Dietrich Kuhlbrodt

Handbuchartikel Klaus Wyborny in CineGraph - Lexikon zum deutschsprachigen Film, Hamburg 1991


Bloß weg hier. Wyborny begann 1967 mit EIN BRIEF AUS DER PROVINZ. Wohin? GOING TO STUITGART. - Schon ein Jahr später sprechen die Filmtitel es radikaler aus. 1968: IM KZ, daher: AUF ZU DEN STERNEN. Bis in die 80er Jahre sagen die Titel: Hier ist kein Bleiben. 1985: VERLASSEN; VERLOREN; EINSAM, KALT - aber es wartet DAS OFFENE UNIVERSUM (1986-89).

Wybornys Aufbruch aus einer als in hohem Maße unbefriedigend empfundenen Gegenwart, insbesondere aus der Gegenwart des Mediums Film, ging in zwei Richtungen gleichzeitig: in die Geschichte des Mediums und in seine Zukunft, zurück zu Griffith und dem Sündenfall des ersten Schnitts (DAS GRÖSSTE VERBRECHEN ALLER ZEITEN) und voraus in den reinen Himmel des befreiten Sehens, nämlich zur Wiedergeburt des aller narrativen Zwänge leidigen Bildes. Wybornys Wiedergeburt datiert auf das Jahr 1972/73: DIE GEBURT DER NANON. Die Filme der ersten Jahre sind weniger Werk als Probe filmhistorischer Forschungen und zukunftsweisender Experimente. Sie sind daher weiterer Arbeit zugänglich, verwendbar. Wyborny bearbeitet sie neu, verwirft, integriert, dementiert. Die Filmografie gibt darüber Auskunft. Seinen Filmen fehlt der indoktrinierende Anspruch, mit dem in den 70er und frühen 80er Jahren die zukunftsgläubige Filmavantgarde dem Zuschauer "neue Sehweisen" aufoktroyierte.
Wyborny zeigt sich in seinen Filmen nicht als der, der im Besitz der Weisheit ist, sondern als einer, der sucht, Versuchungen ausgesetzt ist und darüber Auskunft gibt. Vom irdischen Paradies der Urkinematografie bis zum universellen Ende der Zeit gilt es, den Versuchern zu widerstehen: dem konventionell Narrativen, dem Bequemen, dem Gegenwärtigen. Mit einer unerhörten Kraftanstrengung (DIE GEBURT DER NAT7ON) bringt er die (wahre) Schöpfungsgeschichte des Films auf die Leinwand. Wyborny, Demiurg, schafft die kinematografische Welt neu. Er korrigiert, insistiert, wird zu einem Gott, aber zu einem, der sich plagt, quält und schließlich seiner Arbeit freut. Er ist ein Gott, der den Teufel braucht, den Beelzebub Griffith, das Narrative, - um zu entlarven, sich zu reiben, sich versuchen zu lassen, zu widerstehen - oder zu fehlen. Immer wieder gerät er allen guten Vorsätzen zum Trotz in seinen Filmen ins Erzählen, unter dem Vorwand oder in der Absicht, das Teufelswerk Erzählung' zu untersuchen.

Die Gegenwart, ihre Diskussionen, Anliegen, Moden kommen in seinen Filmen kaum zu Wort. Wyborny ist ein Einzelgänger - einer der, mit der Schuld des Mediums beladen, mit höheren Mächten ringt. Einer der allein ist, verletzlich, vielleicht gekränkt, aber einer der wieder Mensch ist. Und seine Filme überstehen unbeschadet der jeweiligen Diskussionen, Anliegen und Methoden die Zeitläufe.

