert den Ring später wirklich ins Meer werfen wird, im fernen Südpazifik, nicht weit von dem Gelände der französischen Wasserstoffbombenversuche - dort wird sich Carla an einem Korallenfelsen das Bein aufstoßen und tatsächlich bluten (als hätte sie der Klapperstorch gebissen).

Frank mit den blutigen Händen an der Reling ist vielleicht die stärkste Version dieses Menstruationsmotivs, weil sich in dieser Szene zusätzlich noch Masturbation und Kastration kreuzen. Wenn Carla vor Robert und der Welt klagt: "Er hat Blut an den Händen", kann sie damit sowohl die deutsche Schuld meinen, als auch Franks Plan, sie umzubringen. Vielleicht aber meint sie aber mit Blut auch durch Masturbation schuldig gewordenes Sperma; oder in einer endgültigen Verwirrtheit: daß er ihre Weiblichkeit berührt hätte, obwohl sie menstruierte; oder daß er sie entjungfert hat, und daß das des Guten nun wirklich zuviel wäre. Wer kann schon wissen, was genau in den Menschen vor sich geht.

Diese 21 Einstellungen in zwei Minuten (2:04) sind also relativ kompliziert gegeneinander ausbalanciert und bilden ein Geflecht, in dem auch der Erzähler seine Objektivität verliert und gefühlvolle Partei von Franks Gefühligkeit wird. Der Zuschauer befindet sich nicht länger mehr in einem physikalischen Raum, sondern in einem wankenden Zusammenhang (man befindet sich ja auch auf einem Schiff) emotionsgeladener Klänge, in dem er sich wohl oder übel zurechtfinden muß. Erst mit dem Verklingen des Gesangs wird der Raum wieder stabilisiert, wenn man Robert und Frank fest am Mast schlafend sieht. Bestätigt wird das durch

22. einen direkten Ransprung an Frank, in dem er die Augen öffnet und er nach all dieser Müdigkeit endlich erwacht. In diesem Moment denkt man, daß er das eben von uns Gesehene geträumt haben könnte. Die Ingredienzen dieses neuen Raums sind wenigstens real, das Geräusch der Wellen, ein schlafender Robert, ein Mast, und vor allem hört man kein schräges Gesinge mehr. Er öffnet also die Augen - und richtig: man sieht

23. Das Meer - ganz einfach das Meer, ohne metaphysische Untertöne, am Horizont ein paar Wolken, und wiederum und nicht weniger richtig, spricht der Erzähler das große Wort nun auch aus: "Das Meer", um dann aber, nach einer gefälligen Pause, mit einem heimtückischen "Karikatur der Unendlichkeit" fortzufahren, wodurch von neuem ein metaphysischer Raum aufgespannt wird - folgerichtig schließt Frank, der müde,

24. in der nächsten Einstellung wieder die Augen, was ihm aber nichts nützt, denn nun hört man lautes Motorengeräusch, und in den

25.- 27. nächsten drei Einstellungen sieht man einen dunkelhäutigen Maschinenschmierer sich an einem altertümlichen Schiffsdiesel zu schaffen machen, der geräuschvoll anläuft und uns in den nächsten

28.-30. Einstellungen klarmacht, daß das Meer für uns mittlerweile tatsächlich nur noch eine Karikatur der Unendlichkeit darstellt: selbst schrottreife Drittweltschiffe navigieren in ihm problemlos herum, und mit

dem Satz "Dinnertime" läutet Carla die nächste Sequenz ein.

Ich möchte noch einmal betonen, daß es sich bei einer derartigen Beschreibung des Films eigentlich nicht um eine Interpretation handelt. Es ist auch nicht das, was ich mir sozusagen im Geheimen gedacht habe, und was man gefälligst entschlüsseln soll, hier ist im Grunde nichts verschlüsselt. Es handelt sich um Strukturkonstanten dieser Sequenz, die jeder entdeckt, der sich lange genug damit beschäftigt.

Im realistischen Film haben wir in der Regel ein objektives Äußeres, welches das Innere der Menschen strukturiert. Dort ist die Seele sozusagen ein Spiegel der äußeren Verhältnisse. In dieser Sequenz hier wird umgekehrt operiert, hier werden die Seelenzustände, so konfus sie auch seien mögen, als Wahrheit akzeptiert, in welcher das Äußere seine objektive Qualität verliert und zu einem sich dauernd verstellenden Spiegel des Innen wird. Eine solche Erzählweise scheint mir das Menschliche eher aufzuschließen zu können, die Idee der Erzählung ist in ihr deutlich mehr als eine bloße Maschine, die Ereignisse in Erzählung verwandelt.

Am Schluß vielleicht noch ein Wort zu Drehzeit und Schnittzeit. Die Sequenz wurde an zwei Tagen gedreht, selbstverständlich wurde dabei ziemlich improvisiert. Das Script, das in den Nächten vorher geschrieben wurde, sah eigentlich vier lange Sequenzen (darunter ein Manöver, in dem Carla mit ihrer um Hilfe bittenden Flagge ein Schiff auf hoher See stoppt, um anschließend aber nur dessen altertümlichen Diesel zu besichtigen) mit etwa 150 Einstellungen vor. Sie wurden auch alle gedreht, es stellte sich aber raus, daß die Szenen für diese Stelle schon tief im Film viel zu geschwätzig waren. In vier Wochen Schnitt haben sich dann jene 150 zu diesen 30 Einstellungen konzentriert. Dies ging Hand in Hand mit einem Abstraktionsprozeß, bei dem innerhalb von drei Minuten zwischen größter Banalität und für mich größtmöglich erreichbarer Abstraktion hin- und hergependelt wird. Nach dieser Sequenz hatte die normale Erzählweise des Kinos aber in diesem Film keine Chance mehr - die Idee der raffiniert erzählten selbstgenügsamen Geschichte hatte sich damit in ihm überlebt, ich konnte nicht mehr zu mehr erzählerischer Schlichtheit zurück und so verwandelte sich der Film geradezu notwendig in das, was man danach zu sehen bekommt.



