K.Wyborny

DIE IDEE DES SCHNITTS UND DAS RAUM-ZEIT BEWUSSTSEIN 1908 - 1910

(Ein Annäherung an die Primitivgrammatik der frühen Filme von D.W.Griffith)

Vortrag an der HfBK Hamburg im Mai 1974

Der Grundbaustein eines jeden Montagekomplexes ist die Einstellung.
Unter einer Einstellung verstehen wir im Folgenden das Bild, das eine auf einem Stativ befestigte Kamera von einem sich vor ihr abspielenden Ereignis liefert, wenn sie mit einer Geschwindigkeit von etwas mehr als 20 Bildern pro Sekunde läuft, wenn das Bild richtig belichtet ist, das Objektiv in etwa ein Normalobjektiv ist, das Bild einigermaßen scharf, und das Stativ fest mit der Erde verbunden ist.
Unter der Projektion einer Einstellung verstehen wir eine Projektion mit einem Projektor, der mit etwa gleicher Geschwindigkeit läuft und in einem annähernd dunklen Raum ein einigermaßen scharfes und helles Bild liefert.
Dies alles sind durchaus keine Selbstverständlichkeiten.

In dieser Terminologie ist die Vorführzeit einer Einstellung in etwa gleich der Aufnahmezeit.

Filme, die aus einer Einstellung bestehen, können daher nur ein Zeitkontinuum beschreiben, das gleich der Vorführzeit ist, und ein Raumkontinuum, das gleich dem Raum der Abbildung ist.

Die Menge solcher Filme ist nur beschränkt durch die Menge des zur Verfügung stehenden Filmmaterials. Zur Klassifizierung solcher Filme bieten sich vor allem inhaltliche Kategorien an. Man kann sie vielleicht in solche einteilen, die inszeniert sind, also dokumentarische Einstellungen, wie die berühmte Ankunft des Zuges von Lumière, in solche, die teilweise inszeniert sind - das Lumièrsche Frühstück eines Babies oder die sich naßspritzenden Gärtner, und solche, bei denen auch die Hintergründe inszeniert sind, wie etwa kürzere Theater-Abfilmungcn. Der Begriff des Dokumentarischen ist hier aller-dings historisch sehr fragwürdig, denn dokumentarisch sind wohl alle Produkte, in der sich eine Epoche der ihr folgenden offenbart.
Im Grunde müßte eine Klassifizierung dieser Filme isomorph zu einem Klassifizierungssystem der sich frei entfaltenden Wirklichkeit sein.

Wir haben gesagt, daß Filme, die aus einer Einstellung bestehen, ein Zeitkontinuum beschreiben, das gleich der Vorführzeit ist, und ein Raumkontinuum, das gleich dem des abgebildeten Bildes ist. Eine Extrapolation über diese Kontinua ist nicht möglich und wird vom Zuschauer auch nicht versucht. In Ein-Einstellungsfilmen entfaltet sich die Wirklichkeit in ihrem Ist-Zustand, oder - historisch gesehen - ihrem War-Zustand.

Und es gibt das Bewußtsein, daß es gleichzeitig eine Unmenge von anderen Bildern gibt, die sich zur gleichen Zeit abspielen, und daß man über die Beziehungen zwischen diesen Ereignissen in diesem Film, den man gerade sieht, nichts erfährt.

Ein-Einstellungsfilme sind daher tendenziell unmoralisierend, sie haben aus sich heraus keinen didaktischen Wert, dieser entsteht nur durch die Projektion des Gesehenen auf die eigene Erfahrung, durch einen inneren Mehr-Einstellungsfilm, wenn man so will, also.

Und sie haben den Charakter einer ungeheueren Beliebigkeit.

Eine kommerzielle Verwertung von Ein-Einstellungsfilmen erwies sich als nicht möglich, jedenfalls nicht auf längere Sicht. Sie erschienen, als das Medium jungfräulich war, wie als Demonstration seiner Fähigkeit. Ihre Vorführstätten waren die Weltausstellungen und ihre Abziehbilder, die Jahrmärkte. Als die Sensation der im Wind sich bewegenden Blätter als Abbildungsphänomen begriffen war, gab es keine ökonomischen Möglichkeiten mehr für diese Form, denn um wirklich zu sein, fehlte es ihr an zwei Qualitäten, dem Ton und der Aktualität.

Das Medium wäre zur absoluten Bedeutungslosigkeit verdammt, hätte es nicht zufällig die Möglichkeit gegeben, den Bildträger mit einer Schere durchzuschneiden. Dies war von den Erfindern der bewegten Abbildung eigentlich nicht vorgesehen und wurde von ihnen im Nachherein sogar verurteilt.

Die Möglichkeit des Schnitts machte den Film erst verwertbar im ökonomischen Sinn. Mit dem ersten Schnitt wurde das Kino moralisierend, didaktisch und kriminell. Vor dem ersten Schnitt war das Kino beobachtend, man mußte sich eine Einstellung sorgfältig ansehen, mußte beim Sehen an ihr arbeiten, um aus ihr Nutzen in irgendeiner Form zu ziehen, man mußte also in irgendeiner Form geistig produktiv sein - danach konnte man sich diese Arbeit von den Manipulateuren mit den Scheren und Klebpressen abnehmen lassen, aber gehen wir langsam vor.