Die Filmavantgarde verkündete in den letzten beiden Jahrzehnten wechselnde Wahrheiten; in den frühen 70er Jahren galt der vom Narrativen befreite, objektiv reine Film als Film. Seit Beginn der 80er der von strukturellen Zwängen befreite, subjektiv unreine Film (als Aussage über die eigene Befindlichkeit). Im Gegensatz dazu bleibt Wyborny in diesen zwanzig Jahren das Avantgarde-Kontinuum des experimentellen Films. Wobei hinzuzufügen ist, daß er im immerwährenden, ungewiß hin- und herwogenden Kampf mit dem Bösen des Narrativen die eigene Unsicherheit und Bangigkeit zum Gegenstand des Films macht. Das sind die Momente des unfehlbar Vertrackt-Komischen, nämlich Wybornys humoristischer Schild, der ihn vor der allzu intimen Konfrontation mit den Mächten des Bösen schützt. Diese Verwundbarkeit und Menschlichkeit ist es aber auch, die ihn vor demiurgischer Hoffart schützt, wenn er es in seinen Filmen DIE GEBURT DER NATION (1972/73) und DAS OFFENE UNIVERSUM (1986-89) unternimmt, die kinematografische, gar universelle Schöpfungsgeschichte neu zu schreiben (und die alte zu widerlegen).

Andererseits gab ihm die Attitüde des Unvollkommenen aber auch den Mut, neugierig und offen zu bleiben, um Experimente zu wagen, gar das Risiko des Scheiterns vorsätzlich herbeizuführen - zum Beispiel, indem er es in seinen Schöpfungsgeschichten unterließ, die Darsteller zu führen. Etwa wie der Experimentator es gewissenhafterweise unterläßt, in den Versuchsablauf einzugreifen, um das Ergebnis nicht zu verfälschen. I was undermining my own efforts... the way I like to direct people: to have them do very little; over-acting is what I hate most when working with actors' (Wyborny zu Christie, 1981). Also blättert der internationale Star Tilda Swinton (CARAVAGGIO) in Wybornys DAS OFFENE UNIVERSUM hilflos in einer Brieftasche - nunmehr Metapher der Unzulänglichkeit, die Welt mit Hilfe des Geldes (und seiner Geschichte) zu regieren.

Der störrisch-vertrackte, auch verschmitzte Kampf zwischen Pflicht und Neigung; der Glaube an eine bessere (Film-)Welt, der Fleiß, dafür zu arbeiten; die Hoffnung auf höheren Lohn (und keineswegs auf wohlfeile Resonanz beim gegenwärtigen Publikum); schließlich die Liebe zum Metier geben Wybornys Avantgarde-Ästhetik den Ton protestantischer Arbeitsethik - Noch in der "bürokratischsten' (Wyborny) strukturellen Arbeit zeigt sich einer, der Gewissen hat. Im Gegensatz zur rein zukunftsorientierten Avantgarde-Forschung der 70er Jahre ist Wyborny einzigartig im Versuch, (zunächst, als ersten Schritt) Filmgeschichte aufzuarbeiten und zu bewältigen sowie ihre Katastrophen zu entsorgen. Im Rekurs auf die Größe der (Film-)Geschichte, auf ihr reines und strahlendes Urbild, verheißt er die Restauration künftiger Größe - vorausgesetzt, die Gegenwart samt ihren Unzulänglichkeiten erscheint als lästiges, letztlich entbehrliches Zwischenstadium: als Jammertal. Wybornys Kampf ist der Kampf eines Reformators. Doch seine Filme leben von den Verstößen gegen die selbst gemachten Dogmen der reinen Lehre. Etwa in den sehr realen Bildern, die mitten in der kinetisch-rhythmischen Struktur etwas ganz anderes erzählen, stören und verstören" (Wyborny), und etwas von dem bewahren, dem Wybornys Neigung gilt: Bilder der Heimat, der Jugend, des privaten Glücks und Unglücks. Als "elastische Montage" hat Wyborny diese Verstöße in seine Film-Anschauung eingebaut, sozusagen den Sündenfall ins Paradies.