9. DAS VIBRIEREN DER BILDER

Selbstverständlich ist eine derartige Strukturanalyse von Schnittfolgen nicht identisch mit dem Film, den ein Zuschauer sieht. Sie beschreibt nur verbale Felder, die beim tatsächlichen Schnitt zu Hilfe gezogen worden sind. Im übrigen gibt es jenseits dieses relativ rationalen und mitteilbaren Diskurses (der im wesentlichen ein Selbstgespräch des Filmmachers ist, ein beim Schneiden unaufhörlich Vor-sich-hin-Murmeln, in welchem die Bildfolgen analysiert und neue Möglichkeiten erkundet werden) einen anderen Entscheidungsmodus, der nahezu stumm erfolgt, der einem aber sagt, daß es, wenn man Glück gehabt hat, jetzt so richtig ist, weil auf einmal eine Resonanz da ist mit etwas anderem, dem eigentlichen Ziel der Anstrengung, das man nicht kennt, oder bei dem man sich davor hütet, es verbal zu erfassen. Das sind Momente, wo einem auf einmal am Schneidetisch Tränen der Rührung herunterlaufen, bei Material, das man tausendmal gesehen hat, und wo man auf einmal meint, es wäre mehr entstanden als bloß die Summe der Teile.

Tatsächlich habe ich an vielen Sequenzen solange geschnitten, bis ich beim Anschauen in einem Weinkrampf gefallen bin. Dieser erst gab mir das Gefühl der Fertigkeit. Ich weiß nicht, ob andere Filmmacher auch vor ihren Schneidetischen herumweinen, ich habe aber das Gefühl, daß es auch bei ihnen irgendeine körperliche Resonanz geben muß, die einem die Fertigkeit verkündet. Sonst ist Erzählung doch nur ein Apparat, eine Maschine, und der Erzähler ein Pseudo-Ich, eine Art Funktionär.

Ich weiß nicht, was sich in diesen Weinkrämpfen - oder nennen wir sie allgemeiner psychische Resonanzen - eigentlich offenbart. In meiner Zeit als Naturwissenschaftler habe ich nach der erfolgreichen Lösung einer Übungsaufgabe weder weinen können, noch weinen müssen, noch weinen dürfen, nein, nie, und ich bezweifle, daß selbst eine größere Entdeckung Weinkrämpfe auslöst, zu sehr hat man doch das Gefühl einer "bloßen Anwendung von Intelligenz". Beim Schnitt jedoch drückt sich in einer solchen psychischen Resonanz ein Gefühl von Fertigkeit aus, das etwas anderes enthält, als das Resultat einer logischen Anstrengung - obwohl eine solche dem Ganzen natürlich ebenfalls zugrunde liegt. Es ist ein gewisses Mehr, das sich da Äußerung verschafft, und ich habe das Gefühl, daß genau in diesem Mehr der Geist der Erzählung sich aufhält, ein gewisses Mehr, das den Rahmen einer jeglichen Erzählung sprengt, die ja auch nur eine blödsinnige Anwendung von Cleverness ist - man sieht ja genug davon - ein gewisses Mehr, das durch diesen Rahmen durchsickert, und sich gelegentlich zu einem psychischen Zustand verdichtet, dessen krampfhaftige Hilflosigkeit etwas mit der Essenz des Lebendigseins zu tun hat.

Das gelingt nicht immer in jeder Sequenz, manchmal gibt es Situationen, wo man es nicht schafft, sich diesem Zustand weit genug zu nähern oder ihn gar zu erreichen, wegen Inszenierungsmängeln, einer unglücklichen Photographie, Denkfehlern und Ähnlichem. Dann kann man nur noch das Bestmögliche herausholen, und das ist leider deutlich weniger. Da bleibt einem nur eine Kette mehr oder weniger kluger Entscheidungen, ein simples Übungsstück in Anwendung menschlicher Intelligenz, die sich ebensogut sagen wir mal in der Konstruktion einer Müllverbrennungsmaschine hätte beweisen können.

Die Momente der Rührung sind dagegen von großer Intimität - gelingen einem in einem Film zehn oder fünfzehn davon, bestimmt ihre Folge die eigentliche Botschaft des Films, unabhängig von der erzählten Geschichte und jenseits aller rational gefällten Entscheidungen nach dem Muster der gerade beschriebenen. Wahrscheinlich ist es möglich, die Reihe dieser Rührungen auch verbal zu beschreiben, und sogar ihre Ursachen plausibel zu benennen, aber bei aller Offenheit über die Strukturkonstanten des Film beginne ich hier zu zögern. Vielleicht aus Angst vor mir unangenehmen Enthüllungen (aus welchen Gründen sind nicht schon Menschen verbrannt worden), und vielleicht nur, um mir selbst ein gewisses Geheimnis zu wahren, das ja auch mit dem Geheimnis der Produktivität zusammenhängt.

