Winfried Günther

Zum 60. Geburtstag von Klaus Wyborny

(Aus dem Kino-Programm des Deutschen Filmmuseums Frankfurt, Mai-Juli 2005)


Zum 60. Geburtstag von Klaus Wyborny (1)

Am 5. Juni dieses Jahres wird Klaus Wyborny, einer der profiliertesten deutschen Filmemacher, 60 Jahre alt werden – Anlaß für uns, seinen bislang letzten Film SULLA (2002), mit dem er sich von 1990 an beschäftigt hatte, in Frankfurter Erstaufführung sowie über die nächsten drei Monate verteilt eine Retrospektive seiner besten Filme in elf Programmen zu zeigen. Seit 1990 arbeitet er zudem an einem bislang zwölfbändigen Romanzyklus mit dem Titel „Comédie artistique“. In Zusammenarbeit mit dem Lyriker Durs Grünbein entsteht momentan das „Proserpina-Projekt“. Näheres zu Wybornys Werk unter www.typee.de.

SULLA ist die filmische Umsetzung des ersten Kapitels von Wybornys gleichnamigem Roman und eine Tour de force durch das Hirn eines römischen Diktators: Sulla war nicht Caesar, und SULLA von Klaus Wyborny ist nicht GLADIATOR. Eher dessen vollständiges Gegenteil. In dem Film spielt Hanns Zischler zwei Stunden lang Sulla, ohne ein Wort zu sagen. Sullas autoritative, sonore Stimme gehört Klaus Wyborny, dem Weltgeist hinter diesem Autorenfilm. Sulla ist auf dem Rückweg nach Rom. Er hat in Griechenland den pontischen König Mithridates besiegt, muß nun aber in der Heimatstadt einen Zwist beilegen. Wyborny zeigt ihn an der Schwelle zwischen dem griechischen und dem römischen Zeitalter. Aber die Politik ist nur das Symptom einer allgemeinen Regung: Lust. Am 3. 5. um 20.00 Uhr wird Klaus Wyborny im Literaturhaus Frankfurt Ausschnitte aus dem Film zeigen und aus „Sulla. Fünf Studien in verstörter männlicher Wahrnehmung“ lesen. Am 5. 5. läuft in Anwesenheit Wybornys der gesamte Film bei uns im Kino, auf Wunsch des Filmemachers (wegen des besseren Tons) als Mini-DV; die Wiederholung am 11. 5. findet im originalen 16-mm-Format statt.

Die Retrospektive beginnt am 19. 5. mit DÄMONISCHE LEINWAND (1969/71), einer Sammlung von fünf Filmen, gedreht 1968 auf Normal-8 und 1969 auf 16 mm übertragen – unter ihnen Wybornys erste Meisterwerke. Die Dreharbeiten selbst fanden zumeist in kurzer Zeit statt, aber Wyborny kultivierte hier Techniken wie das Wiederabfilmen der projizierten Aufnahmen, deren seitenverkehrtes Einmontieren oder die Verunreinigung etwa mit Fusseln. Bereits in diesen frühen Filmen steht das Verhältnis von Off-Erzählung und Bildern im Mittelpunkt, welches Wyborny in seinen späten Filmen wieder beschäftigen wird. Im einzelnen enthält das Programm die Filme A CROWD IN THE FACE, HOME SWEET HOME, AUF ZU DEN STERNEN, CHIMNEY PIECE und DAS ABENTEUERLICHE ABER GLÜCKLOSEN LEBEN DES WILLIAM PARMAGINO.

DIE GEBURT DER NATION (“THE BIRTH OF A NATION“) (1973) verweist schon im Titel auf D. W. Griffith, den ersten Großmeister des narrativen Kinos, mit dessen Entwicklung von Erzählformen in seinen Biograph-Filmen (1908 bis 1913) sich Wyborny damals intensiv beschäftigte. Angelehnt an Griffiths stilistische Mittel etwa des Jahres 1911 erzählt Wyborny eine Geschichte aus ebendiesem Jahr über eine Gruppe junger Leute, die versuchen, in der Wüste einen Staat zu gründen, und dabei die Sprache verlernen. Im zweiten Teil des Films wird die Erzählung wieder dekonstruiert: Wir sehen in mehreren Durchgängen Szenen des ersten Teils noch einmal, darunter auch zuvor nicht verwendete Materialien und Schnittreste, die im Positiv/Negativ und in verschiedener Farbkopierung einen eigenen Rhythmus entfalten; das ist das „neue Leben“, das der Kommentar am Ende des ersten, narrativen Teils des Films annoncierte. Einer der großen Avantgardefilme der Filmgeschichte!

