Hundert Jahre Film sind nun bald zu bedenken, und kaum jemand wird dabei wohl die beiden dominierenden Gestalten der Post-Griffithschen Zwanziger Jahre ignorieren wollen: Stroheim und Eisenstein - als interessanterweise in die Irre führende Meilensteine der Filmgeschichte lassen sich POTEMKIN und GREED unmöglich übersehen. Stroheim wurde 1885 geboren, Eisenstein 1898; Stroheim machte wie der zehn Jahre ältere Griffith seine ersten Filme erst als Mittdreißiger, Eisenstein schon mit 25, das erklärt den Impetus, mit dem er 1925 in einem sinnlos erscheinenden Angriff auf Vertov schreiben konnte: "Wir brauchen kein Kino-Auge sondern eine Kino-Faust. Der sowjetische Film muß Schädel zerschmettern!"
Stroheim behauptete, er hieße Erich Oswald Hans Karl Marie Stroheim von Nordenwald und sein Vater sei Major in der KUK-Armee gewesen; in Wirklichkeit - so Jon Barna - war sein Vater ein einfacher Stroheim, der in Wien mit der Herstellung von Filzpantoffeln zu tun hatte. 1910 emigriert er, dient Griffith als Assistent und Schauspieler, erlebt mit ihm das Fiasko von INTOLERANCE und macht 1918 seinen ersten Film BLIND HUSBANDS. Von Griffith erbt er das Bedürfnis nach epischer Weite; Welt- und Menschen-Bild seines Lehrmeisters müssen ihm jedoch als zu sentimental vorgekommen sein, denn von Anfang an spürt man bei Stroheim das Bedürfnis, zumindest einen realistischeren, in sich widersprüchlicheren Menschentyp abzubilden. Perlende Güte und schablonenhafte Schlechtigkeit, deren Gegensatz das californische Kino ansonsten strukturieren, verbinden sich in seinen Filmen zu merkwürdigen Mischexistenzen, die weder schlecht noch gut sind, sondern einfach vorhanden; Stroheim hat das Menschenbild des Kinos von der reinen Idee zu befreien und gewissermaßen zu entplatonisieren versucht. Dabei ging er wohl von Introspektion aus, denn er wählte sich selbst als Darsteller eines gewissenslosen, unkontrollierbar dem eigenen Vergnügen zugewandten Charaktertyps, der in all seinen Filmen wiederkehrt. Er wurde als Schauspieler zum "man, you love to hate."
Solch ironische Selbstinterpretation war Eisenstein fremd. Der Architektensohn aus Riga war Platoniker durch und durch und versuchte, einer "richtigen" Idee zum Sieg zu verhelfen. Er propagierte die Etablierung eines tendenziell "intellektuellen" Films, der sich vor allem mit Gedankenfeldern zu beschäftigen habe, in dem Personen als Träger von Gedanken und Ideen zu erscheinen hatten, nicht aber als differenziert gezeichnete Individuen. Das Individuum reduziert Eisenstein zum "Typ", in vielen Fällen zum bloßen Vertreter seiner "Klasse". Ein solcher Vertreter ist es bei Stroheim auch, dennoch gibt es bei ihm zwischen Hochstapler und Adligen kaum Unterschiede: ihren Neigungen folgend vertreten beide im Grunde bloß die Gattung. Der Sprung zu GREED und der Hölle der sogenannten einfachen Menschen fiel da nicht schwer: der "realistische" Ansatz, der seit Zola mit Armut und Entbehrung zu tun hat, war für den aus einfachen Verhältnissen kommenden Stroheim Lebenserfahrung; der Gegensatz der "bösen" Reichen zu den "guten" Armen, der uns bei Eisenstein oft begegnet, ist bei ihm bloß eine Lebensvariante.