Ich erwähnte die Erschöpfung, die ich beim Drehen der Szene mit dem liegenden Frank (müder Wanderer in einer verlorenen Welt) spürte. Hinter dem Vorhang der direkt erzählten Geschichte ist natürlich fast jede Sequenz Ausdruck solch erlebter Befindlichkeiten, die eine eigene Kette in einem Film bilden, und etwas von menschlicher Erfahrung erzählen, von etwas, was unabhängig von der Story eine eigene Botschaft in die Welt hinausschicken will.

Noch etwas zum Grundprinzip von Film. Es ist schon erstaunlich, wie Photographien, die im Dunklen in irgendwelchen Schränken vor sich hin zerfallen, im Projektor bei der Begegnung mit dem Licht auf einer Wand plötzlich lebendig werden. Wie sie im Auge des Betrachters während der Projektion gleichsam vibrieren und nach einem Zusammenhang zu suchen scheinen, der ihren unaufhaltsamen Tod beim Auftauchen der nächsten Einstellung verzögern könnte. Dieses Vibrieren der Bilder auf der Suche nach einem Zusammenhang ist, meine ich, die wesentliche Erfahrung, die man als Zuschauer in einem Kino macht, in ihr schlägt das Herz des Kinos, das wir lieben. Diese Suche ist während der Vorführung stets gegenwärtig, egal ob das Bildmaterial dokumentarisch oder inszeniert ist, ob sechzig Jahre alt oder ganz neu, und das erklärt den merkwürdigen Zwischenzustand zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der dem Filmmedium zu eigen ist, es ist ein Medium, das selbst nicht weiß, in welcher Zeit es sich eigentlich bewegt.

Jener Moment, an dem eine neue Einstellung in einem Film auftaucht und sich bemüht, nicht vergessen zu werden, ist von seiner tiefsten Essenz her ergreifend. Wie sehr strengt sie sich an, Teil des vorhergehenden Kontinuums zu werden und es ein wenig auszuweiten. Im Kopf des Zuschauers wird versucht, die neue Einstellung in das bisherige Raumgeflecht einzupassen und für kurze Zeit entsteht so etwas wie ein sich in alle möglichen Richtungen erweiternder vibrierender Raum, der sich dann plötzlich in einer neuen Form verfestigt und auf die nächste Einstellung wartet, um auch von ihr einen Beitrag zu einer neuerlichen Modifizierung zu erfahren. Und diese Erweiterung von Einstellung zu Einstellung findet in allen möglichen Räumen statt, am offensichtlichsten und schnellsten bei den tatsächlichen Raumkonstruktionen, aber auch in Bedeutungsräumen oder Gefühls- und Erfahrungsräumen, die sich dann noch gegenseitig strukturieren, und am Ende eines Films ein kompliziert verschachteltes Gedankengebäude hinterlassen, das wir anschließend gemächlich vergessen.



10. WIR SPIELEN UM DAUMEN

(nur skizziert)

Filmausschnitt: "Wir spielen um Daumen" (nur CD-Version / Dateiname: Un8.avi)

Frank hat also seinen Maschinentraum, in dem ein schmucker Heizer den Diesel ölt, während er mit Robert an den Mast gelehnt schläft. Auch dieses Motorenmotiv durchzieht den ganzen Film. Es beginnt mit dem Satz: Der Mann mit den Dieselmotoren, mit dem Robert in Acapulco von Frank vorgestellt wird. Später taucht die Konstruktionszeichnung eines schweren Dieselmotors hinter Roberts Kopf an die Reling geheftet auf, als er darüber erschrickt, daß Frank Carlas Bein mit einem Kreis markiert, von dem Robert weiß, daß er Frank an seine Exverlobte erinnert, der vor der Hochzeit von einer Straßenbahn nach Dalkey das Bein abgefahren wurde, woraufhin er sie in aller Eile verließ. Dann entdecken wir bei Carlas Suche nach dem Löffel einmal ganz kurz als realen Motor den Motor des Segelboots. Später, als sich Frank und Carla in der Hotelanlage unterhalten, studiert Robert die schon bekannte Konstruktionszeichnung, und an der Stelle, an der Carla über ihre Dinghaftigkeit redet, wird diese Zeichnung in einer Naheinstellung eingeschnitten und figuriert als das von Menschen geschaffene Ding schlechthin. Wieder Dann nimmt Carla das Motiv auf und wirft am Landungssteg einen Dieselmotor an und erzeugt mit seiner Hilfe einen Wasserstrahl, der allerdings rasch wieder zum Versiegen kommt. Danach entmystifiziert Frank mit dem Meer auch das Universum der Motoren und macht sie zum Drittwelt-Gegenstand. Und schließlich wird sich das Motorenmotiv gegen Ende in ein langes Flackerstück über Industrielandschaften in England verwandeln, die Gegenden also, in denen die ersten Motoren gebaut wurden. Und ganz am Ende, als die Architekturen des Silicon Valley erscheinen, hat sich das Maschinenmotiv in eine neue Welt hinein verloren, in eine Industrie, in der Dieselmotoren nur noch alltäglichste Arbeitstiere sind und nichts mehr vom Mythos des Fortschritt in sich tragen.