Vielleicht noch eine Bemerkung:
Mit dem ersten Schnitt wurde das System der Arbeitsteilung im Film manifest. Fortan gab es Leute, die sich nur mit den Hintergründen der inszenierten Handlungen beschäftigten, es gab Schauspieler, dazu Leute, die für die Koordination der einzelnen Einstellungen sorgen mußten, usw. Die Produktion wurde arbeitsteilig, die Inhalte der Produktionen wurden normiert, die Produkte wurden zur Ware, und sie verloren sehr schnell den Charakter der Randkuriosität, den sie zur Zeit der Erfindung hatten.

Noch einmal zurück zu den Ein-Einstellungsfilmen - nicht, weil ich so sehr dran hänge, weil sie so schön übersichtlich sind, und man dadurch leichter zu Aussagen kommen kann, die in sich haltbar sind, sondern weil sie von enormer Bedeutung für die ersten Montageversuche waren.

Die Beschränkung, einen Vorgang mit Hilfe nur einer Einstellung abzubilden führte ziemlich rasch zu einer Form, die man heute Totale nennen würde. Man biIdete das Wesentliche eines Vorgangs und seine Umgebung ab. Die Abbildung eines Details löst in einem Ein-Einstellungsfilm Rätsel aus, zu viele Fragen über die Fortsetzung des abgebildeten Raumkontinuums, und dafür vermochte man damals nicht viel Geschmack zu entwickeln.

Die Totale wurde die beherrschende Einstellung bis 1910, im Erzählerischen FiIm eigentlich bis heute, weil sie einen räumlichen und damit einen elementaren Sinnzusammenhang stiftet, wenn die kabbalistischeren Details der Filmgrammatik beim Zuschauer in dieser Hinsicht Unsicherheit ausgelöst haben mochten.

Ich möchte jetzt zur Aufmunterung mal ein Dia zeigen.

Dieses Dia ist kein Ein-Einstellungsfilm. Wie Sie sehen, bewegen sich die Blätter der Bäume in Hintergrund nicht. Wenn wir einmal annehmen, die Blätter würden sich bewegen, dann hätten wir immer noch keinen der typischen Filme aus jener Zeit vor uns. Denn diese Einstellung, auf der vor allem ein wenig unklar wirkende Felsstrukturen sichtbar sind, ist keine Totale. Es ist auch keine Naheinstellung. Es ist etwas von beiden, aber der sichtbare Raum wird einem als Zuschauer nicht klar. Man weiß nicht, was um den Bildausschnitt herum passiert, möchte es aber wissen. Um mit dem Bild etwas anfangen zu können, muß man ein wenig denken. Das aber ist ein Verlangen, das diesen Film von einer kommerziellen Verwertung ausschließen würde. Man könnte über dieses Dia oder diesen Film (wenn es einer wäre) noch einiges mehr sagen, zu dem seltsam unklaren Verhältnis von Vordergrund und dem Raum des Hintergrunds zum Beispiel, man könnte auch sein inhaltliches Geheimnis lösen (die dort in den Felsen - es sind die Externsteine - hineingehauenen Stufen gehören zu den ersten Kulturspuren in Deutschland), aber ich will vor allem auf Folgendes hinweisen: Nehmen wir einmal an, die Blätter auf diesem Bild bewegten sich im Wind, ich glaube, dann würde man an sich beobachten, daß unsere Aufmerksamkeit sich diesen Blättern zuwenden würde. Und das wäre in einem hypothetischen Film ein enormes Ablenkungsmittel von dem kulturellen Gehalt dieses Bildes, oder wie immer man das auch auf ihm vorhandene bezeichnet.
Soweit das Dia.

Die entscheidende Erfindung, die den Film wirklich kommerziell verwertbar machte, war der Zwischentitel. Mit Hilfe dieses Mittels konnten nämlich die meisten Fragen gelöst werden, die durch den Übergang von einer Einstellung zur nächsten entstehen können. Es gab zwar einige Versuche, Bilder ohne Titel miteinander zu verbinden, aber es war oft schwierig den Zusammenhang zwischen diesen Bildern zu begreifen, und es gab noch kein Verfahren, das eine serielle Produktion von Filmen dieser Art ermöglichte. Die Zusammenhänge zwischen den Bildern waren oft nur den Produzenten verständlich, und das Publikum begriff sie leicht als eine Aneinanderreihung von mehreren Ein-Einstellungsfilmen.

Daß es dabei zu wahren Genieleistungen kam, wie zu den Filmen von Porter, ändert an der Grundsätzlichkeit dieser Aussage nichts.
Mit der Erfindung des Zwischentitels gab es plötzlich die Möglichkeit der seriellen kommerziellen Produktion und Auswertung.
Es gab nämlich sehr bald eine Form und die sah so aus:

x1 t1 x2 t2 x3 t3 ... kn tn

ein Film also, der aus n Einstellungen und n Titeln bestand.
Diese Einstellungen konnte man munter wie Ein-Einstellungsfilme herstellen, und alle Fragen, die eventuell aus der Aneinandersetzung zweier Einstellungen entstanden, würde man schon durch einen Zwischentitel lösen können.
Die Möglichkeit dieses Verfahrens löste den ersten Konzentrationsprozeß in der Filmindustrie aus, den wir vorhin skizziert haben. Mit dieser Erfindung hoffte man zu Recht ein Verfahren entwickelt zu haben, mit dem man normierte Produkte von einer ungeheuren Vielfalt seriell herstellen konnte.