Seltsamerweise laden ihrer beider Namen ein, ihr Werk unter ihm zu subsummieren: einerseits EISEN-STEIN, dessen namensverankerte Festigkeit sich nur vom stählernen Stalin übertreffen ließ, nach dessen Bild er in ALEXANDER NEWSKIJ und IWAN DER SCHRECKLICHE idealisierte, einen frösteln machende Herrscherporträts schuf; und andererseits STROH-HEIM, dessen Attacken auf bürgerliche Heimeligkeit wohl nur mit der Erfahrung zu denken sind, daß jedes solcher Heime letzendlich nur aus Stroh gebaut ist und allzuleicht von den Flammen der Leidenschaft verzehrt werden kann. In diesem Sinne bildet die Stroheimsche Charakterisierung einer Herrscherpersönlichkeit aus QUEEN KELLY den logisch-trivialen Gegensatz zur Eisenstein-Stalinschen Härte Iwans: "Königin Regina V., süchtig nach Blut wie ihre Ahnen, eitel und selbstsüchtig - ihre Begierden sind Gesetz!" Die beiden bilden ein trefflich dialektisches Paar.
EISEN-STEIN fühlt sich in Sprache und Bild von den Wellen der Weltrevolution geleitet; er plant seine Filme sorgfältig und versteht auch, sie - bis auf zwei spektakuläre Ausnahmen - abzuschließen. STROH-HEIM dagegen verirrt sich regelmäßig in der anarchischen kapitalistischen Produktionsweise; wie sein Hauptcharakter seinen Launen verfallen, vermag er seine Filme nur in Ausnahmefällen im Einvernehmen mit den Produzenten abzuschließen, die Produktionen enden im Streit. Nach Tageslaune läßt er neue Dekorationen bauen oder bestellt zusätzliche Komparsen, für die er detailversessen bis zu den Unterhöschen seiner Tänzerinnen in Kalifornien exzentrisch wirkende Kostüme aus der alten Welt schneidern läßt: FOOLISH WIVES ist auf 100.000 Dollar kalkuliert und kostet 400.000, GREED am Ende 500.000 Dollar. Doch das sind peanuts, die wirklichen Katastrophen ereignen sich beim Schnitt. Vom Griffithschen Längebazillus infiziert möchte auch Stroheim lange Filme machen: seine Fassung von Foolish Wives ist 21 Rollen - dreieinhalb Stunden - lang, das Studio kürzt ihn auf zweieinhalb; für eine Wiederaufführung werden daraus später flotte achtzig Minuten. Stroheims ursprüngliche Fassung von "GREED" besteht aus 42 Rollen - sieben Stunden; nach heftigem Streit kürzt er den Film auf vier, und als MGM ihn danach gegen seinen Willen auf knapp zwei Stunden zusammenschneidet, weigert er sich, den in dieser Form verliehenen und uns überlieferten Film anzusehen (dennoch befindet sich im Titel immer noch seine intime Widmung "To my Mother") - er ist der Antiplanwirtschaftler par excellence. Bei allen Schwierigkeiten mit der politischen Linie hatte Eisenstein nie Probleme mit Etat und Länge, er ist der Mann schon des "Vorher" - wie auch Hitchcock - selbst die Komposition vieler seiner Einstellungen ist sorgfältig geplant, nach Möglichkeit sogar gezeichnet: Iwans Bart und Blick! Gegen das Starre der geschichtstragenden Eisensteinschen Gestalten steht das weltmännische Auftreten Stroheims, ganz Penis in stramm sitzender Ofiziersuniform; trotz der schmalen Lippen mutet ihm etwas Negroides an, das überkurze bis weit über die Schläfen wegrasierte Haar ordnet ein unsinniger Mittelscheitel; in gewichsten glatten Stiefeln ist er Exhibitionist durch bloße Präsenz; wenn er herumblickt, will er sehen, was die Welt mit ihm anfangen kann. Stroheim ist Selbstdarsteller, Hochstapler, der Prototyp des in der Marktwirtschaft sich selbst auf den Markt präsentierenden Regisseurs.