1968, am Anfang des Anderen Kinos, waren Avantgarde, Politik und Spiel noch nicht geschieden, Wybornys erste Filme, der Aufbruch aus dem KZ und dann der Weg AUF ZU DEN STERNEN, waren Attitüde und Signal an die Adresse der Gleichgesinnten, die mit dem Anderen Kino gegen die Gegenwart, wie sie offiziell geworden war, protestierten. STREIK (1968) war eine Solidaritätsbekundung, gezeigt in einer linken Buchhandlung. DALLAS TEXAS (1970) war bereits eine unpolitische Botschaft, bestimmt für das Publikum der Stammkneipe in der hamburger Neustadt. Diese Filme, zunächst als Vehikel, nicht als Werk gedacht, zeigen Wybornys Freunde. Während Hans-Michael Bock in IM KZ und Joachim Wolf in AUF ZU DEN STERNEN dokumentiert sind, sind sie jedoch gleichzeitig durch die Erzählstimme, die im off und disparat über den Aufnahmen liegt, für anderes vereinnahmt worden. Die Personen auf dem Rasen hinter dem Haus sind zur Metapher verewigt, denn dem Text folgend haben sie im Morgengrauen des 19. Juli 1944 in der Nähe von Bialystok einen schweren Stand. Auf dem freien Rasen werden die Personen von einer Vergangenheit eingekapselt, die noch bewältigt werden muß. In AUF ZU DEN STERNEN sitzen freie Bürger in einer Stadtwohnung und stupsen einander auf die Nase. Der Text aus dem off suggeriert jedoch, daß auch sie in einer Kapsel sitzen - jetzt aber auf dem Flug zum Mars. Die große Latenz des Jahres 1968 verspricht etwas; Wybornys Erwartung geht in verschiedene Richtungen; die Gegenwart verspricht nichts.

Das Bild als Metapher erzählt etwas anderes, als es der narrativen Konvention entspricht. Wybornys erstem Anschein ist zu mißtrauen. Die Geschichte hinter der Geschichte wartet auf ihre Enträtselung, auf die Beschwörung der Film-Dämonen.

Wybornys erstes Großwerk, die sechsstündige DÄMONISCHE LEINWAND (1969), versammelt Filme der ersten Jahre und offenbart die attraktiv-spielerische Verbissenheit, mit der er den Erzählstoff handhabt. Die Strukturen werden wie Bauklötze aufgebaut, in riskante Proportionen getrieben, mit Schaudern und Entzücken zum Einsturz gebracht; die Ruinen sind das Material für den nächsten Versuch. Wyborny, der leise sprechende, einlullende Geschichtenerzähler, füllt Bilder, Bildfragmente und Bildspuren mit Informationen, die nicht die ihren sind. In DAS ABENTEUERLICHE, ABER GLÜCKLOSE LEBEN DES WILLIAM PARMAGINO hören wir Wybornys Voice-over, unterlegt mit Chopin: "Rosenrot ging die Sonne über dem Grand Canyon auf, und William war voller Liebe für Janine, und gegen Abend löste sich ihr Lächeln ins Fieber". Als narrative Injektion sind diese Sätze jetzt in einer Einstellung untergebracht, die Überlandleitungen zeigt und einen Mast vor hellblauem Himmel. Die Erzähl-Kapsel ist in einer fremden Welt gelandet, die im Laufe des Films immer unwirklicher wird. Die Einstellung, sauber ein- und ausgeblendet, wiederholt sich, von mal zu mal beschädigter. Die 8mm-Aufnahmen, mit einer 16mm-Kamera von der Leinwand abgefilmt, zeigen jetzt Kratzer, eine große schwarze Fliege, sie erscheinen seitenverkehrt, in Scope, sie altern um Generationen. Die Takes - zusehends 2.Wahl - bergen den Erzählstoff, aber sie versuchen sich jetzt in Regeln zu fügen, die ihnen von der Musik (inzwischen ist es Bruckner) aufgezwängt werden. - Vom alten Narrativen nur die Spur, von der neuen Regulierung ein verzweifeltes Dokument: Wyborny hat mit seinem WILLIAM PARMAGINO ein vergebliches Fundstück der KINEmatografischen Archäologie - wieder im off - vorgestellt: "Dieser Film wurde zu einer Zeit, die nicht die unsrige ist, auf einem Schrotthaufen bei Nanterre gefunden; er erzählt vorn verzweifelten Versuch einer Gruppe von Menschen, sich in die Regeln zu fügen, die ihnen von anderen aufgezwängt wurden. E.P."