Nebenbei bemerkt ist dies die Form, die sich bis heute in allen TV-Features gehalten hat, nur daß heute statt der überleitenden Zwischentitel ein überleitender Kommentar im off gewählt wird. Das spricht für das außerordentliche Potential dieser Erfindung.

Es gibt nun zwei sehr wichtige Klassen von Zwischentiteln. Einmal Titel von der Art "Fünf Jahre später", und zum anderen solche von der Art "Gleichzeitig, aber in Frankfurt", wobei die Klasse der Titel erster Art, solcher also die Zeitverschiebungen beinhalteten früher entdeckt wurden, und eigentlich, wenn man in Nachherein die Entwicklung der Filmgrammatik betrachtet, die bedeutungsloseren sind.

Der Titel "5 Jahre später, am gleichen oder anderen Ort" ist direkt aus der Literatur übernommen. Er erwies sich als einfach auf das neue Medium übertragbar und wurde vom Publikum, das zu lesen verstand, auch begriffen: die auf den Titel folgende Einstellung wurde dementsprechend mit der vorherigen verglichen, und man verstand es, sie einander zuzuordnen. Diese Art des Titels hat sich bis heute im erzählerischen Kino erhalten - wenn er nicht explizit auftaucht, wird er kontextual aus dem Folgenden hergeleitet, was nach der Erfindung des Tonfilms kein Problem mehr war. An solchen Überleitungsstellen setzen saubere Handwerker noch heute Ab- und Auf- oder Überblendungen; auch ein harter Schnitt läßt sich in der Regel schnell aus dem Folgenden begreifen, woraufhin man das präsentierte Zeitgefüge schnell rekonstruiert.

In der Stummfilmzeit gehörte der Titel "5 Jahre später" zum Muß-Repertoire eines jeden Films, der Zeitabschnitte, die über 5 Jahre hinausgingen sich unterstand.
Bei den Titeln, die Verschiebungen innerhalb von Räumlichkeiten beschreiben, verhält es sich anders. Titel dieser Art sind schnell aus dem Repertoire der Grammatik verschwunden. Das ist zweifellos eins der Verdienste von D.W.Griffith, und wir wollen jetzt einmal einen Film zeigen, der den Zustand des Kinos vor Griffith beschreibt.

Es handelt sich um den Film "Crossroads of Life", dessen Form im wesentlichen dem beschriebenen Schema entspricht, bis auf zwei Ausnahmen, von denen die erste auch total unverständlich anmutet, obwohl gerade in dieser kontextual fragwürdigen Einstellung, in der das Mädchen einen Brief, von dem keiner weiß, wann er geschrieben worden und an wen er adressiert ist, in den Briefkasten wirft (abgesehen davon, daß die Einstellung so total ist und sich so viel darin abspielt, daß man gar nicht bemerkt, ob überhaupt ein Brief eingeworfen worden ist)
Bei dieser Szene muß sich das Publikum selbst seinen Zwischentitel herstellen, was aber hier nicht so einfach möglich ist.

Die andere von diesen Schema abweichende Szene in Theater ist hingegen sehr flüssig und verständlich, obwohl man auch hier gern noch die eine oder andere Erklärung als Zugabe hätte.

Insgesamt allerdings zeichnet diesen Film die Lächerlichkeit einer Problematik aus, wie sie nun einmal typisch ist für einen kommerziell verwertbaren narrativen Film, aber daran brauchen wir uns ja nicht zu stören, denn heute verfügen wir über genug Abstand gegenüber dem Dokument.