Eisenstein nennt die autobiografischen Notizen, die er 1946 nach seinem Herzinfarkt im Krankenhaus anfertigt, "absolut unsittlich" und zwar aus dem Grund, weil "darin überhaupt keine Planmäßigkeit enthalten ist." In diesem Sinne sind auch Stroheims Filme unsittlich. "Sie werden mir beipflichten, daß in einer Zeit, die von Planwirtschaft und Ideologie bestimmt ist, so etwas natürlich vollkommen unmoralisch ist!" schreibt Eisenstein. Der bei ihm seltene auf sich selbst bezogene ironische Ton verrät die Überraschung, mit der er, für den Sarkasmus gegenüber Anders-Denkenden selbstverständlich war, die dieser Unmoral zugrunde liegende menschliche Wahrheit nun akzeptieren möchte; ihr fühlte sich Stroheim, dessen ausufernde Filme auf sympathische Weise einen stringenten Plan vermissen lassen, anscheinend immer verbunden. Konsequent sind sie auch inhaltlich unsittlich im Sinne des Bürgerlichen: der "Plan" stammt ja eigentlich aus der Lebenspraxis des Bourgeois (wir erinnern uns an Hitchcock), dem das gänzlich Ungeplante zuwider ist - gerade Unsittlichkeit ist ihrer Struktur nach ja exzessiv und ausufernd, planlos. Halt in dieser sich auch dem kühl rechnenden Bourgeois nächtlich und in Mußestunden offenbarenden inneren Uferlosigkeit bietet sich Stroheim im übersichtlichen Ordnungssystem des Bordells.
In "Wedding March" - von Stroheim den "wirklich Liebenden dieser Welt" gewidmet - entsteht daher der Plan für die Heirat zwischen dem letzten Spross der degenerierten Adelsfamilie der Wildeliebe-Rauffenbergs mit der verkrüppelte Tochter eines Hühneraugen-Pflaster-Fabrikanten zwar noch im Stephansdom, den Ehekontrakt aber, das Geschäftliche, handeln die Familienoberhäupter besoffen in der Ecke eines Luxusbordells liegend aus. Ähnlich zwanglos endet der an einem europäischen Königshof beginnende "Queen Kelly" in einem der Tante der Titelheldin gehörenden afrikanischen Etablissement: auf dem Sterbebett bedrängt sie dort ihre Nichte, eine verführte Klosterschülerin, einen widerlichen Krüppel namens Jan Vryheid zu heiraten, der dem Stern seiner Namenswurzel folgend zum ausgelaugten Alkoholiker-Wrack geworden ist. Die in diesem Bordell an diesem Sterbebett erfolgende widernatürliche Eheschießung durch einen schwarzen Priester gehört zum Erstaunlicheren aus Stroheims Filmen. Die Art, wie das schon einmal geprügelte junge Mädchen die Situation aufnimmt, ihr Entsetzen und ihr schließliches Einlenken, mit dem sie den perversen Seelenfrieden ihrer Tante wiederherstellen möchte, all das spielt sich trotz rasch wechselnder Schnitte mit entsetzlicher Langsamkeit ab, wie in Zeitlupe - hier entdeckt man die Ursache der Stroheimschen Länge: die ihn wirklich interessierenden Momente will er wirklich "realistisch" abbilden, und zum Realismus gehört für ihn mehr als das Dekor, dazu gehört die dabei verstreichende Zeit. Die Ausmalung solcher Momente, an denen er ein geradezu ontologisches Interesse hat - zu ihnen zählen auch "erste Begegnung" und "Verführung" - bildet die Substanz seiner Filme - an ihnen beteiligt er den Zuschauer als Voyeur, da ist er fast Pornograph: sie werden zum ewigen Moment, der das eigentliche Leben ausmacht, das für Stroheim aus einer kuriosen Mischung von beschränkter Einsichtsfähigkeit, Übermut, Sich-Gehen-Lassen, Zufall und Schicksal besteht. Dieses Schicksal wollte, daß seine Filme nur als Ruinen überlebten, aber das scheint ihre Qualität paradoxerweise kaum zu beeinträchtigen, im Gegenteil: gerade in diesen Ruinen strahlt sein ewiger Moment in einer Klarheit, die dem meisten Erhaltenen versagt geblieben ist. Die Ökonomie der in den Dreißiger Jahren entstehenden Tonfilme, wo so etwas in zehn Einstellungen mit pointierten Dialogen dargestellt sein will, konnte jemanden wie ihn nicht interessieren.