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THORIUM 232 (1969) ist ein bemerkenswertes Frühwerk Wybornys, auf Normal 8 gedreht und auf 16 mm aufgeblasen, die Geschichte einer Gruppe junger Leute, die Thorium aus einem Reaktor der BRD stehlen und damit in die DDR fliehen. PERCY MCPHEE – AGENT DES GRAUENS (6. + 7. Folge) (1970) besteht aus Fragmenten eines nie fertiggestellten Films, mit einem Text unterlegt; ein zweiter Teil wiederholt den ersten in Schwarzweiß und mit einem anderen Ton. Mit PICTURES OF THE LOST WORD (1976) gab Wyborny die Narration fast ganz auf zugunsten von musikalischen Rhythmen, nach denen Bilder von (oft Industrie-)

Landschaften zu einer melancholischen Etüde montiert sind; zugleich erhält der Film durch den gesprochenen Text eine autobiographische Komponente.

DER ORT DER HANDLUNG (1977) ist einer von Wybornys besten Filmen. Er verbindet vier sehr verschiedenartige Teile – deutsche Sprachübungen einer Amerikanerin, Wohnhäuser in Hamburg, ein Interview mit einem nonkonformistischen Lehrer, welchem aus seiner Haltung Schwierigkeiten erwuchsen, sowie eine Verfilmung von Herman Melvilles „Bartleby“ – über gemeinsame strukturelle Bezüge und montiert sie so ineinander, daß sie sich gegenseitig kommentieren und ein neues Ganzes ergeben.

Mit POTPOURRI AUS ÖSTLICH VON KEINEM WESTEN (1978/80), SECHS KLEINE STÜCKE AUF FILM (1978) und UNERREICHBAR HEIMATLOS (1978) begann eine Serie von stummen, zumeist auf Super 8 gedrehten und auf 16 mm aufgeblasenen Filmen, in denen Wyborny die Abfolge seiner Bilder ganz nach musikalischen Gesichtspunkten komponierte – nach einer festen Partitur und zum allergrößten Teil schon in der Kamera beim Drehen. Steht bei PICTURES OF THE LOST WORD noch die Thematik der Bilder im Vordergrund, so sind es hier eher die Rhythmen, die das Bildmaterial zusammenhalten.

DALLAS-TEXAS. AFTER THE GOLDRUSH (1971) besteht aus zwei Teilen: einer sehr fragmentarischen Erzählung, angesiedelt in einer Kiesgrube, welche als Westernszenerie firmiert, und dem ein dreiviertel Jahr später mit anderen Darstellern gedrehten Remake dieses Films. Beide Filme sind in der Abfolge ABA’BA zu sehen, wobei A‘ einen anderen Ton als A aufweist. DAS SZENISCHE OPFER (1980), ein weiterer Höhepunkt in Wybornys Gesamtwerk, beruht wie seine unmittelbar vorangegangenen Filme auf einer musikalischen Partitur, nach der das sehr heterogene Bildmaterial (vor allem Industrielandschaften des Ruhrgebiets; die Auswahl der Motive erfolgte spontan bei den Dreharbeiten) mit Hilfe von Verfahren wie Einfach- oder Doppelbelichtungen, Einzel- oder Mehrbildaufnahmen, Auf- und Abblenden oder durch teilweise Verwendung von Rotfiltern organisiert wird.

Diese Spannung zwischen strenger Form und großer Freiheit besitzt auch ELF STÜCKE AUF FILM (GRACE; THINGS) (1985), gedreht in Hamburg und Umgebung. Zugrunde liegen eigene, auf der Tonspur teilweise auch zu hörende Klavierkompositionen, die Struktur und Rhythmus der Bilder bestimmen. Zu sehen sind etwa Grünanlagen am Stadtrand, Häuser, Spielplätze – das „sozialdemokratische Paradies“ (Wyborny); konsequenterweise hat der Filmemacher als Ausstatter des Films die SPD angegeben.

