Rainer Bellenbaum

LIEBE ARBEIT KINO
NUR HALB GEBÄNDIGT

Über den Filmemacher Klaus Wyborny

Texte zur Kunst Nr. 59, September 2005, S. 168-171


Um so etwas wie einen heutigen Status des "experimentellen Films" zu bestimmen, bleibt meist als einzige Chance die rare Retrospektive in einer der wenigen Institutionen, die sich noch für diese vielen medial obsolet scheinende Gattung einsetzen - oder die Hoffnung auf eine der Spätnischen der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten.

Im Berliner "Arsenal" machte vor kurzem eine solche Reihe die idiosynkratischen Arbeiten des Hamburger Filmers Klaus Wyborny zugänglich. In Abwesenheit einer aktuellen Debatte konnte man sich davon überzeugen, welche ungeheurer Bedeutung ästhetische Experimente seines Kalibers für heutige Filmästhetiken und Bildmontagetechniken haben.


Die Doppelbelichtung einer Fotografie mit ihrem eigenen Negativ ergibt Grau. Es sei denn, Positiv und Negativ decken sich nicht exakt. In diesem Fall bringt eine leichte gegenseitige Verschiebung beider Belichtungsebenen die Konturen des Abgebildeten als Zeichnung hervor. Mit solchen Verfahren der historischen Avantgarde verwandelte Klaus Wyborny seine unterbelichteten Spielfilmaufnahmen aus der Steppe Marokkos Anfang der siebziger Jahre zu einem internationalen Experimentalfilm-Erfolg: "Birth of A Nation" (1973), eine Parodie auf David Wark Griffiths gleichnamiges Amerika-Epos von 1914. Statt Staatsgründung stand bei Wyborny allerdings eine vagabundierende Hippiekommune im Blickfeld. Und noch deren tranige Verständigungsformen galt es zu verfremden, mit den Verstellschrauben von Reprotechnik, Farbfilter, Umkehrprozessen, Zeitverzögerung. Kinematografische Suchmaschine nach unbewußter Bedeutung. Es war die Zeit der Kooperativen, der Aussteiger und Seiteneinsteiger, der Protestbewegung gegen die Institution eines von hierarchischen Erzählperspektiven geprägten Kinos.

Wyborny kam als diplomierter Physiker zum Film. Unschärfe-, Relativitäts- und Quantenfeldtheorie hatten ihn konvertieren lassen. Seine Enttäuschung über die Inkongruenz physikalischer Raumdarstellungen sublimierte er in Kritik an der normalisierenden Raum-Zeit-Konstruktion des narrativen Films, an Identifikationstricks von Schuß-Gegenschuß-Bildern - am Narrativen als "imperialistisch-komische" Form. Ob er sich nun weiter für den Urknall oder "Das offene Universum" interessierte, für Architektur oder Arbeitslosigkeit - immer wieder zerlegte er klassische Filmdramaturgie, Spiel oder Dokument, in rhythmische Montagen. Bildfolgen von oft nur sekundenlangen Einstellungen, unregelmäßig alternierend, rot oder blau eingefärbt, schräg kadriert, die abgebildeten Horizonte diagonal gegeneinander gestellt, wobei das Wechselspiel aus harten Schnitten, weichen Auf- und Abblenden zu eher synkopisch als synchron hinzugemischter Musik einen elastischen Rhythmus erzeugte.

Von heute aus gesehen mag dies wie Pionierarbeit für den späteren Boom kommerzieller Videoclips wirken. Doch zeigte die Werkschau Wybornys im Berliner Arsenal-Kino, daß die pop-industrielle Vereinnahmung einzelner der von ihm eingesetzten Verfahren vieles übersehen hat. Zum Beispiel "Verlassen; verloren; einsam, kalt" (1984-91): Ohne fortschreitende Handlung, ohne Protagonisten konfrontiert der Film die Melancholie britischer Industriebrachen mit der Urbanität des ehemals englischen Empires in Afrika: Reliquien frühmoderner Wirtschaftsmacht gegen die von kolonialen Spuren gezeichneten Landschaften, mal vermischt, mal sortiert, verflacht oder konturiert: Fabriksilhouetten, Strohhütten, Ruinen, Rohbauten, Märkte, Verladehäfen, Palmen, Bewässerungskanäle: Tonangebende Instanz dabei ist Beethovens "Missa Solemnis", "als eine Art Metapher des europäischen Beherrschungswillens über die Welt" (Wyborny). Kyrie, Sanctus, Gloria und Agnus Dei steigern sich hier aber zu einem von Heroismus, Naivität und Ironie gebrochenen Versöhnungspathos. Neben den Straßengeräuschen der Drehorte und Wybornys eigenem Klaviergeklimper irritiert das von der Montage nur halbgebändigte Rohmaterial. Teils rauher Kontrapunkt zur sinfonischen Dekonstruktion, sorgen der wilde Überschuß abrupter Bildsprünge sowie die zitternd unruhige Handkamera immer wieder für Disharmonie, erzeugt die anorganische Collage romantischer Fragmente schillernde Interferenzen.