Es gibt in diesem Film noch einen speziellen Titel, der in sich ein beträchtliches Potential hat, und das ist der Text des Briefes, ein Insert. Er wird in eine einzige Einstellung eingebettet, wobei die ihn enthaltende Montagefigur die Struktur x1 t x2 hat.
Diese Figur ist der Prototyp des Dialogzwischentitels, und stellt besondere Anforderungen an die Kontinuität der Bewegung.
Die einfachste Arbeitsmethode, diese Figur zu erstellen, besteht darin, x1 durchgehend aufzunehmen, dann aufzutrennen und den Zwischentitel einzufügen, wobei man u.U. einige Bilder aus x1 herausschneiden kann, um die Zeitverlängerung auszugleichen, die durch die Addition des Titels entsteht. Es gilt hier also die Gleichung Projektionszeit = Eigenzeit der Einstellung. Diese Montagefigur stellt daher an die Raum-Zeitvorstellung des Zuschauers keine besonderen Anforderungen.
Bei sehr langen Einstellungen gibt es die Möglichkeit, die Einstellung x1 an der Stelle, an welcher der Titel eingeschnitten werden soll, abzubrechen, und mit der Inszenierung von x1' wieder neu anzusetzen, wobei man natürlich gewisse Kontinuitätskriterien erfüllen muß.
Diese Arbeitsmethode ist die Keimform der seriellen Produktion von Montagekomplexen , wie wir noch sehen werden.
Kürzere Spieleinstellungen lassen sich nämlich mit geringerem Materialverbrauch als längere realisieren, die Fehlerquellen bei der Realisierung der Inszenierung sind bei kürzeren Vorgängen schließlich geringer. Dies macht sich nun bei Filmen, deren dominierende Einstellung die horizontal durchspielte Totale ist, nicht so stark bemerkbar, weil man hier auf das Repertoire der Theaterschauspielerei zurückgreifen konnte, und dort verstand man ja durchgehend horizontal zu spielen.
Mit der Erfindung der Naheinstellung hingegen trat der ökonomische Vorteil der kürzeren Inszenierung deutlicher hervor. Eine Kontrolle des Schauspielers weist in der Naheinstellung erhebliche Fehlermöglichkeiten auf, wie falsche Blickrichtung, falscher Gesichtsausdruck, zu schnelle Bewegung, Fehler, die in der Totalen durch die vielen Störinformationen der anderen Darsteller und herumstehenden Objekte weitgehend vertuscht werden.

Die MPPC fand also zur Zeit ihrer Gründung eine Filmform x1 t1 x2 t2 ... xn tn vor, wobei xi in der Regel ungleich xk war. Diese Form ermöglichte, eine Unzahl von Filmen herzustellen, so daß der Optimismus der Produzenten, mit dieser Form die industrielle Produktion einer Ware möglich zu machen , nicht unbegründet war.
Es gab keine Drehbuchproblem, denn eine jede literarische Vorlage konnte mühelos in eine Folge von 10 oder 15 Einstellungen umgewandelt werden, und das war eine Arbeit, die jeder des Lesens und Schreibens einigermaßen Kundige ohne große Mühen ausüben konnte, so daß man die Drehbuchhonorare auf niedrigen Stand einfrieren konnte. Schauspielerei und Inszenierung konnte man wegen des Beharrens auf der Herrschaft der Totalen auf dem Niveau einer Laienspielgruppe belassen, weil in der Totalen Ungenauigkeiten leicht zu übersehen sind und damit bedeutungslos werden. Also auch auf diesem Sektor war eine Politik der niedrigsten Entlöhnung möglich, die Voraussetzungen für monopolistische Marktausnutzung waren gegeben.

Das Verfahren hatte ökonomisch gesehen freilich eine Schwäche, und die war letztendlich verantwortlich für den Niedergang des Filmtrusts. Wenn man heute Film aus den Tagen der Entstehung des Monopols sieht, so fällt auf, daß bei aller Vielfalt der Geschichten, die Hintergründe, vor denen sich diese Geschichten abspielen, geradezu von einer ausgesucht armseligen Gleichförmigkeit sind. Man sieht immer gleich möblierte Räume mit der billigsten Theaterstaffage, und diese Schmucklosigkeit konnte einem zahlenden Publikum auf Dauer nicht verborgen bleiben.

Es gab zwei Wege, dieser offensichtlich zur Schau gestellten Armseligkeit zu entrinnen., und beide waren mit einem erheblich höheren Kapitalaufwand verbunden.
Zum einen konnte man die Räumlichkeiten luxuriöser ausstatten, mit Requisiten oder Statisten, man konnte also sorgfältiger dekorieren, und zum anderen konnte man auf die Straße gehen. Daß auch dieses zweite Verfahren kostspielig ist, wird schnell klar, wenn man sich überlegt, daß Aufenthaltskosten für den gesamten Stab entstehen, daß man wetterabhängig ist, und daß es viel Zeit kostet, von einem Schauplatz zum anderen zu kommen.
Bei einer Produktionsform x1 t1 ... xn tn mit xi ungleich xk gab es abgesehen von Prestigeproduktionen keine finanzielle Möglichkeit mit gleichem Kapitalaufwand üppiger ausgestattete Filme herzustellen. Es gab allerdings eine Chance: Wenn man schon eine Einstellung luxuriöser ausstattet, so wollte man sie wenigstens öfter sehen, aber die Form x1 t1 ... xn tn bot dazu keine Möglichkeit. Im Grunde gab nur die Möglichkeit des Dialogzwischentitels, aber dieses Verfahren war bei der Dominanz der Totalen nicht abwechslungsreich genug.

Dies etwa war der Zustand der Filmsprache des seriell hergestellten Films, als Griffith die Szenerie betrat.

Fassen wir noch einmal zusammen:

Filmform: x1 t1 ... xn tn mit xi ungleich xk wobei die ti produkte der Form ti =- ti1 ti2 ti3 sind mit
ti1 - handlunstreibende Titel (Dialoge, Briefe etc) ,
ti2 - ortsverschiebende Titel (gleichzeitig an einem anderen Ort),
ti3 - zeitverschiebende Titel (5 Jahre später)

Das Produkt kennzeichnet Mischformen z.B. der Art: "ein wenig später an einem anderen Ort"

Die Zeitvorstellung, die sich der Zuschauer von dem vor ihm abspielenden Geschehen macht läßt sich durch folgende Gleichung ausdrücken:

wobei T(Z) die Zeitvorstellung des Zuschauers beschreibt, T(xi) die Projektionsdauer der Einstellung xi und T(ti3 ) die Zeitverschiebung, die der Titel ti suggeriert.