In PERCY MCPHEE - AGENT DES GRAUENS (6. + 7. FOLGE) (1969/70) erscheint das Narrative wie ein König ohne Land: es ist da, herrscht, erreicht aber seine Untertanen, die Bilder, lediglich als Vagabund oder als Gaukler. Die Einstellungen sind wieder zweite Wahl, out-takes von dem nie fertiggestellten Science-Fiction-Film "The Party of People Whose Lovers Have Died', einem Wellenschlag gleich auf- und einblendend und auf das Verweilen eines Augenblicks insistierend. Den Blick nicht zielgerichtet, die Ohren offen: so erfährt man Musik und so transportiert sich die Erfahrung ins Bild. Das Erzählerische flottiert in diesem Raum, aber Anfang und Ende kommandieren nichts mehr. Der Imperialismus des Worts ist gebrochen, jetzt kann man mit ihm spielen, mystifizieren, genießen. Wyborny schafft Raum und Zeit für eine wahre Erzählung, an der das Schöne ist, daß sie nicht wahr ist, sondern wahr wird. Märchenonkel, Scheherezade oder jemand, der erzählt und dabei etwas in die Hand nimmt: ein Mitbringsel, ein Foto, eine Super8-Sequenz. Das Mikrophon steht auf dem Tisch, ein Koffer, eine Telefonzelle im Dorf: "Als Maria ihren Reißverschluß öffnete, dachte sie an Josef, der sie liebte". Räucherndes wird eingeatmet, Helena Rubinstein ist zu erkennen, Suche in der Stadtlandschaft. "Maria löste ihr Versprechen ein". Ein Tisch mit Bierflaschen, eine Bücherreihe, eine Wohnung: "Als dann die Sonne wieder aufging, begann die Zeit, von der wir träumten". Percy McPhee träumt die alte Christuslegende in den Bildern, die es noch nicht gab, und der Traum wird wahr, weil er erfahren ist.

Die Kneipe ist der Ort, wo man sich (narrativen) Kommandos nicht fügt, wo im Gegenteil das Wort benutzt wird, um in der Nische etwas magisch zu beschwören und sich die eigene Welt zu schaffen. Wyborny hat seine Filme DALLAS TEXAS und AFTER THE GOLDRUSH (1970/71) für einen solchen Ort gemacht: für das Anfang der 70 Jahre in Hamburg schnell berühmt gewordene Toulouse-Lautrec-Institut, teils Kneipe, teils Mystifikation, immer der Treffpunkt der Leute vom Anderen Kino, von Andy Hertel bis Rüdiger Neumann. - Wybornys Doppel-Kurzfilm hielt die Erzählzeit an und insistierte auf einen Augenblick, einen lang verweilenden, eine abendlange Erwartung: sich ein- und ausblendend eine Kiesgrube, eine Hütte; ein Auto fährt von links rückwärts ins Bild; als die Schlußlichter zu sehen sind, bleibt es stehen. Jemand steht vorm Haus. Jemand fällt vorm Haus. Jemand liegt vorm Haus. Und da capo. Wieder da capo. Und eine Variation: Die Erzählkapseln werden zu musikalisch euphorisierendem Material. - Wyborny führt seine Out-Takes-Technik weiter. AFTER THE GOLDRUSH ist ein Remake von DALLAS TEXAS, gedreht mit anderen Darstellern, die Einstellungen sind nachgestellt. Eine Serie. Sie lebt vom Wiedererkennen, von der Vertraulichkeit, die sich einstellt, aber auch vom Abnutzen und von der bangen Ahnung, daß in der Folge der Filmgenerationen der Beginn verlustig geht.