Peter Wollen hat in seinem semiotisch orientierten Essay "The Two Avantgardes" Wyborny tendenziell jener "introvertiert ontologischen" Fraktion zugerechnet, deren Untersuchung filmtechnischer Parameter sich weitgehend an die Signifikanten halte, ohne sich, wie jene andere Avantgarde (Brecht, Godard, Straub/Huillet), mit den Bedeutungsprozessen dialektisch-materialistisch auseinanderzusetzen. "Verlassen; verloren; einsam, kalt" (nach Wollens Essay entstanden) stellt diese Auffassung nicht nur hinsichtlich der subjektivierenden, musikalisch-performativen Tonebene infrage. Auch durch die Anordnung und Bearbeitung der Bilder konterkariert der Film jene Abenteuerästhetik, mit der klassisches Erzählkino üblicherweise postkoloniale Handlungsräume subsumiert. Dennoch erahnte Wollen mit seinem Hinweis auf Introvertiertheit wohl nicht zufällig den Insiderstatus, den auch Wybornys neuere Filme im Kinobetrieb einnehmen. Zwar sind diese inzwischen weniger durch die apparativen Verfahren der Reproduktion geprägt, dafür jedoch von einem hohen Maß von auctorialer Selbstreferenz, wenn nicht gar von Egomanie. Damit einher geht ein nahezu universalistischer Schaffensdrang. Mit den neunziger Jahren verlegt der geübte Seiteneinsteiger seine obsessive Leidenschaft vom Filmisch-Bildhaften aufs Literarisch-Narrative und schreibt seitdem an einer zwölfbändig angelegten "Comédie Artistique", einem sentimentalistisch-lakonischen Erzählstrom aus biografischen Erinnerungen, theoretischen Reflexionen über Kunst und Alltag oder auch aus Recherchen zur Antike. Wenn er, als weitbereister Hamburger und gebürtiger Magdeburger (Jahrgang 1945), nun im Interview als Grund für die neu entfachte Erzählfreude mal die "Erfahrungen" seiner Altersreife, mal die deutsche Wiedervereinigung angibt, schwingt darin eine gute Portion Ironie mit. Einen eher sarkastischen Ton schlagen dagegen die literarisch verfaßten Bekenntnisse an: "Ich habe eine Unmenge von Nuancen in der Bedeutung ihrer Bilder [seiner Filme, Anm. R.B.] wahrgenommen, wobei ich von den meisten nicht einmal weiß, ob sie in ihnen überhaupt enthalten sind. Das war vielleicht das Wunderbarste an diesem ins Leben gehenden Prozeß, und doch sind sie Scheiße, wie alle Filme Scheiße sind, Scheiße, denn sie repräsentieren einen entsetzlichen Verlust ... einen Verlust von - Hierheit."

Was auch immer "Hierheit" hier anpeilt, eine vom Erzählstrom permanent zu aktualisierende Geschichte oder den Anspruch auf jene unmittelbare, alle Voraussetzung transzendierende Präsenz künstlerischer Äußerung - im Gespann mit jenem Wunderbar-Spukhaften der kinematografischen (Selbst-)Erfahrung umreißt solche Schimäre treffend das Kräftespiel, das Wybornys Montagewerk, wie ein perpetuum mobile, insgesamt antreibt. In diesem Sinne stehen die reproduktionstechnischen Abstraktionen moderner Gesellschaftsbilder (früherer Filme) und die späteren Variationen literarisierter Lebensgeschichte auf einer Linie. Jüngeres Beispiel: seine Verfilmung der eigenen Romanvorlage, "Sulla" (1990/2001, Produktion, Regie, Buch, Kamera, Musik, Schnitt - K. Wyborny!), eine fiktionalisierte Biographie des von Plutarch überlieferten Lucius Cornelius Sulla aus dem 2. bis 1. Jahrhundert vor Christus. Was im ersten Moment den Verdacht auf "große Erzählung" wecken mag, entpuppt sich abermals als ausgedehntes Spiel von Nuancen und Variationen. Darin mimt Hanns Zischler den schlachterprobten römischen Feldherrn als vergrübelt männerfantasierenden Müßiggänger. Über weite Strecken des in sieben Kapiteln gegliederten Films sehen wir ihn zurückgezogen in einem lichten Pinienhain, nahe des süditalienischen Tarracina, allein mit seinem Feldbett zwischen herumliegenden Steinen und Pferdeäpfeln. Unterbrochen ist diese Szenerie von Sullas Visionen einer von ihm zu "durchfühlenden" griechischen Mathilde sowie der ihm ergebenen römischen Stadtkulisse. Dabei steht die erstaunlich klassisch-realistische Inszenierung zu der von Wyborny selbst früher geäußerten Kritik am narrativen Film ebenso kraß im Widerspruch wie die frappierende Verdopplungsstrategie von Bild und Ton gegenüber jener kinematografischen Bauernregel, nach der ein Film statt mit Worten in Bildern zu erzählen sei. Denn zu den stummen, zwischen geruhsamer Begierde, bemühter Selbstzufriedenheit und entspanntem Verdruß schwankenden Posen Zischlers liest Wyborny im Off vierzig Seiten seines Romans vor, immer wieder das ansprechend, was im Bild zu sehen ist. Etwa wenn Zischler seine Lippen stumm zu der im Off vorgetragenen wörtlichen Rede bewegt. Oder wenn Corinna Belz, in der Rolle der Mathilde, einige Zentimeter ihres Gewands hochhebt, während der Text dies als Sullas inneren Monolog betont. Mit solcher visuell-verbalen Abgleichung schafft auch dieser reduktionistische Erzählfilm eine anorganische Komposition, in der die dargestellten Oppositionen (Rom - Griechenland, Herr - Sklave, Antike - Moderne, Mann - Frau, obszöne Sprache - diskrete Kleidung, geile Lust - stoische Philosophie, etc.), allegorisch komisch, jenem spukhaften Präsentismus verfallen. Wo eine solchermaßen der avantgardistischen Repräsentationskritik verhaftete und auf hohem cineastischen Niveau operierende Darstellung heute im klassischen Format des Spielfilms daherkommt, stellt sie das institutionelle Kino allerdings unvermindert vor eine Herausforderung, nahe jener der Quadratur des Kreises.

Rainer Bellenbaum