Die Welt der Motoren ist eine männliche Welt, eine Welt des Krachs, eine Welt erträumter Orgien und Gelage, und in die nun

1. bricht Carla ein und bringt den Träumenden mit einem nüchternen "Dinnertime" das Essen. Wieder liegen Frank und Robert fest am Mast, nach all den metaphysischen Implikationen der vorigen Sequenz ein Bild solider Räumlichkeit. Das Geräusch der Motoren verschwindet schlagartig mit Carlas Erscheinen. Auf einem Holzbrett stellt sie die Nahrung vor sie hin. Es ist ein schmuckloses Mahl. Zwei große runde trockene Stücke Schiffszwieback von dem Typ, den sie in einer vorigen Sequenz ("Auf großer Fahrt") mit dem Hammer malträtierte, um aus ihnen die Maden herauszuschlagen. Sie liegen ordentlich voneinander getrennt auf dem Brett und erinnern stark an weibliche Brüste, auch sie ja Nahrungsspender, aber jetzt vertrocknet, von Hämmern malträtiert, eine groteske Verdrehung fürsorglicher Mütterlichkeit. Furchtbares muß sich auf diesem Schiff abgespielt haben. Erwachend betrachten die Männer das Essen, und dann, und dazu hört man kurz wieder etwas von dem Motorengeräusch (es befindet sich bei solchen Akten im Hinterkopf), werfen sie die beiden Stücke Zwieback über Bord, woraufhin

2. sich Carla in einem Umschnitt aus dem Bild heraus in Richtung Kajüte davonbewegt. Frank nimmt nun ein Klappmesser und sticht es in das Brett. Wo gerade noch weibliche Brüste sich präsentiert hatten, steht nun ein mächtiges Symbol von Männlichkeit. Und Frank sagt, worum es jetzt gehen wird: "Wir spielen um Daumen. Wer gewinnt, bekommt den Daumen vom Verlierer.", woraufhin Robert sich dem Damespiel,das zu ihren Füßen liegt, zuwendet und den alles verdrehenden bedeutungsschweren Satz folgen läßt: "Gut, das Universum ist offen." , woraufhin wieder die beiden bedeutungsschweren Klaviertöne mit dem "Dub-lin" - Motiv erklingen, diesmal mit

3. zwei Einstellungen vom Meer, die Horizontlinie weit unten, so daß man eher den Himmel erkennt und die Grenzen unserer Welt. In der Abblende werden Kumuluswolken sichtbar, wie die Bojen aus Carlas Kindheit Markierungen der Grenzen menschlicher Sicherheit: hinter den Grenzen der blaue Himmel, dahinter das schwarze All. Das menschliche Universum ist zum Himmel hin tatsächlich unschuldig offen.

Und gleichzeitig natürlich den Menschen Gefängnis geworden. Der raumverschlingende männliche Welteroberer, der mit seinen Schiffen die Welt umsegelte, um nach jeder Landung auf neuem Terrain dort seinen besitzanzeigenden Pflock einzurammen, ist am Ende seiner Eroberungszüge angelangt. Es gibt kein Terrain das noch zu erobern ist. Was bleibt ist anderen Eroberern in irgendeinem irrsinnigen Spiel den Schwanz abzuschlagen. "Wir spielen um Daumen" sagt Frank, und wir hören "Wir spielen Dame", auch das eine Perversion eines königlichen Spiels, des Schachs, aber hier, wo das Boot Gefängnis geworden ist (und Mütterlichkeit Gefangenfraß, gegen den man blind rebelliert), sind seine Insassen Gefangene mit den Deformationen Gefangener, zu kohärenter geistiger Anstrengung wie sie das Schachspiel vielleicht erfordert, nicht mehr fähig, höchstens zu der schlauen, kurzatmigen Aufmerksamkeit, die dem Damespiel zu Grunde liegt.

Und Robert? Wohl hat er begriffen, daß sie hier in einem Gefängnis leben, doch er freut sich an der Mannwerdung, die er hat erleben können. Er lebt zwar in einem Gefängnis, aber er ist ein Mann. Wie dieser Frank, der bei aller Widerwärtigkeit ja auch ein toller Bursche ist. Ein Damespiel um Daumen? Klar, warum nicht, alles ist möglich, es ist doch nur ein Spiel, alles geht: " Das Universum ist offen."

Keine Freude an dieser neuen Offenheit hat natürlich

4. Carla, die aus der Kabine heraus aus der Luke kommt. Mit einer Handtasche und ein Paar Deckschuhen in der Hand wirkt sie etwas entschlossener als vorher. Sie hat sich mit einem schweren Ohrring geschmückt, als wollte sie sich nach der Niederlage ihrer Weiblichkeit mit dem Schiffszwieback durch den Schmuck zumindest ein bißchen Selbstrepekt erhalten. Ihr Erscheinen wird vom Erzähler kommentiert: "Was eigentlich wollten diese Menschen?" Zunächst denkt man, das bezieht sich auf die Männerwelt, und Carla - geschmückt und mit einem Rest von Selbstrespekt - verkörpere so etwas wie die Vernunft, aber dann merkt man, es heißt Menschen, nicht Männer, und wir erinnern uns, daß es ja eigentlich die übermütige Carla war, die dieses Abenteuer in Gang gesetzt hat ("Why don't you sell me a boat?"), und so erhält man sich eine Ahnung davon, daß die Männerwelt, die so pervertiert sich offenbart, nur Abdruck einer Menschenwelt ist, an der Frauen sehr wohl auch teilhaben. Und als dann