Der Neigung, sich vom Gesetz der Serie verlocken zu lassen, widerstand Wyborny. Mit seinem nächsten großen Film DIE GEBURT DER NATION (THE BIRTH OF A NATION) (1972/73), folgte er der Pflicht, zum Beginn der Kinematografie zurückzukehren und das größte Verbrechen aller Zeiten aufzuklären: den Sündenfall des ersten Schnitts und damit die erste Untat des narrativen Films. Als Täter ermittelte er Griffith. Dessen exemplarischer Film gab nicht nur den Titel für Wybornys Film ab, er zeigte sich gleichzeitig als Versucher. Wyborny unternahm im ersten Teil seines Films nichts anderes als ein Remake zwar nicht des historischen Films, wohl aber der historischen Entwicklung der Schnitt-Technik, der Großaufnahme, des Schuß-/Gegenschuß-Verfahrens und der Erzählweise des narrativen Films. Mit diesen Mitteln erzählt er - wiederum im off - die Geschichte einer Gruppe von Leuten, die sich immer weniger zu erzählen haben und - im Griffith-Jahr 1911 - in den Wiisten des fernen Afrikas ihre Sprache verlernen. Im zweiten Teil des Films baut sich Wyborny, wieder Demiurg, aus den Trümmern der Welt von 1911 seine eigene. Es ist die zweite GEBURT DER NATION. Die im ersten Teil mühsam erarbeitete konventionell-narrative Struktur ist spielerisch-genießerisch zerschlagen. Wir sehen die Trümmer des ersten Teils in neuer Ordnung; die Musik (Scriabin) ist dieselbe. Aber es sind nicht die
selben Bilder, sondern nicht verwendete Materialien: der Anfang und das Ende eines Takes (in welchem die Darsteller in die Kamera gucken), Out-Takes, Negativ-Bilder, Überblendungen von Negativ-Bildern und Positivmaterial (da die Materialien im Laufe des zweiten Teils mehr oder minder farblich verschieden getönt sind, sprechen jetzt die Differenzen). - Das Bild ist im letzten Teil der GEBURT DER NATION autonom geworden. Und es gibt eine schöne und souveräne Antwort auf den ersten Teil, in welchem es noch als Beweismittel für kinematografische Thesen fungierte.

Wybornys überaus ehrgeiziges Experiment, Filmgeschichte nachzuvollziehen, den Film aus der Sackgasse des Narrativen herauszulotsen und ihm eine vielversprechende Zukunft aufzuzeigen, dieses - gelungene - Experiment hievte Wyborny in die internationale Filmavantgarde und den Film ins deutsche Fernsehprogramm. Wyborny hatte der ersten Avantgarde-Pflicht der neuen Filmkünstller der 70er Jahre genügt.- "Das Ziel der Filmkunst ist die Erforschung der Eigenart der Filmkunst selbst" (Hollis Frampton).

Wybornys DIE GEBURT DER NANON erforscht und verdammt den historischen Sündenfall, verknüpft Plot (die Gruppenbildung in der Wüste von 191 1) mit Metapher (der Prozeß des Sprachloswerdens) und überführt schließlich narrative Fragmente und virulente Erzähl-Infiltrate in eine strukturell abgeklärte, poetische neue Welt. Seine Filme laden zum Verweilen, und er läßt hoffen - auf ein neues System.

Ein nicht-narratives? - Die Latenzen, Spannungen und Antagonisrnen machen DIE GEBURT DER NANON zu Wybornys bedeutendstem Film. Deutlicher und radikaler in dem, was das neue System eines nicht-narrativen Films ist, wird Wyborny in den folgenden Jahren. Von den meta-narrativen Filmen BILDER VOM VERLORENEN WORT (1971-75) und ORT DER HANDLUNG (1976) bis zu den nicht-narrativen Filmen SECHS KLEINE STÜCKE AUF FILM (1977), UNERREICHBAR HEIMATLOS (1977) und DAS SZENISCHE OPFER (1980) erzielt er wegweisende Fortschritte in der mit wissenschaftlicher Genauigkeit betriebenen Forschung der musikalischen und darüber hinaus generell rhythmischen Komposition des Bildmaterials.

Die Erzähl-Kapseln, die in diesen Filmen makelloser Reinheit verborgen sind, werden von sich aus nicht aktiv; sie müssen von außen gesprengt werden. Alles was das Bild stören, die Reinheit trieben könnte, wird aus dem jeweiligen Film hinausverlagert. Dabei handelt es sich in erster Linie um Menschen, die in den puristischen Strukturen der letzten Filme keinen Platz fanden, denen jedoch nach wie vor die Neigung des experimentierenden Reformators Wyborny galt. Ihnen wird deshalb ein eigener, von der pflichterfüllten Arbeit des strukturellen Werks getrennter Film gewidmet: AM ARSCH DER WELT (TO HAVE AND TO BE) (1981). Auch DAS OFFENE UNIVERSUM (1986-89), optisches Oratorium und grandiose Schöpfungsmetapher, läßt Menschen etwas erzählen - allerdings nicht mit der konventionellen Technik des narrativen Films. Geht Wyborny davon aus, daß die strukturelle Arbeit der 70er Jahre ihren Dienst getan hat?