Auch Eisenstein fühlt sich zur Ausmalung solcher einem ewig vorkommenden Momente hingezogen, Treppen- und Nebel-Sequenz des POTEMKIN schon erzählen davon; er hat daran aber nicht das Interesse des Realisten oder des Pornographen, die ja schon mit der Oberfläche zufrieden sind; Film scheint für ihn wegen der der Projektion innewohnenden Irrealität nicht genug Präsenz zu haben, als daß man die Dinge nur einfach so zeigen könne "wie sie sind"; stattdessen muß man in Gestik und Typik überziehen und den Gegenständen durch Schnitt und damit verbundenen Perspektivwechsel die Mehrdimensionalität wiederverschaffen, die sie bei der einfachen Abbildung verlieren: kaum jemand verwendet so viele "unmotiviert" erscheinende überlappende Schnitte wie Eisenstein.
Doch was wäre er ohne seinen Ausflug in die Welt Stroheims, in die feindliche Welt des Ausland, der mit der Katastrophe seines mexikanischen Films endete? Das von ihm dabei erlittene Martyrium machte ihn zum Heiligen, den selbst Stalin nicht mehr antastete. Dabei agiert er in dieser anderen Welt zwar selbstbewußt, aber auch merkwürdig ziellos, ein Baby fast, dessen haptischer Veranlagung es zwar gelingt, sich an alles mögliche anzuheften, im Grunde jedoch verraten seine amerikanischen Versuche mit unideologischen Stoffen bloß eine entsetzliche Hilflosigkeit. Vom Bild her ist dieses Riesenbaby, das uns in vielen Photos entgegenlächelt, das genaue Gegenteil Stroheims - doch obwohl er sich von ihm noch viel mehr in der Verantwortlichkeit gegenüber der Form unterscheidet, brauchte er etwas, was Stroheim nie nötig hatte: eine führende Hand. Die Frage muß man natürlich anders stellen: Hätte Eisenstein sich so sehr der Form unterwerfen können, wenn er nicht religiös an den gerechten Gang der kommunistischen Sache geglaubt hätte? Zum Fluchtort wurde Form bei ihm allerdings erst im zweiten Teil des IWAN, wo er sich der von ihm ersehnten "Ekstase" endlich beim plötzlich in Farbe erscheinenden Tanz junger Männer zu nähern wagt und sich beim interessanterweise direkt danach stattfindenden entsetzlich zerdehnten Mordversuch an der schrecklichen Vatererscheinung des Zaren endgültig im ewigen Moment verliert. Wieder freilich erreichte er ihn nur durch eine Art Unterwerfung, unter die Zeitstruktur der Musik diesmal, deren Wesen das gestreckte Diessein ja schon ist: Prokofjews Musik zu seinem Film und die Tradition, die sich in ihr präsentiert, wird ihm, der sich für unmusikalisch hält, zum Ersatz für die richtige Linie in der Politik. Derek Jarman erzählte mir, in Eisensteins persönlichem Exemplar von John Reeds "Ten Days That Shook the World", der Vorlage zu OKTOBER, wäre der Name Trotzkis von Hand durchgestrichen, im ganzen Buch - anscheinend von Eisenstein selbst. Was mag nur zum Vorschein kommen, wenn sich die Moskauer Archive wirklich öffnen?