Bei unserem Filmbeispiel haben wir schon bemerkt, daß Titel der Form
"Ein klein wenig später an einem in der Nähe gelegenen Ort" gelegentlich weggelassen werden, wobei man darauf hoffte, daß sie sich im Zuschauer herstellen.

Griffiths Verdienst nun war nicht zuletzt, ein Verfahren entwickelt zu haben, das die serielle Produktion von Filmen ermöglichte, in denen sich

erstens: Zwischentitel vom Typ ""Gleichzeitig oder ein klein wenig später an einem in der Nähe liegenden Ort" aus dem Zusammenhang ergaben und nicht mehr explizit aufgeführt zu werden brauchten.
zweitens: gleichzeitig die Inszenierung von Einstellungen mit luxuriöser Ausstattung (einer Außenaufnahme etwa) finanziell vertretbar war, weil eine jede solche Einstellung häufiger vorkam, sogar vorkommen mußte, um die weggelassenen Zwischentitel implizieren zu können.
drittens: wurde beim Zuschauer eine Erwartungshaltung nach einem Phänomen ausgelöst, das man als filmische Spannung bezeichnen kann, nach etwas, das man vorher nicht seriell hat herstellen können.

Das Wundermittel, mit dem das alles hat erreicht werden können, heißt Parallelmontage.
Wir wollen als erstes einen Film zeigen, der 1910 entstand und bei dem man dieses Montageverfahren beobachten kann. Er heißt "Her Terrible Ordeal" und ist sicher nicht der erste Film, bei dem diese Montageform angewandt worden ist, aber es ist ein repräsentatives frühes serielles Produkt. In diesem Film gibt es keine Zwischentitel mehr, die Einstellungen sind häufig Außenaufnahmen und es entsteht filmische Spannung durch Montage, eine Spannung, die unseren heutigen Sehgewohnheiten freilich eher rührend vorkommt.

// "Her Terrible Ordeal" wird gezeigt//

Der Film besteht aus fünf Einstellungen x1 bis x5, von denen sind drei direkt benachbart:
x1 - das Büro
x2 - die Straße davor
x4 - das Innere eines Safes im Büro

Den räumlichen Bezug zwischen diesen Einstellungen vermitteln Bewegungsträger, in diesem Falle Personen, von denen wir sehen, daß sie, nachdem sie aus einer Dekoration verschwunden sind, direkt danach in einer neuen wieder auftauchen, ohne daß zwischendurch ein anderes Bild erscheint. Einen solchen Übergang nennen wir einen einfachen kontinuierlichen Schnitt.

Der Schauplatz x3 ist eine Straße, die in der Nähe der Straße x2 liegt. Es gibt einen durch einen Bewegungsträger vermittelten Übergang von x2 nach x3. Bei ihm taucht die Person in x3 aber nicht unmittelbar nach ihrem Verschwinden aus x2 auf, sondern man beobachtet das Straßengeschehen in x3 eine Weile, bevor sie erscheint. Daraus schließen wir, daß diese beiden Schauplätze weiter voneinander entfernt sind als x1 und x2. Einen solchen Übergang nennen wir einen quasikontinuierlichen Schnitt. Dann gibt es noch x5, den Bahnhof. Auch dessen Zuordnung zu den anderen Schauplätzen erfolgt durch einen Bewegungsträger, aber nicht durch einen direkten Übergang aus einer der anderen Einstellungen, sondern erst nachdem wir einige andere Einstellungen gesehen haben. Auch hier wäre ein quasikontinuierlicher Schnitt möglich gewesen, aber um das Gefühl einer erheblichen Entfernung zu vermitteln, wäre eine für das Handlungsgefüge gewissermaßen "tote" Zeit von erheblicher Länge zu überwinden nötig gewesen. Man hat dieses Problem gelöst, indem man in der Zwischenzeit ein anderes Ereignis an einem anderen Schauplatz beobachtete.

Ich gebe mal eine Liste der Schnittfolgen:

x1 x2 x1 x2 x1 x2 x1 x2 x3 x1 x4 x2 x1 x4 x1 x4 x1 x4 x1 x5 x1 x4 x1 x2 x4 x5 x4 x2 x1 x2 x4 x5 x1 x2 x1 x2 x4 x3 x4 x2 x1 x4 x1

Es fällt auf, daß zu zunächst einmal die Hauptschauplätze x1 und x2 sowie x1 und x4 mehrmals sorgfältig hintereinander durch kontinuierliche Schnitte verbunden sind, so daß über die räumlichen Abstände dieser Orte keine Zweifel mehr bestehen. Mehr Zeifel bestehen da schon bei der Lokalisierung von x3 und x5. Im wesentlichen ist aber das Prinzip das gleiche: man erhält den Abstand zweier Schauplätze, indem man die anscheinende Geschwindigkeit eines Bewegungsträgers mit der zeitlichen Differenz zwischen seinem Verschwinden und seinem Wiederauftauchen multipliziert. Ist die Differenz zum Beispiel Null, so wären die Räume unmittelbar benachbart.