Begonnen hatte diese Arbeit mit den BILDERN VOM VERLORENEN WORT und mit der Anwendung struktureller Gesetze, die er der (keineswegs zeitgenössischen) Literatur und Musik zugleich entnahm: Vorbild waren Flauberts Triaden und Schönbergs Zwölftontechnik, Beispiel einer narrativen Triade: "Er stand auf, kratzte sich am Hintern und ging auf die Toilette" (Wyborny). Als optische Struktur gibt dies in der Einzelbildschaltung die Sechser-Permutation 1,2,3 / 2,3,1 / 3,1,2 / usw. Andererseits versuchte er, die gemeinsame Gesetzmäßigkeit von musikalischer und filmischer Struktur aufzuspüren, mit Hilfe Schönbergs die Triaden aufzubrechen, in Cluster/Akkorde zu verkürzen und dabei den ursprünglichen Inhalt der Bilder, denen seine erste Neigung galt, zu bewahren, nämlich zu verkapseln. Aufgenommen hatte Wyborny Industrielandschaften wie die Battersea Power Station - ein Zentrum der Industrialisierung, das ebenso störte wie verstörte. Die BILDER VOM VERLORENEN WORT übernehmen die industrielle Fließbandtechnik: Wyborny vergleicht die Arbeit der Einzelbildschaltung ("Ein Bild von dem, ein Bild von dem anderen, ein Bild von dem") mit dem, was zu leisten der Arbeiter verpflichtet ist. Die Pflichtarbeit ist in den BILDERN VOM VERLORENEN WORT jedoch von beträchtlichem Reiz, weil in der strukturellen Konsequenz die ursprünglichen Bildinhalte, die narrativen Kapseln, gesprengt und die Erinnerung an die Handarbeit, die hinter den technischen Bauwerken steht, aktiviert wird. In der handwerklichen Arbeit, die die Filmstruktur herstellt, wird die des Industriearbeiters spürbar.

Diese Arbeitsweise wird auch in DER ORT DER HANDLUNG wieder aufgenommen. Schönbergs Quartett op. 10 repräsentiert eine Sternstunde der Geschichte (musikalischer) Struktur: im 3. Satz wird die konventionelle Tonalität verlassen. - Wyborny mißt seine Arbeit jetzt am Tonwerk-Arbeiter. Ausgangspunkt ist in seinem Film ein Sprachwerk - ein Interview mit einem Lehrer, der Berufsverbot hat. Das triadische Ordnungsprinzip der Takes: drei Aufnahmewinkel, drei Einstellungsgrößen, dann wurden die Aufnahmen geschnitten auf die Länge eines Satzes, die Länge zweier Sätze, die Länge dreier Sätze. Wyborny beginnt ganz allmählich bis schließlich alle neuen Einstellungen hin und her geschnitten sind. "Wir wollten die Kontinuität der einzelnen Takes zerstören und eine Auseinandersetzung von Sprache mit einer komplizierten Wirklichkeit komplex abbilden" (Wyborny). Wybornys Kampf gegen die konventionelle Narrativität des Films ist kein Kampf gegen die Sprache, sondern ein Akt sie vom verbrecherischen Mißbrauch zu befreien. DER ORT DER HANDLUNG ist die sprachliche Bearbeitung der Wirklichkeit" (Wyborny).

Den Filmen SECHS KLEINE STÜCKE AUF FILM, UNERREICHBAR HEIMATLOS und DAS SZENISCHE OPFER legte Wyborny eine kinetische Rhythmik unter, die auf Perkussivität beruht. Die Bilder - zum Teil sind es wieder Aufnahmen aus städtischen Industrievierteln - folgen in UNERREICHBAR HEIMATLOS der Partitur der 32. Sonate von Beethoven, in DAS SZENISCHE OPFER, dem vielleicht besten dieser nicht-narrativen Filme, einer eigenen Komposition. Die Filme sind daher stumm. Wyborny versichert, daß die musikalische Struktur nicht mechanisch, sondern "elastisch" übemommen ist. Grundsätzlich folgt die Anzahl der Einzelbildschaltungen jedoch der Tonlänge, die Anzahl der Überblendungen, der auf den Akkord verwendeten Noten. Der Reiz dieser nicht-narrativen Filme liegt jedoch nicht in der strukturellen Analogie, sondern im Aufbrechen der in den Bildern versteckten Infiltrate während der rhythmischen, pulsierenden Bewegung. Es wird Leben erzeugt, Begeisterung. Billwerders Industrieanlagen verraten in dieser Demonstration, was sie einmal für Wyborny - autobiografisch - bedeutet haben.