5. Robert das Damespiel mit einem ersten Zug eröffnet, da ahnt man eine Antwort auf dieses "Was eigentlich wollten diese Menschen?": sie wollen nämlich nichts anderes als einen Zug bei einem Damespiel machen, und dazu hört man zur Illustration des Zuges ein "Schsch", wie wir es vom Anfang des Films her kennen. Es ist das Geräusch, das die Ausdehnung des Weltalls illustrierte, und am Ende des Prologs, nach den Rimbaudzeilen ("Sie ist wiedergefunden." "Wer?" "Die Ewigkeit"), verwandelte sich dieses "Schsch" in ein Art "Pst", so als wäre das, was man eben gehört hat, die Entdeckung der Ewigkeit, ein wenig geheim, und man sollte am besten nicht daran rühren, denn wer weiß, was das für Folgen für die Menschen hat, wenn die Ewigkeit sich präzise formulieren läßt. Hier nun, beim Damespiel sehen wir die Folgen, die

6. Carla, immer noch mit den Schuhen in der Hand, in einer Großaufnahme näher in Augenschein nimmt. Dazu der Text: "Worauf wollten sie eigentlich hinaus?", und das bezieht sich sowohl auf die Männer als auch Carla selbst, die mit den geheimnisvollen Schuhen in der Hand selbst etwas merkwürdig wirkt. Zunächst aber sehen wir, worauf die Männer hinauswollen:

7. Sie machen in einer Nahaufnahme, in der man neben dem Damespiel das Brett mit dem steckenden Messer sieht, die nächsten Züge des Damespiels, wobei jeder Zug von einem "Schsch" begleitet wird. Ja, das ist es, was sich die Männer-Menschen wünschen, darauf wollen sie hinaus, in einer sich sinnlos ausweitenden Welt unsinnige Spiele treiben um irgendwelche Pseudopenisse. Und dabei wollen sie auch noch von für sie geschmückten Frauen angeblickt zu werden. Wenig können sie natürlich ahnen, daß sich

8. Carla nicht für sie geschmückt hat, sondern für sich selbst und einen anderen Plan, denn entschlossen verschwindet sie mit ihren Schuhen nach links aus dem Bild in Richtung Schiffsheck. Das aber ist den

9. Männern entgangen, sie satteln sozusagen noch einem drauf. Sie wollen das Spiel nun - da es weiter fortgeschritten ist - etwas wilder gestalten. Jetzt, da beim Damespiel über Steine des Gegners gesprungen wird, gibt es ein neues Geräusch, ein kurzes Zungenschnalzen, auch das uns vertraut aus dem Prolog. Da tauchte es auf als Illustration des Urknalls, als Folge des Satzes: "So begann also die Welt in einer Art Knall", woraufhin man die Einsteinschen Feldgleichungen sieht, mehr noch als die Welt das eigentliche Resultat der Vorstellung vom Urknall.

Manchmal denke ich, daß dieser Film ein wenig an die Form des musikalischen Oratoriums erinnert, und als ich kürzlich in einem Aufsatz von Viktor Weisskopf, einem der fähigsten Kernphysiker der fünfziger Jahre, über den Urknall las, daß er ihn sich vorstellt wie den wunderschön hellen C-dur Akkord in Haydns Schöpfung, da mußte ich doch angesichts der der hier offenliegenden künstlerischen und menschlichen Naivität - von der ja auch die Illustrationen von Wissenschaftlichkeit im weiteren Verlauf des Prologs so rührend erzählen (zum Beispiel beim Happy End der Wiederbegegnung von Positron und Elektron, die nach der sexuellen Berührung tatsächlich verstrahlen: so stellt sich ein Wissenschaftler eben die wahre Liebe vor) - herzlich lachen, und betrachtete mein Zungenschnalzen doch als eine erhebliche Verbesserung.

Konnte man sich in diesem Teil des Films noch darüber wundern, in welcher Richtung die allzumenschlichen Wissenschaftler nach Erkenntnis eigentlich suchen, so werden wir jetzt, auf dem Boot, unmißverständlich auf den Boden der nackten Tatsachen gestellt, auf den Boden der Halbwahrheiten, auf dem Wissen als Halbwissen vor allem dazu dient, andere Motivationen zu maskieren. So wie sich in Roberts Satz "Das Universum ist offen" eine wunderschöne Theorie in eine bloße Bagatelle verwandelt, die eigentlich nicht mehr sagt als "Warum nicht?", so verwandelt sich jetzt der Urknall in ein bloßes Geräusch beim Überspringen der Damesteine, eher an einen Revolverknall erinnernd, der Leben - hier einen Damestein - eliminiert, und nicht mehr an ein Ereignis, das bei aller unvorstellbarer Brutalität, mit dem in ihm menschliche Vorstellung ausgeschaltet bleibt, doch immerhin auch ein Menschliches geschaffen wurde: eine Welt, in der wir Menschen uns aufhalten, mit der Gelegenheit sie zu begreifen. Und an diese traumhaft sichere Welt erinnert uns die nächste Einstellung,