Das ist allerdings eher theoretisch abstrakt richtig, denn als Zuschauer hat man ja keine Stoppuhr in der Tasche, im Gegenteil, das Zeitbewußtsein, das man beim Betrachten eines Films entwickelt, scheint dem einer Stoppuhr direkt zu widersprechen. Wenn ich von einem Filmgeschehen vermute, es habe etwa eine Stunde gedauert, so bemerken wir oft, daß die reine Vorführzeit nur zehn Minuten betragen hat, d.h. irgendwo sind 50 Minuten verschwunden. Das ist nun nicht ganz so rätselhaft, wie es vielleicht scheint. Bei einer ins Einzelne gehenden Analyse der Montagefiguren kann man sehr wohl zeigen, wo diese Zeit verschwunden ist, aber diese genaue Analyse wird von einem Zuschauer nicht vorgenommen. Obwohl er es also mit einem Raum-Zeitgefüge zu tun hat, von dem er glaubt, daß es ihm vertraut ist, daß es sogar real und realistisch ist, handelt es sich um ein total synthetisches Raum-Zeit-Gefüge, das alle Merkmale des Irrealen hat. Daß hier einer der Gründe für die Unterlegenheit des Zuschauers gegenüber den Leinwandhelden hat, ist offensichtlich und eine der Wurzeln des Starcults, aber auch das müßte man genauer untersuchen.

Wir haben bislang über die räumliche Distanz der Schauplätze gesprochen, aber noch nicht über die geometrischen Beziehungen zwischen ihnen. Sie ist offensichtlich zwischen x1 (dem Büro) und x4 (dem Inneren des Safes), offensichtlich sind die Räume direkt aneinanderliegend, wie die Doppeldekoration in "Crossroads of Life". Man kann hier leicht beobachten, daß sich die räumliche Zuordnung disjunkter Schauplätze aus der Bewegungsrichtung der Bewegungsträger ergibt, und das erklärt auch die Unsicherheit, die einige Zeit über die genaue geometrische Beziehung zwischen dem Büro x1 und der vor ihr liegenden Straße x2 besteht. Dort ändert sich beim Schnitt nämlich die Bewegungsrichtung und das irritiert doch ziemlich. In moderner Terminologie nennt man ein solches Ereignis einen Achssprung, und in einer stringenten Filmgrammatik würde man einen solchen Schnitt als Fehler bezeichnen müssen.
Aber wir kommen hier auf ein Gebiet von sehr speziellen Einzelproblemen, von denen wir hoffentlich einige im Seminar genauer besprechen können.

Ich möchte zum Schluß versuchen, diese neue Form, welche die seriellen Filmproduktionen annahmen, etwas präziser in den Griff zu bekommen. Die beherrschende Montageform ist die disjunkte Parallelmontage. Disjunkt bedeutet, daß sich die Schauplätze nicht überlappen.
Filme aus n Einstellungen, die so geschnitten sind, haben die Form

wobei m>2n eine Näherungsgleichung ist, die bedeutet, daß die Zahl m des Erscheinens von Einstellungen deutlich größer ist als die Zahl n der verschiedenen Einstellungen selbst. Nach der Etablierung der räumlichen Zuordnung der Schauplätze durch Bewegungsträger gibt es keine anderen Beschränkungen für Hin- und Hersprünge zwischen diesen Schauplätzen als gewisse Kontinuitätskriterien für die Bewegungsträger, die den Schauplatz wechseln.
Diese Form läßt die serielle Produktion zu: denn 1.) können alle Einstellungen, die am gleichen Schauplatz spielen, nacheinander abgedreht und später beim Schnitt in die richtige Reihenfolge gebracht werden, und 2.) läßt sie potentiell den ganzen Kosmos zum Schauplatz des Geschehens werden, solange die einzelnen Schauplätze durch Bewegungsträger einander zugeordnet werden können.
Die Existenz dieser Form und die Möglichkeit ihrer ökonomischen Ausnutzung sind nun auch die wirklichen Ursachen für die Etablierung der Nahaufnahme und das ganze Repertoire von Ausschnittsveränderungen, wie wir sie von den Produkten der gegenwärtigen Filmindustrie gewohnt sind. Griffith hat sicher die Großaufnahme nicht erfunden, aber mit der Entdeckung der Möglichkeit dieser Form hat er der Großaufnahme zu einem syntaktischen Zusammenhang verholfen, ohne den sie sich nicht hätte etablieren können. Paradoxerweise wurde durch die Großaufnahme und die im Anschluß daran erfolgende Vielfalt der Erscheinungsformen der Abbildung die Produktion kurzweiligerer längerer Filme mit Stars möglich, die der MPPC, die sie aus ökonomischen Gründen einführte, selbst den Nacken brachen.