Schon ein Jahr nach dem SZENISCHEN OPFER (1980) brach Wyborny aus der nicht-narrativen Pflicht aus, - aus der Konsequenz der Struktur, aus der Reinheit der rhythmisch-kinetischen Lehre, aus der Artistik des optischen Pralltrillers. Einen 75 Minuten langen Super8-Film lang legte er das Szepter aus der Hand und gestand sich und seinen Freunden Laissez-faire und Laissez-aller zu. AM ARSCH DER WELT (1981), der Hamburg-Fllm, läßt Freunde, Künstler auftreten und sich produzieren. Keine zentrale Instanz sorgt für Organisation und Ordnung. Wyborny ließ die Freunde machen. Daher gibt es viele kleine Zentralen, wie die vielen kleinen Orte in den vielen Stadtteilen, wo man sich trifft, Musik hört, trinkt, sieht, spricht oder liebt. Auch Andy Hertel vom Toulouse-Lautrec-Institut ist dabei. Der Arsch der Welt entläßt einen deutlichen Furz; der geht gegen störende Ordnung, gegen Theorie und System und Lähmung. Wyborny kippt die Vertikalen. Die Kamera steht schief in seinem Film - oder sind es die Häuser und Fassaden, die in Bewegung gesetzt sind? Die Lehre von der Horizontalität des Horizonts ist ins Wanken geraten, man braucht keinen Diskurs dafür, man braucht nur seine Augen, und man sieht, wohin der Kampf der Wäscheklammern führt, nämlich nirgendwo hin. Weil es um die Besessenheit geht. Zu hören ist, wie er mitkeucht, der Regisseur. Erst jetzt kommt der Film in Fahrt. "Überall rebellieren die Verrückten", konstatiert der Präsident der Republik im Führerbunker, und er dekretiert: "Die Dinge laufen lassen, bis die Infrastruktur zerstört ist. Deutschland soll ein Rührei werden", dann taucht er unter, in Wybornys Wohnung.

Die Bilder, die er 1985 in seinen Filmen aufnimmt, nehmen sowohl dem Exotischen (VERLASSEN; VERLOREN; EINSAM, KALT ist in Ägypten und Kenia gedreht) als auch dem Heimatlichen (GNADE UND DINGE - 11 STÜCKE AUF FILM hat Hamburg als Drehort) das Repräsentative, Offizielle, das Fern- und Heimweh. Afrikas Häuser, Straßen, Tankstellen und Raststätten aus der Perspektive - des Touristen, Hamburg-Barmbeks Stadtlandschaft aus der Perspektive des Radfahrers: Die Super8-Kamera (deren Bilder jetzt wieder auf 16rnin aufgeblasen werden) registriert, wie der gewohnte, aber von fremden Instanzen besetzte Inhalt der Bilder sich entleert. Wer bislang unbesehen Exotisches wie Heimatliches hingenommen, also nicht mehr gesehen hatte, guckt in Wybornys Filmen wieder hin. Auch verschwindet in GNADE UND DINGE die Gnade, in einem sozialdemokratischen Paradies leben zu dürfen, auf begreifliche Weise in den Dingen, die die Aufnahmen zeigen. Wyborny benennt zwar als Ausstatter für diesen Film die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), tatsächlich aber füllen sich die Gebäudeteile, die er zeigt - das Gebäude-Ganze wäre schon wieder in Gefahr, offiziell und repräsentativ zu werden - mit Leben von unten statt mit Gnade von oben; Türrahmen, Straßenecke, Kantsteine und Fensterkreuze sind mit neuen Informationen versehen. Pulsschlag und Kine-Rhythmik dienen jetzt dem Zuschauer zum Energietransfer.