10. in der Carla uns vorführt, was Menschlichkeit eigentlich hervorbringen kann. Sie führt uns vor, wie man ein Schuhband zubindet, eine der ergreifendsten menschlichen Tätigkeiten überhaupt, genau das, was uns von den Affen unterscheidet, jedem Kind in einer ungeheueren Anstrengung gerade zugänglich, und doch schon so kompliziert, daß kaum einer von uns weiß, wie er eine solche Schleife überhaupt bindet. Und richtig, wenn wir Carla beobachten, so scheint sie das auf eine merkwürdige Art zu tun, aber das tun wir alle, wir alle haben es irgendwie gelernt, und keiner weiß, was wir da eigentlich tun. Von dieser Form der Menschlichkeit allerdings sind

11. Robert und Frank weit entfernt. Sie leben mit ihrem Damespiel in einer Welt der Revolverpistolen, in der es zischt und knallt, und Leben sich in einem idiotischen Spiel von Fressen und Gefressenwerden erschöpft. Carlas Schuhe, die an ihrem Spielbrett vorbeigehen, können sie nicht beeindrucken, und ihr sorgenvoll vor sich hingemurmeltes "Riffverseuchte Gewässer" dringt nicht zu ihnen durch, im Gegenteil, absorbiert in ihrem absurden Spiel, läßt sich Frank in

12. der nächsten Einstellung, als Carla vom Bug des Schiffes zurückkommt, zu einem Akt verleiten, mit dem der endgültig die Attribute der Menschlichkeit verliert, mit dem er tatsächlich sogar sein eigenes Todesurteil spricht. Er packt sie sich und beißt in ihre Hand, was sie mit einem empörten: "Bist du verrückt? Was ist denn jetzt in dich gefahren? Beißen?" kommentiert, und da genau befindet sich Frank, verrückt geworden in einer verrückten Welt, mit einem Beißzwang gewissermaßen, ein amokgelaufener Intellekt. Und

13. Robert, das Lamm Gottes? Er hat sich auf dem Spielbrett inzwischen auch eine Dame erkämpft und schiebt sie, unbeeindruckt von dem kannibalischen Geschehen neben ihm, genüßlich zwischen zwei von Franks Steinen. Woraufhin wir in einer Detailaufnahme die

14. Essenz dieser Sequenz sehen: Franks Hand, auf deren emporgestreckten Daumen etwas Blut aus seinem Biß von Carlas Hand gelangt zu sein scheint (mit all den Implikationen die das Blutmotiv im Film inzwischen angerührt hat), bewegt sich, gestützt von bedeutungsvoll einsetzender Musik, auf einen seiner schwarzen Steine - auch einer Dame - zu und schiebt sie in einer raffiniert aufgebauten Falle ein einziges Feld (Schsch) weiter, woraufhin Robert seinerseits mit seiner Dame einen von Franks Steinen überhüpft (Zungenschnalzen) und aus dem Feld nimmt. Zwei Männer, deren Auseinandersetzung kurz vor dem entscheidenden Punkt angelangt ist.

15. Carla indes kommt wieder aus der Luke heraus, diesmal allerdings anders und heftiger entschlossen mit einer Schwimmweste, die - unaufgeblasen noch - an ihr herumhängt, und auf den Rückschnitt zu

16. Frank, der einen neuen Zug macht, hören wir ein deutlich verlängertes "Schschsch", das einen Anklang an das Aufblasen der Schwimmweste erzeugt (mit einem weiteren Anklang natürlich an die Ausdehnung des Universums, das in populären Darstellungen auch immer als das Aufblasen eines Luftballons vorgestellt wird), und dieses Geräusch verleitet Frank zu einem verlängerten halbbesorgten Blick auf Carla: Was hat sie denn jetzt vor, kann das irgendetwas zu bedeuten haben?" Doch alles, was er sieht ist

17. Eine Frau, die eine Schwimmweste hat und sie festzurrt, und beruhigt wendet er sich

18. dem Spielgeschehen wieder zu, und

19. Carla wirft einen letzten Blick auf das Männerpaar. Dann begibt sie sich mit ihrer Schwimmweste ans Heck des Schiffes, von wo aus sie in aller Ruhe den unvermeidbaren Schiffbruch in diesen korallenverseuchten Gewässern abwarten kann, während

20. das Spiel sich seinem natürlichen Ende nähert: Frank macht einen Zug, dann überspringt Robert mit seiner Dame einen von Franks Steinen und im Gegenzug Frank einen von Roberts. Und dann behauptet Frank entschlossen: "Du hast verloren" und Robert entgegnet "Nein" (was stimmt, denn Robert steht tatsächlich besser), doch Frank weiß, wie es in der Welt der Männer zugeht, in der Kraft, Unverschämtheit und Durchsetzungsvermögen allemal wichtiger sind als Redlichkeit: mit einem energischen "Doch. Du hast verloren." beharrt er auf seinem Sieg. Und natürlich weiß er, wie man es macht, daß einem der Sieg nicht von einem Volltrottel wie diesem Robert entrissen wird. Er zieht einfach das Messer aus dem Brett und verlangt fordernd die Siegestrophäe: "Ich will deinen Daumen", und da er nun die Waffe in der Hand hat, ist er auch der Sieger, egal wie die Figurenkonstellation auf dem Brett aussieht, und Roberts Einwand "Du bist verrückt" ist da nur noch die Reaktion eines wirklichen Trottels, denn mit diesem Satz kann man sich gegen den körperlichen Angriff eines Verrückten nun am Allerwenigsten wehren. Anders reagiert da