Wenn wir unsere Terminologie ausweiten indem wir den weiter indizieren und einen Index für die Einstellungsgröße einführen so haben wir mit

die universelle Form der disjunkten Parallelmontage, wenn dabei die Plausibilitätskriterien für zeitliche Kontinuität eingehalten werden.
Wir werden zum Abschluß einen Film sehen, der nach dieser Struktur aufgebaut ist, und danach besser schätzen lernen, ein welch ungeheures Potential diese simple Formel enthält und wie weitgehend sie noch heute zum Beschreiben recht komplexer Vorgänge und Handlungsabläufe tauglich ist.

(Vorführung von "Lonely Villa")

Montierte Filme beschrieben im Gegensatz zu Ein-Einstellungsfilmen kein Zeitkontinuum, in dem die abgebildete Zeit gleich der Vorführzeit plus den in den Zwischentiteln erläuterten Zeitsprüngen ist, und auch das Raumkontinuum ist nicht mehr gleich dem in den Bildern direkt dargestellten. Der Zuschauer vollzieht eine Extrapolation über das direkt Dargestellte hinaus. Jede einzelne Einstellung, die er sieht, begegnet ihm wie ein Zeigefinger, der auf einen bestimmten Ausschnitt eines Gesamtpanoramas weist, das sich ihm allmählich im Verlauf eines Filmes erschließt und erst in seinem Kopf entsteht. Er wird durch diese Montageform tendenziell entmündigt, das macht ihn bereit für bedingungslose Konsumption. Und fatalerweise offenbaren die Produkte, die er konsumiert, nicht mehr eine Wirklichkeit im Ist- oder War-Zustand, sondern sie stellen eine Wirklichkeit dar, der Raum-Zeit-Gefüge prinzipiell und von Grund auf deformiert wurde.
Es ist sicher kein Zufall, daß die Produktionsstätten solcher Filme eine Zeitlang als Traumfabriken bezeichnet wurden. Die Irrealität setzt nicht erst beim Starkult ein oder den verdrängten Wünschen, die Irrealität ist dem Entstehungsprozeß immanent.

Zum Abschluß noch eine Bemerkung zum dauernden Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen Schauplätzen, wie es sich durch diese Erzählform eingebürgert hat. Offenbar entsteht dadurch beim Zuschauer der Eindruck, er könne an allen Schauplätzen zur gleichen Zeit anwesend sein. Des weiteren wird dadurch die zeitliche Länge, die er sich an einem einzelnen Schauplatz aufhält, beschränkt: er muß sich rasch wieder anderem zuwenden. Dies führt zu zwei wesentlichen Resultaten:
zum einen hat sich durch die Etablierung dieser Filmform die Konzentrationsfähigkeit gegenüber der einzelnen Einstellung abgeschwächt, was wir an uns, die wir mit dieser Form aufgewachsen sind, schon dadurch bemerkbar macht, daß wir große Mühe haben, den embryonalen Gebilden dieser Form, wie wir sie heute gesehen haben, zu folgen.
Und zum anderen führt die ständige Begegnung mit dieser Form zu etwas, was ich das Postulat von der universellen räumlichen Präsenz des Zuschauers nennen würde, daß er nämlich erwartet, in einem Film an jeden Schauplatz geführt zu werden, der irgendeinen Bezug zum Geschehen hat. Und dieses Postulat ist wiederum verantwortlich für die verbitternde Uniformität, in der sich die seriell hergestellten narrativen Filme heute offenbaren. Denn dieses Postulat führt uns immer wieder zu den gleichen Motivationen und Hintergründen, so daß sich Bitomskys Aussage, daß wir eigentlich nur zwei, drei Filme sehen, aus diesem Postulat begründet.
Vielen Dank.


ANHANG: EINIGE SÄTZE AUS PETER BÄCHLINS BUCH „FILM ALS WARE"

 

„Es entscheidet der Unternehmer", schreibt Sombart, „ob eine Erfindung ‘gut’ ist, d.h. ob sie eine solche Erfindung finden kann, daß sie Gewinn abwirft. Also werden nur solche Erfindungen (. . . ) genutzt, die diese Aussicht gewähren. ‘Gute’ Erfindungen sind ‘rentable’ Erfindungen."

Der Film ist ursprünglich ein von Wissenschaftlern und Technikern geschaffenes Reproduktionsmittel zur Wiedergabe von photographischen, bewegungserfüllten und kontinuierlichen Sehbildern. Ebenso wie bei den modernen akustischen Reproduktionstechniken, dem Grammophon und dem Radio, setzt beim Film sofort nach seiner Erfindung und zum Teil entgegen der Ansicht seiner Erfinder die wirtschaftliche Auswertung ein.

Die intensive Wirklichkeitsillusion, die das kinematographische Bild erzeugen kann, ermöglicht dem Film sowohl die Abbildung der Wirklichkeit selbst, als auch die Darstellung einer Scheinwirklichkeit, welche die Wirklichkeit durch wunschgemäße Korrektur entstellt. Die Produktion dieser zweiten Kategorie von Filmen nimmt in unserer Gesellschft den weitaus größten Raum ein.

Der Charakter des kapitalistischen Films wird ... durch den ökonomischen Zwang zur größtmöglichen Popularität bestimmt.

„Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis."

Zunächst war es der Novitätscharakter des Films, der seine Produktions- und Konsumtionsart fast ausschließlich bestimmte.