Hannah Arendt hat bemerkt, daß sich keiner der Sokratischen Dialoge mit der Frage des Bösen beschäftigt, nie wird bei Plato auf die Konsequenzen eingegangen, die sich aus der Existenz abstoßender Dinge und Handlungen für die Ideenlehre ergeben müssen. Dies mag Zufall sein, seither jedoch beschäftigt sich jede neue Generation von Idealisten mit der Erschaffung eines neuen Idealbilds des Bösen, dessen Gegnerschaft der Hervorbringung des von ihnen ersehnten reinen Schönen im Wege steht - leider geschieht dies mit brutaler, fast atavistisch anmutender Hilflosigkeit und so wundert sich auch Eisenstein in ungespielter Ahnungslosigkeit über den Sadismus seiner Filme: "unter den Hufen von Pferden splittern die Schädel von Landarbeitern, die man bis zum Hals in die Erde eingegraben hat; es werden Kinder auf einer Treppe zu Tode getreten, vom Dach geworfen; man läßt die eigenen Eltern sie umbringen, wirft sie in lodernde Feuer; Stiere verbluten, ein erschossenes Pferd hängt an einer geöffneten Zugbrücke". Es ist ein Sadismus, der metaphorisch arbeitet und die Bourgeoisie als seinen Hervorbringer als böse diskreditieren möchte - zur Niederschlagung eines Streik wird die Schlachtung eines Stieres parallelmontiert. Tatsächlich handelt es sich bei vielen dieser Metaphern wie dem weißen Pferd auf der Zugbrücke um Selbstporträts, aus deren Sadismus Rachewünsche sprechen, die zu erfüllen man sich offen erst nach dem Erringen der revolutionären Herrschaft leistete. Dazu paßt Eisensteins Vorstellung vom Publikum als einer Art knetbarer Masse, die man auf richtige Weise zu erregen und zu beeinflussen habe (durch "Pathos" zur "Ekstase" - sic!); da "das Publikum" für männliche Regisseure häufig etwas Weibliches hat, erstaunt nicht, daß Eisenstein von seiner Mutter als "sexuell überaktiv" spricht: von seinem Vater seiner Ansicht nach nicht richtig behandelt, wurde sie außerehelicher Affären wegen schuldig geschieden. Stroheims Sadismus ist demgegenüber offen und hat ein offen schlechtes Gewissen, er wächst aus seinen Charakteren und geht nicht über diese hinaus, er ist Teil seines Menschenbildes; daher ist er immun gegenüber den Irrungen im Umgang mit dem Bösen, die nicht nur Eisenstein an den Tag legte. Dabei neigt auch Stroheim zu Metaphern, sein Gefühl dafür ist jedoch ganz dem gutmütigen Teil Griffiths entlehnt; er hat die Entdeckungen seines Lehrers ironisiert und inflationiert: Griffiths Blütenmetapher verwandelt er in nächtliche Blütenmeere, Regen in orgiastische Sintfluten. Auf seltsame Weise schafft er es, die Details in der filmischen Erzählung auf diese Art wieder zu entmetaphorisieren und zum Bestandteil des einfach Seienden zu machen, in dem wir auf dem Steckbrief aus GREED auch den bekannten Vogel im Käfig wiederentdecken: "Gesucht: McTeague, der am Weihnachtsabend seine Frau Trina ermordet hat. Treibt sich im Tal des Todes herum. Besondere Kennzeichen: Führt in einem Käfig einen Kanarienvogel mit - 100 Dollar Belohnung!"