21. Carla. Ihre Schwimmweste ist inzwischen aufgeblasen, und ihre Übersicht wird zu Entschlossenheit, als sie sich die Weste endgültig zurechtzurrt, während wir im Kommentar hören: "Bei einem Damespiel kommt es zu einem Handgemenge zwischen Robert und Frank, in dessen Verlauf die Yacht auf ein Riff läuft.", und auf das Wort "Handgemenge" sehen wir

22. Robert und Frank um das Messer kämpfen. Mit einem Fußtritt auf das Damebrett und die herumliegenden Steine und einem letzten "Schsch" verschwinden die beiden kämpfend nach links aus dem Bild, und die Kamera schwenkt, während im Text das Riff erwähnt wird, langsam nach rechts auf das Wasser, wir hören Wellen, man kann das Riff zwar nicht sehen, aber wir spüren etwas von der Materialität der Tiefe, die durch Musik gestützt wird, die uns davon erzählt, das das Meer nicht nur Karikatur von Unendlichkeit ist und über ihm der halboffene Himmel, sondern daß auch dort unten noch Unheimliches lauert, denn der Kommentar fährt lakonisch fort: "Frank wird von einem Haifisch gefressen" und auf das Wort "Haifisch" sehen wir

23. Carla mit der Schwimmweste leblos vor sich hintreiben, wobei die Schwimmweste ein wenig so aus dem Wasser herausragt wie die Flosse eines Haifisches. Einerseits also sehen wir durchaus, das Frank ein gerechtes Urteil erfahren hat: er, der uns den Verlust seiner Menschlichkeit offenbart hatte, hat einen verdienten Tod gefunden, andererseits aber ist dieser Film auch gerecht: er verschweigt uns nicht, daß Frank auch Opfer ist und daß ein anderes Monster, Carla nämlich mit ihrem Geld, noch unter uns weilt. Sie war es ja, die die Geschichte mit ihrem Annäherungsversuch an Frank ("Say something") eigentlich in Gang gebracht hatte, und als nun

24. in der Musik sich das immer wieder angespielte "Dub-lin" - Motiv endlich melodisch auflöst und dazu Bilder die Geschichte von Himmel und Meer erzählen, hören wir in diesem Requiem auf Frank die versöhnlichen Worte "Und er wollte so gern in einer Boje begraben sein", in dem sich Franks Bojentraum vollendet. Mit dem Wortspiel Bojen/Jungs hatte er sich Carla zum ersten Mal genähert, in dem Bild der verrostend auf Land liegenden Bojen hatte er sich ein wunderbares von niemandem verstandenes Selbstporträt geschaffen, sicher lagen dahinter immer auch kleine Jungs - und so einen Jungen hat er sich auf diese Fahrt mitgenommen, um ihm einmal zu zeigen, wie Welt wirklich aussah, er hatte es ihm weiß Gott gezeigt, und nun war es eben zu Ende. Eine gerechte Lösung in einer gerechten Welt, und eigentlich war ja auch ein Haifisch nichts anderes als eine Boje, eine Art Wanderboje - wieviel netter noch - und so finden wir hier am Ende von Franks verwirrtem Leben als Grabstein einen gnädig erfüllten Traum.



11. DIE UNIVERSELLE PRÄSENZ DES ZUSCHAUERS

(ebenfalls nur skizziert)

Nun: was kann man einer solchen Darstellung einer Filmszene eigentlich entnehmen. Wir haben eine Reihe von Personen vor uns, die eine Reihe von Handlungen begehen. Durch das doppelte Betrachten sind wir als Zuschauer so dicht am Geschehen, daß wir gewisse Vorstellungen des Inneren der Personen und das Wesen ihrer Handlungen und ihres Erscheinens entwickeln können. Eingebettet wird all das in eine Vorstellung von Welt. Man könnte sagen, daß diese Vorstellungen das Fühlen und Handeln der Personen strukturieren, aber durch unser Beschreibungsversuche wurde glaube ich klar, daß auch umgekehrt das Fühlen der Personen gewisse - im biblischen Sinne perverse - Vorstellungen von Welt erst provoziert. Nur im Anerkennen der Existenz dieser Umkehrung unterscheidet sich die Erzählung dieses Films ein wenig vom konventionell Erzählten.

Denn daß in dieser Sequenz bei aller Kompliziertheit doch immer noch direkt und konventionell erzählt wird, erkennen wir an den sorgfältig gesetzten Blicken und dem deutlichen Gefühl von Kontinuität. Selbst die Darstellung der Zeitsprünge beim Damespiel erfolgt ganz bieder durch Zwischenschnitte auf Carla. Die freilich müssen jedes mal Sinn machen, und das ist der eigentliche Grund für die Inszenierung Carlas in dieser Szene, denn eigentlich kommt es nur auf das Damespiel und das Verhältnis der Männer zu diesem Spiel an. Es als Ganzes ungekürzt an dieser Stelle im Film anzubieten, verbot sich von selbst. Es mußte also gekürzt werden. Kürzungen allerdings sollen im narrativen System möglichst maskiert sein, und zwar durch ein Mehr, durch welches das Gekürzte kontinuierlich erscheint. Als dieses Mehr dient Carla und ihre Befindlichkeit.