... entwickelte sich ... als erste Form der kommerziellen Verwertung des Films das ambulante Kinogewerbe.

Ambulante Zelttheater bis zu 2000 und mehr Plätzen ...

Das Wanderkinotheater bezog seine Ware, d.h. seine Filmprogramme direkt von den Produzenten ...

„Eigenproduktion" bildete ... die Ausnahme (Messter, Deutschland; Méliès, Frankreich; Hipleh-Walt, Schweiz)

Noch während das Wanderkinogewerbe in voller Blüte stand, wurden in den größeren Industriestädten die ersten ortsfesten Kinotheater errichtet.

Der Filmhandel trat als Zwischen- und Bindeglied zwischen die Produktion und den Theaterbetrieb.

Es ist unverkennbar, daß die durch das Aufkommen des Verleihs aufkommenden Veränderungen im Verkehr zwischen den Produzenten und Detaillisten eine Beschleunigung der gesamten filmwirtschaftlichen Entwicklung auslösten.

Der dadurch bedingte rasche Programmwechsel brachte eine gewaltige Steigerung der Filmnachfrage und damit der Produktion von Filmen mit sich. Die „Filmfabrikanten", wie die damaligen Studios genannt wurden, hatten alle Mühe, den angestiegenen Bedarf zu befriedigen, Die Filme wiesen jetzt eine durchschnittliche Länge von 200-300m auf und wurden ohne Rücksicht auf die Qualität in allerkürzester Zeit hergestellt.

Die ersten Zusammenschlüsse, die für das Filmgewerbe von Bedeutung waren, fanden zwischen 1907 und 1910 statt. Sie gingen in erster Linie von kapitalstarken Produktionsfirmen aus, die sich durch ein Übergreifen auf die Verleih- und zum Teil auf die Theatersparte eine Verbreiterung und Festigung ihres Absatzes schufen oder aber, wie in Frankreich und Amerika, sich eine möglichst vollständige, monopolartige Beherrschung des Filmgewerbes zu sichern versuchten.

Die rücksichtslose Ausbeutung der Filme, das dauernde Absinken der Filmpreise und die unlauteren Verleihmethoden waren der direkte Anlaß zur Gründung eines machtvollen Filmtrusts, der „MOTION PICTURES PATENTS COMPANY" (MPPC), die durch den Zusammenschluß von neun führenden Filmfabrikanten, der Amerikaner Edison, Biograph, Vitagraph, Essenay, Selig, Lubin, Kalem und der französischen Importeure Pathé und Méliès, sowie des Verleihers Kleine 1909 gegründet wurde. Diese Unternehmungen legten ihre zahlreichen, ursprünglich hauptsächlich auf der Edison’schen Erfindungen beruhenden Patentrechte zusammen, und jede einzelne der Mitgliedsfirmen erhielt eine Filmherstellungslizenz. Die Filmproduktion Amerikas sollte dadurch ausschließlich auf diese neun erwähnten Firmen beschränkt werden.

Die MPPC schuf praktisch ein Rohfilmmonopol, indem mit der Rohfilmfabrikantin, der Eastman Kodak Co., vertraglich vereinbart wurde, daß ausschließlich Mitglieder des Trusts mit Rohfilm zur Filmfabrikation beliefert werden durften.

Ziel diese monopolistischen Zusammenschlusses war eine möglichst billig, rationelle und profitable Filmproduktion. Der vollständige Ausschluß der Konkurrenz sollte eine Erhöhung der Filmpreise und damit die Erzielung von Extraprofiten ermöglichen. Der Filmherstellungsprozeß wurde nach einheitlichen Normen standardisiert. Die Fabrikanten der MPPC befaßten sich ausschließlich mit der Herstellung von 200- bis 300m-Filmen, wie sie bis dahin üblich waren. Die Honorare für die Manuskriptautoren und die Gagen für die Schauspieler wurden auf ein Minimum reduziert,. Auch die Zusammenstellung der Programme erfolgte nach festen Schemata und ihre Abgabe an die Theater erfolgte nach einheitlichen Preiskategorien. Die Detaillisten hatten Filmmieten zu entrichten, die nach Größe, Ausstattung und Lage der Theater abgestuft waren. Programmwünsche der Kinobesitzer blieben unberücksichtigt.

Dieser große horizontale und vertikale Zusammenschluß konnte trotz seiner finanziellen und organisatorischen Überlegenheit nicht von Dauer sein, weil er eine neue, vorbildlose und noch unberechenbare Form der Massenunterhaltung in einem Zeitpunkt zu stabilisieren und industrialisieren versuchte, in dem die Eigengesetzlichkeiten des Films noch unerforscht und der Umfang und die Richtung der Nachfrage erst in groben Umrissen sichtbar wurden.

Der Filmtrust, der während vier Jahren (1909-1912) das Gesicht des amerikanischen Films bestimmte, wurde durch den Erfolg des langen Spielfilms und durch die Einführung des Starwesens in seinen Grundfesten erschüttert. Ein Gerichtsentscheid auf Grund des Sherman Antitrust-Gesetzes brachte ihn im Jahre 1917 endgültig zu Fall.


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