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Wie seinen ungefähr im selben Zeitraum entstandenen ELF STÜCKEN AUF FILM (GRACE; THINGS) liegt auch AM RAND DER FINSTERNIS (1986) eine – auf der Tonspur zu hörende – Klavierpartitur zugrunde, auf welcher die visuellen Rhythmen des Films beruhen. Im Bild erscheinen hier etwa Kanäle, Straßen, Brücken und andere Lokalitäten in Hamburg, versetzt mit Aufnahmen aus Mombasa, wobei sich zwischen beiden Ebenen Bezüge herstellen.

DAS OFFENE UNIVERSUM (OPEN UNIVERSE) (1990) bedeutete eine Rückkehr zur narrativen Form; erzählt wird von einem jungen Mann, den es von Marseille nach Acapulco und als Matrose auf der Yacht eines Paares bis auf die Fiji-Inseln verschlägt, wo er von den Eingeborenen aufgenommen wird. Ein Off-Kommentar begleitet die Bilderfolge, die den Text assoziativ ausdeutet und mittels Kadragen, Schnitten etc. seine Implikationen umsetzt, wobei ein Wechselspiel zwischen Abbildung der äußeren Realität und mythischen Bezügen entsteht. DAS OFFENE UNIVERSUM ist stark metaphorisch angelegt und schlägt einen Bogen von den Abenteuererzählungen Melvilles und Conrads bis zur modernen physikalischen Kosmologie.

VERLASSEN; VERLOREN; EINSAM, KALT (MISSA SOLEMNIS) (1986/92) stellt, so Klaus Wyborny, „einen Versuch dar, die europäische Kolonialisierung der Welt zwischen 1550 und 1914 in einem einzigen Film darzustellen. Ort der Handlung ist das englische Empire in Afrika. Dabei wird Beethovens Missa Solemnis als eine Art Metapher des europäischen Beherrschungswillens über die Welt gelegt, in der sich seine enorme Koordinationsfähigkeit offenbart“. Aufnahmen aus England, Ägypten und Kenia montierte Wyborny hier zu einem seiner schönsten Filme, hochmusikalisch und so, daß sie inhaltlich in ein Spannungsverhältnis zueinander treten.

AUS DEM ZEITALTER DES ÜBERMUTS (DICHTUNG UND WAHRHEIT) (1994) ist eine Art halbfiktiver Autobiographie, gedreht zwischen Ägypten, Marokko, Hamburg und Italien, wobei die Bilder wieder von einem Text unterlegt werden. In den Worten von Klaus Wyborny ist das ein „lyrischer Film, der, in Anlehnung an Goethes Darstellung seiner Jugendjahre, einer Geisteshaltung zum Ausdruck verhelfen möchte, in der das zum autonomen Beobachter erhöhte Individuum die Welt als eine Art Jahrmarkt betrachtet, der vor allem dazu dient, die eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu versorgen“. So verbinden sich etwa Sexgeschichten mit Kulturdenkmälern und anderen Orten. Ein poetischer, nicht zuletzt aber auch ein außerordentlich komischer Film, auch wenn er eher melancholisch endet.


Programm:

5. 5. & 11.5. Sulla
19. 5. Dämonische Leinwand
28. 5. Die Geburt der Nation (The Birth of a Nation)
2. 6. Thorium 232 / Percy McPhee – Agent des Grauens (6. + 7.Folge) / Pictures of the Lost Word
8. 6. Der Ort der Handlung
15. 6. Unerreichbar heimatlos / Sechs kleine Stücke auf Film / Potpourri aus Östlich von keinem Westen
22. 6. Dallas-Texas. After the Goldrush / Das szenische Opfer
30. 6. Elf Stücke auf Film (Grace; Things)
6. 7. Am Rand der Finsternis
15. 7. Das offene Universum
19. 7. Verlassen; verloren; einsam, kalt (Missa solemnis)
28. 7. Aus dem Zeitalter des Übermuts (Dichtung und Wahrheit)