Mit DAS OFFENE UNIVERSUM (1986-89), wiederum dem Wyborny-Genre des Oratoriums zuzuordnen, unternimmt es Wyborny erneut, die Welt und ihren Gang zu erklären und zu deuten und dabei die neuesten physikalischen Erkenntnisse über Raum, Zeit und Materie auf die Entwicklung von Filmformen anzuwenden. Ein Unterfangen, das eines Universalgenies würdig ist. Und wenn es eins gibt - sie schienen seit einigem aus der Mode gekommen -, dann ist es Wyborny. Aber er hält sich bedeckt. Der Anspruch, reformatorisches Zentrum zu werden, wird durch ironisches Understatement verschleiert. Drum wird der Urknall und damit der C-Dur-Akkord in Haydns Schöpfung durch das selbstgemachte Schmatzen der Voice-over ersetzt. Die Kapitel-Triade Raum / Zeit / Materie zwingt ihrerseits die Passionsgeschichte ins Dreieck: Ein junger Däne (Christoph Hemmerling) wird aus Marseille in den Südpazifik verschleppt, wo er sich nach Vatermord (Hanns Zischler) und Mutterbegattung (Tilda Swinton) in einer Kannibalengesellschaft wiederfindet.

Was Wyborny, wie immer im off und neben den Bildern her, erzählt, hatte er ein Jahrzehnt zuvor bereits veröffentlicht ("Fiji", Henry 4). Im OFFENEN UNIVERSUM muß diese kurze Erzählung die lange Geschichte der Erkenntnis tragen. Sie steht jetzt für anderes, Größeres, und ihre Metaphern bedürfen der Zuwendung. Wer da zu dem off-Vortrag über neueste physikalische Erkenntnisse (Stand freilich: 1983) posiert, spielt die Rolle des Elektrons (Eckhard Rhode). Die Fingerkuppen, die sich (fast) berühren, stehen für das Universalgenie Michelangelo, das ist wieder leicht. Aber wie ist es mit dem Turm in Irland? Dublin, der Joyce-Turm zitiert einen anderen Großwerk-Künstler. Von Schubert-Parodie und Romantik-Flucht zu den Furien des Feminismus und den blutigen Händen des KZ-Schergen, schließlich zum binären Denken der Achtundsechziger-Generation sowie der Großtechnologen: Metaphern wollen erschlossen werden. Und da Wyborny ein nicht-eifernder Reformator ist, gerät er auch hier nicht in Gefahr, prätentiös zu werden, eher appelliert er an diejenigen, die behilflich sein möchten. Denn wenn man sieht, wie ungeschickt, aber sorgfältig der junge Däne auf einer der drei Fiji-Inseln Baggermatsch auf Riesenblättern formt, dann ist diese Performance ein einziges Understatement, was acting und Regie anbelangt. Gerade das aber gibt die Freiheit, sich zu beteiligen. Der Flirt mit dem Unzulänglichen hat Charme.

Wie schon in DIE GEBURT DER NANON mündet die narrative Exkursion in einem zweiten Teil, in dem Weltgeschichte und Passionsoratorium subjektiv vereinnahmt werden. Die Initiationsreise des Dänen geht nach innen, als der Weg stirbt" und mit ihm sowohl die Entwicklung wie das Narrative. Also schickt er sich an, "sich das Wort Ich zu erobern'. Die Erfahrungen dieser Reise visualisieren sich in punktuell einbrechenden rhythmisch-kinetischen Schüben. Die Collage aus schiefen Horizonten, blauen und roten Farben, unterlegt mit impressionistischer Musik, haben - zum erstenmal in Wybornys Werk - einen Erzählwert: sie sind Halluzinationen, mindestens aufsteigende Blasen längst vergangener Tagträume. Ist das ein Vorgriff auf die Ewigkeit, nach der der Film am Anfang gefragt hatte? Zieht sich die große Emanation schließlich ins schwarze Loch zurück? Was gilt in diesen Dimensionen ein Einzelschicksal.Wyborny verzichtet in diesem großen Entwurf auf Darstellerführung und Individualpsychologie. Der Mensch steht für seine Gattung, die Großstruktur vereinnahmt Sentimentalität, Fern- und Heimweh, den Egotismus des Individiums. Die Pflicht ruft, doch von der Neigung bleibt eine Spur.

Dietrich Kuhlbrodt


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