Eisenstein erlernte das Regiehandwerk beim Pontonbrückenbau im Bürgerkrieg, aus dieser Zeit rührt seiner Ansicht nach jedenfalls seine Freude an der Choreographie der Menge und ihrer Bewegung. Doch wenn er erzählt, daß seine Mutter nach ihrer Scheidung die Möbel der bis dahin gemeinsamen Wohnung aus Riga nach Petersburg mitnahm, und er sich, dem Vater zugeschlagen, als Elfjähriger durch die auf einmal leerstehende Wohnung radelnd wiederfand, diesem "ausgeräumten Niemandsland", will einem auch dies als Wurzel für das Bedürfnis, Filme möglichst maximal mit Ausstattung und Statisten zu bevölkern, plausibel erscheinen: auch solch plötzliche Ödnis mag solchen Wunsch auslösen, in dem er sich mit einem ihm im Grunde doch Fremden wie Stroheim trifft, als ob sie bei der Umsetzung des sie Treibenden möglichst viele Zeugen brauchten, die ihrem irrealen Wollen Wirklichkeit verleihen. Je ausgefallener die Vision, desto mehr benötigt man vielleicht diese Zeugenschaft, ohne sie ist man in seiner Großartigkeit verloren. Von Stroheim gibt es allerdings keine überlieferte Kindheit, seine Biografie ist Werbelegende der Studios, jede Einzelheit daraus gelogen, zumindest übertrieben und maßlos verzerrt: die meisten der vielen schlüpfrigen Anekdoten, die seine Filme umranken, sprechen - darin ist er wirklich Pionier - vor allem vom cleveren Umgang einer PR-Abteilung mit einer dankbar sich empörenden, unseriösen Presse. Selbst seine eigenen Äußerungen sind nicht unbedingt hilfreich: daß ihm nach der Kastration von GREED jeder künstlerischer Ehrgeiz abhanden gekommen wäre und er danach Filme "nur noch" gemacht habe, um seine Familie zu ernähren, möchten wir ihm zwar glauben, man spürt aber auch eine allzu glatte Selbststilisierung.
Wenn in Eisensteins Aufzeichnungen von seiner Begeisterung für "die Linie" die Rede ist, die sich für ihn später in die gefühlte Linie der Filmmontage verwandelt, einer Linie in der Zeit also, sehe ich merkwürdigerweise die Kurven vor mir, die er mit seinem Fahrad, ohne dessen Bewegung er der deprimierenden Starrheit der plötzlichen familiären Ödnis vielleicht nicht gewachsen gewesen wäre, durch die bloß noch väterliche Wohnung zog. Zu dieser mechanisch erzeugten, eine unerträgliche Situation dynamisch auflösenden Linie paßt Meyerholds von ihm sein Leben lang geschätzte Biomechanik, nach der ein gut durchdachtes System von Bewegungen eine vielfältige Gefühlsskala besser wiedergibt als ein "Erleben der Rolle." Ich meine diese von Eisenstein geliebte "Linie" auch im berühmten Pilgerzug zu Iwan noch erkennen zu können, sie wird von tausenden in einer Schneewüste stehenden Statisten gebildet, an denen der Regisseur am liebsten mit einem Fahrad vorbeifahren würde, um an ihrem Ende wieder diese unmöglich zu liebende Vatergestalt - Iwan - zu entdecken, die allerdings als einzige Hoffnung auf Weiterleben verspricht.
Und doch: obwohl bloß Riesenbaby, ist der "kleine Junge aus Riga", als der er sich bis an sein Lebensende begriff, ein Riese - ja er war wirklich verloren in seiner Größe. Auf seine Einladungskarte zum Ball der Stalinpreisträger schrieb er 1946: "eben hier, während des Tanzes in den Armen der Marezkaja, spät nachts, erlitt ich einen Herzinfarkt." Stroheim war natürlich nicht klug genug, sich einer solch komplizierten Fesselung zu unterwerfen. Man wünscht ihm etwas mehr von der ästhetischen Wucht der Eisensteinschen Bilder, nur in GREED kam er in deren Nähe. Der sogenannte Realismus seiner anderen Filme bleibt oft im Anekdotischen stecken, gelegentlich sogar in der Oberfläche der Operette. Eisensteins - wie kann man den Namen seines Kameramanns zu erwähnen vergessen: Eduard Tisse! - Bilder treffen den Betrachter dagegen immer noch mit der brutalen Wucht einer Kanonenkugel; aber sie stehen einsam, niemand sonst vermochte solche Bilder zu machen. Ich weiß nicht einmal, in was für Filme sie passen könnten: irgendwie sieht man nicht ein, warum man sich ihnen als Zuschauer aussetzen sollte; da ist einem Stroheim, den die Götter des Films zwischen 1930 und seinem Tode 1957 nur noch als Schauspieler arbeiten ließen, seltsamerweise doch wieder lieber - und zwar so wie er ist.