Worin eigentlich besteht das Konventionelle dieses Erzählens? Genau darin, daß jede Einstellung etwas zu bedeuten hat, ein wenig schärfer: etwas Neues zu bedeuten hat, zumindest eine Variante des Bekannten darstellt.

Dies äußert sich in einer gewissen Ökonomie, die der erzählerischen Form geradezu gelingen MUSS: denn sie versucht ja, ganze Leben auf 90 Minuten zu konzentrieren, es muß also radikal verkürzt werden, und dadurch muß das, was übriggelassen wird, prahlerisch rechtfertigen, daß es gezeigt wird - "Ich bin wichtig, versteht ihr!" In der Bedeutungsschwere der einzelnen Einstellung äußert sich die Umkehrung eines Prinzips, das man vielleicht als die universelle Präsenz des Zuschauers bezeichnen kann. Dies bedeutet schlicht, daß man als Zuschauer annimmt, einem wohl ausgewogenem Ganzen gegenüber zu sitzen, in dem ein fiktiver Autor weiß, was er tut. Jede Einstellung hat für das entstehende Handlungsgefüge wichtig zu sein, und nichts was wichtig ist, wird auf Dauer verborgen bleiben. Dem Zuschauer wird Gelegenheit gegeben zu einer Art universeller Präsenz, wobei das Konzept der Universalität sich aus einer Art Komplott zwischen Autor und Zuschauer ergibt. Universell bedeutet nämlich auch, daß bestimmte Weltvorstellungen als gegeben hingenommen werden.

Hier, bei den vereinbarten Weltvorstellungen, weicht dieser Film von den üblichen ab. Das geheime Komplott ist hier aufgekündigt worden, die Weltvorstellungen selbst wurden Gegenstand der Untersuchung und Teil der Geschichte, und das zog auch die Erzählform selbst in Mitleidenschaft.

Trotzdem äußert sich das Prinzip von der universellen Präsenz des Zuschauers in diese Sequenz noch ganz manifest, als Zuschauer ist man noch immer genau an den wesentlichen Teilen einer Handlung anwesend, und die unwesentlichen werden auf eine Art weggelassen, daß es einem gar nicht auffällt. Noch schärfer klingt die Formulierung der Umkehrung dieses Prinzips: was in einem Film gezeigt wird, wird gezeigt, weil der Zuschauer es für wichtig halten soll, und weitergehend: es soll nicht der kleinste Verdacht aufkommen, daß es irgendwelche Szenen geben könnte, die für den Film so wichtig sein könnten, daß man als Zuschauer nicht wünschte, anwesend gewesen zu sein.

Durch dieses Prinzip wird das Geschehen zerlegt in einen wichtigen Teil, an dem der Zuschauer teilnimmt, und einen unwichtigen, der nicht weiter erwähnenswert ist. Dieses nicht Erwähnenswerte ist interessanterweise zum Teil darum nicht erwähnenswert, weil es früher im Film oder in anderen Filmen schon erwähnt wurde. Es ist so normal, daß es nicht noch einmal abgebildet werden muß. Das Erwähnenswerte dagegen ist das Gegenteil dieses Nicht-Erwähnenswerten: es muß außergewöhnlich und interessant sein, aus anderen Szenen noch nicht bekannt, und möglichst nicht aus anderen Filmen, ungewöhnlich. (Anders als im Fernsehen, da wird großer Wert auf die Darstellung des Gewöhnlichen gelegt, Fernsehen ist extrem provinziell, voll vom Immergleichen, jeden Abend ersehnen wir das gleiche Logo der Tagesschau)

Geschehnisse, die sich so in einen wichtigen und einen Unwichtigen Teil zerlegen lassen, sind nicht gerade häufig. Sie bilden nur einen Bruchteil des wirklichen Geschehens. Und nur Geschehnisse, die sich so hierarchisieren lassen, können in konventionelle Erzählung verwandelt werden. Vielleicht könnte man so über den Umweg über das Postulat von der universellen Präsenz des Zuschauers zu einer Definition von konventioneller Erzählung gelangen: Erzählung kann da entstehen, wo eine universelle Präsenz denkbar ist, wo hingegen Universalität fragwürdig ist, wird auch Erzählung mit Schwierigkeiten zu rechnen haben.

Natürlich handelt es sich bei diesem Film bei aller Richtigkeit der Zutaten immer noch um eine entsetzliche Klamotte, die eigentlich nur dadurch zu rechtfertigen ist, daß die Menschen in ihrer Unvollkommenheit ja inzwischen Opfer dieser Klamotten geworden sind und ein tiefsitzendes Bedürfnis zu haben scheinen, derartiges im wirklichen Leben sogar zu imitieren. Dadurch wird so eine Klamotte, stimmen wie hier die Zutaten, ein wenig weniger grotesk. Vielleicht bin ich nur bereit, das zuzugeben, weil mir mit dem Geflacker noch eine andere Form der Erzählung zugefallen ist, eine Gnade, die anderen formfähigen und ausdrucksstarken Regisseuren wie Herzog und Wenders nicht begegnet ist, und so müssen sie sich bei aller Liebenswürdigkeit von Sujets und individuellem Charakter an eine Erzählhaftigkeit binden, über der die Klamotte als entsetzlicher Makel wie ein Damoklesschwert schwebt und die meisten ihrer Anstrengungen und Leistungen von vornherein schon zunichte macht.

Ende


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