Hans Schifferle, Süddeutsche Zeitung von 27.10.2005
Die Viennale, ein Filmfest für andere Welten
Sie laufen zumeist im Stadtkino, dem sachlichsten Spielort der Viennale: die Filme, die man am ehesten als experimentell bezeichnen könnte. Kein Spielort am Rande - das Stadtkino und sein Publikum bilden eine Säule des Festivals. Und die Pflege eines Kinos, das neue Wahrnehmungsformen ausprobiert, trägt zum speziellen Spirit der Viennale bei. Im Stadtkino konnte man in diesem Jahr "Eine andere Welt", den neuen Film von Klaus Wyborny sehen, dem die Viennale vor drei Jahren ein Special gewidmet hat. Es ist immer wieder ein Ereignis, wie Wyborny seinen Film vorstellt, wie er den Zuschauer langsam in seinen filmischen Kosmos hineinzieht. Wie ein Erzähler aus fernen Tagen wirkt er in dieser kleinen persönlichen Performance, die intellektuell und sinnlich zugleich den Film ankündigt.
Diese Insinuation und ein paar wohlgesetzte Titel wie aus einem Stummfilm laden die folgenden Bilder poetisch auf. Im ersten Canto seines aus fünf Gesängen bestehenden Films über die Entdeckung Amerikas heißt es: "Auf der Suche nach Indien überquert der Admiral zum dritten Mal den großen Atlantik ... / Sie See, die See." Danach sieht man über eine längere Zeit eine Montage aus Aufnahmen vom tosenden Meer, unterlegt mit Musik von Scriabin. Durch die Bilder und Töne und spärlichen Informationen beginnt sich im Kopf des Zuschauers ein eigener Film zu entwickeln. "Eine andere Welt" ist ein Abenteuerfilm, ein Südseefilm, ein Sexfilm (wenn über die Träume von Seeleuten reflektiert wird) und eine Studie über die Beziehung zwischen Amerika und Europa. Ein grandioses Ein-Mann-Epos, der Titel "Eine andere Welt" steht dabei programmatisch für Wyborny: weil sich darin die Sehnsucht nach der Grenzüberschreitung ausdrückt.
Der Titel ist bezeichnend für die Viennale selbst, dieses einzigartige kontemplative Festival, das aus einer traditionellen Cinephilie heraus stets auf der Suche nach einer neuen Sensibilität ist. (...)